Die UN-Konvention gegen das Verschwindenlassen ist eines der neun Menschenrechtsübereinkommen der Vereinten Nationen. Sie wurde am 20. Dezember 2006 von der UN-Generalversammlung angenommen, am 6. Februar 2007 in Paris verabschiedet und ist seit dem 23. Dezember 2010 in Kraft. Die Debatte über das Verschwindenlassen hat ihren Ursprung in der lateinamerikanischen Menschenrechtsbewegung, die in den siebziger Jahren den Begriff »erzwungenes Verschwindenlassen« prägte. Die Entwicklung der UN-Konvention ist das Resultat eines mehr als 30 Jahre langen Bestrebens von Angehörigen von Verschwundenen und Menschenrechtsexperten, einen neuen Straftatbestand im Völkerrecht zu implementieren. Dabei ging es nicht zuletzt darum, den Begriff des Opfers auf Familienangehörige von verschwundenen Personen auszudehnen, um ihnen gewisse Rechte zu sichern.
Entstehungsgeschichte
Inhalt
Wirkungsgeschichte
Kommentierte Literaturliste
Weitere Literatur
Verschwindenlassen als staatsterroristische Praxis wurde erstmals mit Blick auf die Repressionspolitik der Militärdiktaturen Chiles, Argentiniens und Guatemalas diskutiert. Unter diesem Begriff wurden verschiedene repressive Methoden gefasst, denen gemeinsam war, dass das Schicksal der Opfer deren Familienangehörigen unbekannt blieb. Solche Methoden waren an und für sich nichts Neues: Das totalitäre Regime Stalins ließ tausende Regimegegner in Lagern verschwinden; General Franco ordnete im Spanischen Bürgerkrieg und der darauffolgenden Diktatur an, zehntausende Republikaner zu erschießen und geheim in Massengräbern zu verscharren. In der Debatte über das Verschwindenlassen und in der einschlägigen Forschung gilt gemeinhin das nationalsozialistische Nacht- und Nebel-Dekret aus dem Jahr 1941 als historischer Anfangspunkt für den systematischen Einsatz dieser Methode. In dem Dekret, das für die besetzten westeuropäischen Gebiete konzipiert worden war, wurde die Weitergabe von Informationen über Verhaftete verboten, um in ihrem sozialen Umfeld eine »abschreckende Wirkung« zu erzeugen. Die deutschen Besatzungstruppen verschleppten circa 7.000 Personen als Nacht-und-Nebel-Häftlinge.[1]
Im Zuge der beiden Dekolonisierungskriege in Indochina und Algerien begann das französische Militär, über neue Methoden der Kriegsführung nachzudenken, die sich nicht mehr auf das Schlachtfeld begrenzten. Nächtliche Verhaftungen und Folter von Widerstandskämpfern gehörten zu den Methoden, die nun zum Einsatz kamen. Um öffentliche Kritik an diesem Vorgehen zu vermeiden, bemühte sich das Militär darum, sein Vorgehen zu verschleiern und Spuren von Gewalt zu verwischen. Mit der Ausbreitung der revolutionären Ideen der Kubanischen Revolution in Lateinamerika und der Entstehung von bewaffneten Guerillagruppen in vielen Ländern der Region ab Ende der fünfziger Jahre interessierten sich auch lateinamerikanische Militärs für neue Methoden der Aufstandsbekämpfung. Sie suchten deshalb die Unterstützung Frankreichs und übernahmen die Methoden der »Französischen Schule«. Auch die US-Streitkräfte fürchteten einen von der Kubanischen Revolution ausgehenden Linksruck Lateinamerikas und rezipierten die in Algerien erprobten Formen der Aufstandsbekämpfung. Als in den siebziger Jahren der Kampf gegen den Kommunismus in Lateinamerika seinen Höhepunkt erreichte, entführten die verschiedenen Militärregierungen Tausende Oppositionelle, folterten und ermordeten sie, ohne deren Familien mitzuteilen, was mit ihren Angehörigen geschehen war.[2]
Wie kam es aber zur Entwicklung rechtlicher Instrumente, um Menschen vor dieser Praxis zu schützen? Nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigte sich die internationale Gemeinschaft ausschließlich mit der Problematik der »vermissten Personen«. So wurde 1949 etwa im Artikel 26 der Genfer Konvention über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten festgelegt, dass die Konfliktparteien den Anfragen von Familienangehörigen vermisster Personen nachgehen müssen. 1950 verabschiedete die UN die Convention on the Declaration of Death of Missing Persons. Zweck der Deklaration war es, den legalen Status einer Person zu klären, die vermisst war und von der man annehmen musste, dass sie im Krieg getötet worden war. Dabei ging es jedoch nicht um Untersuchungen menschenrechtsrelevanter Themen.[2]
Die ersten Debatten über erzwungenes Verschwindenlassen und die Notwendigkeit der Entwicklung rechtlicher Instrumente gegen dieses Verbrechen wurden in Lateinamerika geführt. 1974 klagte erstmals die Interamerikanische Menschenrechtskommission in einem Bericht an die Generalversammlung der Organisation Amerikanischer Staaten das erzwungene Verschwindenlassen von Menschen in der chilenischen Militärdiktatur an.[4] Ein Jahr später beschäftigte sich auch die Generalversammlung der Vereinten Nationen mit Chile.[5] Das erste UN-Dokument zu einem konkreten Fall stammt aus dem Jahr 1976. Es wurde von der Ad Hoc Working Group zur Menschenrechtssituation in Chile in die UN-Menschenrechtskommission eingebracht und betraf den Fall des verschleppten französisch-chilenischen Staatsbürgers Alphonse-René Chanfreau.[6] Der Fall hatte zur Folge, dass Frankreich, wo das Verschwinden Chanfreaus für großes Aufsehen sorgte, in den folgenden Jahren eine Schlüsselfunktion bei der Ausarbeitung internationaler rechtlicher Instrumente gegen das Verschwindenlassen einnehmen sollte.
Allmählich wurde die neue Figur des Verschwindenlassens auch auf die Fälle der verschwundenen Personen im Zypern-Konflikt ausgeweitet.[7] Ab den späten siebziger Jahren trugen Angehörigenorganisationen aus Chile, Argentinien und Zypern gemeinsam mit Amnesty International die ersten Fälle von Verschwundenen an die Vereinten Nationen heran. Das Committee of Relatives of Missing Persons wurde 1975 von Angehörigen sowohl türkischer als auch griechischer verschwundener Zyprioten gegründet, während das Committee on Missing Persons in Cyprus ein bi-kommunaler Zusammenschluss von Angehörigen ist, der 1981 unter der Schirmherrschaft der UN gegründet wurde. Auf Treffen der im Jahr 1980 gegründeten UN-Arbeitsgruppe für erzwungenes Verschwindenlassen, über Kooperationen der Angehörigen mit dem Internationalen Roten Kreuz und mit Amnesty International kam allmählich eine Vernetzung der zypriotischen Angehörigen mit Angehörigenorganisationen aus Chile und Argentinien zustande.
Vor allem Amnesty International spielte eine Schlüsselrolle bei der Internationalisierung der Debatte über das Verschwindenlassen. Die Menschenrechtsorganisation hatte das Verschwindenlassen 1977 zu einem regulären Bestandteil der eigenen Arbeit gemacht und widmete dem Thema mehrere internationale Kampagnen. Ausgehend von Beobachtungen in Südamerika formulierte sie eine Definition des Verbrechens, die so allgemein gehalten war, dass sich darunter eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Verbrechenszusammenhänge fassen ließ: Während es in Zypern um Personen ging, die im Zuge militärischer Operationen in einem zwischenstaatlichen Konflikt unter ungeklärten Umständen verschwunden waren, handelte es sich bei den Verschwundenen in Südamerika um die Opfer innerstaatlicher Repressionsmaßnahmen.[8]
Aus der Beschäftigung der UN mit den Fällen aus Zypern, Argentinien und Chile entstand im Jahr 1978 die Resolution 33/173 der UN-Generalversammlung. Darin wurde erzwungenes Verschwindenlassen erstmals als universales Problem definiert und nicht wie zuvor nur länderspezifisch behandelt. Die Resolution forderte die Menschenrechtskommission auf, die Frage von verschwundenen Personen zu behandeln und geeignete Empfehlungen auszuarbeiten. Auch wurden die Staaten aufgerufen, nach Verschwundenen zu suchen und schnelle und unparteiische Untersuchungen durchzuführen. Zwei Jahre später richtete die UN-Menschenrechtskommission auf Initiative Frankreichs und gegen den Widerstand von Staaten wie Argentinien und Uruguay, deren Regierungen Verschwindenlassen zu dieser Zeit praktizierten, eine Arbeitsgruppe für erzwungenes oder unfreiwilliges Verschwinden (WGEID) ein. Sie sollte die Suche nach verschwundenen Personen vorantreiben.
Die WGEID war die erste Arbeitsgruppe innerhalb der UN mit einem thematischen Arbeitsauftrag. Sie trug Fälle von Verschwundenen aus verschiedenen Ländern zusammen und plädierte für die Schaffung von rechtlichen Instrumenten zum Schutz vor diesem Verbrechen. Menschenrechtsorganisationen kritisierten jedoch ihr begrenztes Mandat: Die WGEID war nicht für Verschwindenlassen in bewaffneten Konflikten zuständig, verfolgte eher einen humanitären als politischen Ansatz und kritisierte nicht die Innenpolitik von Staaten. Angehörigenorganisationen monierten, dass die Arbeitsgruppe trotz einer weltweit steigenden Zahl von Verschwundenen nur wenige Fälle aufklärte.[9] Dennoch war sie ein wichtiges Kommunikationsmedium zwischen Angehörigen von Verschwundenen und den jeweiligen Regierungen. Angehörigenorganisationen konnten bei der WGEID Fälle einreichen, auf deren Grundlage die UN Empfehlungen an die jeweiligen Regierungen aussprach.[10]
Allerdings leugneten Regierungen stets, dass staatliche Akteure an der Praxis des Verschwindenlassens beteiligt seien. Stattdessen behaupteten sie, terroristische Organisationen ließen Menschen verschwinden, um anschließend den Staat verantwortlich zu machen. Die angeblich Verschwundenen seien selbst Teil der terroristischen Organisationen.[11]
Angesichts der Verweigerungshaltung staatlicher Stellen bemühten sich mehrere Akteure, Entwürfe für eine internationale Konvention gegen das Verschwindenlassen zu erarbeiten. So verfassten beispielsweise 1981 in Paris zahlreiche Experten am Menschenrechtsinstituts der Paris Bar Association einen Entwurf.[12] Ein Jahr später beschloss die FEDEFAM,[13] ein 1981 gegründeter Zusammenschluss von lateinamerikanischen Angehörigenorganisationen, ebenfalls einen Entwurf vorzubereiten. Die Rechtsanwälte Eduardo Novoa Monreal aus Chile, Alfredo Galletti aus Argentinien und anderen Juristen der International Commission of Jurists verfassten einen Entwurf, den FEDEFAM bei den Vereinten Nationen einreichte. Die Mehrheit der Staaten war jedoch der Ansicht, dass es wirksamer wäre, bereits bestehende Abkommen wie etwa die beiden Menschenrechtspakte oder das UN-Abkommen gegen Folter zu stärken. FEDEFAM vertrat hingegen die Position, dass alle bisherigen Menschenrechtsabkommen keinen ausreichenden Schutz bieten würden und die Rechte der Opfer nicht berücksichtigten. Es müsse vermieden werden, dass die Verantwortlichen für Verschwindenlassen in den Genuss von Verjährung oder Amnestie kommen könnten. Weder gebe es ausreichende legale Instrumente zur Aufklärung bereits vorliegender Fälle noch zur Prävention.[14]
Etwa zeitgleich lösten demokratisch gewählte Regierungen in Bolivien und Argentinien die dortigen Militärjuntas ab. Im Oktober 1982 beendete die Wahl von Hernán Siles Suazo das bolivianische Militärregime. 1983 wurde in Argentinien Raul Alfonsín zum Präsidenten gewählt. Er leitete sogleich Initiativen ein, das Schicksal der Verschwundenen aufzuklären. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission begrüßte in ihrem Jahresbericht die beginnenden Aufarbeitungsbemühungen durch die neuen Regierungen. Sie hob die Bemühungen des bolivianischen Präsidenten Hernán Siles Suazo hervor, das Schicksal von 130 verschwundenen Personen aus der Zeit der Präsidentschaft Hugo Banzers und Luis García Mezas aufzuklären. Im Fall Argentinien erwähnte sie positiv, dass mehrere Richter in Fällen von »ungesetzlichen Gefangennahmen« Militärs zu Vernehmungen vorladen würden.[15] Vor diesem Hintergrund gelang es den lateinamerikanischen Angehörigenorganisationen und NGOs, durchzusetzen, dass die Organisation Amerikanischer Staaten erzwungenes Verschwindenlassen erstmals als Verbrechen gegen die Menschlichkeit deklarierte.[16]
Eine wichtige Rolle spielte auch der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte. 1988 behandelte er den Fall des Studenten Velásquez Rodriguez, der 1981 von honduranischen Sicherheitskräften entführt worden war. Der Staat Honduras wurde für das Verschwindenlassen des Studenten für schuldig erklärt und dazu verpflichtet, den Angehörigen Reparationszahlungen zu leisten. Der Fall Velászqes Rodriquez stellte in den folgenden Jahren einen wichtigen Präzedenzfall dar; der Interamerikanische Gerichtshof entwickelte die darin zum Ausdruck kommende Auffassung in darauffolgenden Verfahren weiter.[17]
Derweil zeitigte der frühe Bezug Frankreichs zum Thema des Verschwindenlassens Folgen: 1988 erarbeitete der französische Rechtsexperte Louis Joinet einen weiteren Entwurf für eine internationale Konvention, den die Generalversammlung der Vereinten Nationen Ende Dezember 1992 per Resolution annahm. Die Bedeutung dieser Resolution lag darin, dass sie erstmals Aussagen zur Prävention des Verbrechens festlegte. Es handelte sich um einen Grundsatzkatalog, der allerdings nur empfehlenden Charakter hatte und nicht rechtlich verbindlich war. Für Angehörigenorganisationen und die WGEID war dieses Instrument daher noch zu wenig. Aus ihrer Perspektive gewährte kein Gesetz ausreichend Schutz vor dem Verschwindenlassen.[18]
Im Mai 1997 konsultierte FEDEFAM gemeinsam mit Human Rights Watch, Amnesty International und der WGEID abermals den Juristen Louis Joinet. Alle Akteure waren sich einig, dass das Projekt einer eigenen Konvention weiter vorangetrieben werden solle.[19] Der Zeitpunkt war günstig, da das Konzept mittlerweile auch in Europa Relevanz erlangte: Die Rechtsfigur des Verschwindenlassens fand sich in der Rechtsprechungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, so etwa in den Fällen, in denen es um das Verschwindenlassen von Kurden durch den türkischen Staat ging. Zudem gab es infolge des Bosnienkrieges eine hohe Anzahl vermisster und verschwundener Personen.[20] Zu den bisher aktiven lateinamerikanischen und zypriotischen Opferverbänden gesellten sich nun auch Organisationen aus der Türkei und aus den Balkanstaaten. In dieser Zeit wurde auch das internationale Strafrecht mit den beiden UN-Tribunalen für Jugoslawien und Ruanda weiterentwickelt. Die Völkerrechtskommission erreichte, dass das Verschwindenlassen, das zunächst nicht Teil der Statuten der beiden Tribunale war, doch noch aufgenommen wurde. Diese Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts fand sich auch im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, das 1998 verabschiedet wurde und die Grundlage für die Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit liefert. Erzwungenes Verschwindenlassen wurde erstmals als eigener Straftatbestand im Völkerstrafrecht verankert.[21]
Nachdem somit das Instrumentarium zur Prävention von Verschwindenlassen erweitert worden war, bestellte die Menschenrechtskommission 2001 den österreichischen Rechtswissenschaftlicher Manfred Nowak als Experten, um der Frage nachzugehen, ob nach wie vor »Lücken« in den existierenden Menschenrechtsinstrumenten bestünden. Nowak hatte während der neunziger Jahre als UN-Sonderbeauftragter für verschwundene Personen im ehemaligen Jugoslawien gearbeitet und war Mitglied der WGEID. In seinem Bericht, den er am 8. Januar 2002 der Menschenrechtskommission vorlegte, kam er zu dem Schluss, dass die bestehenden Menschenrechtsinstrumente keinen ausreichenden Schutz vor dem Verschwindenlassen gewähren würden: »There do exist plenty of gaps and ambiguities in the present legal framework which clearly underscore the urgent need for a binding universal instrument in order to prevent the widespread practice of enforced disappearances, one of the most serious human rights violations which is directed at the core of the dignity of both the disappeared person and his or her family.«[22]
Nowak argumentierte, dass Verschwindenlassen zwar in vielen bereits bestehenden Abkommen als Verletzung multipler Menschenrechte genannt werde, aber nicht ausreichend als eigene und spezifische Menschenrechtsverletzung. Es gebe keine einheitliche Definition von erzwungenem Verschwindenlassen und keine Klarheit hinsichtlich der Problematik, dass Verschwindenlassen sowohl von staatlichen als auch nichtstaatlichen Akteuren ausgeübt werde. Die bestehenden Instrumente gewährten außerdem den Familienangehörigen von Verschwundenen keine Rechte, weshalb er für eine Erweiterung des Opferbegriffes plädierte. Angehörige müssten Reparationen erhalten können. Auch sei bisher kein Restitutionsrecht der Opfer festgelegt. Des Weiteren gäbe es bisher keine geeigneten Mechanismen zur Prävention von Verschwindenlassen, wie etwa die Verpflichtung eines zentralisierten, nationalen Registers über Haftzentren und Gefangene. Der Bericht gab der Kommission Argumente an die Hand, um eine Arbeitsgruppe in die Welt zu rufen, die ein rechtlich verbindliches Instrument zum Schutz vor dem Verschwindenlassen erarbeiten sollte.[23]
Die Arbeitsgruppe, die aus Vertretern von siebzig Staaten, zahlreichen Angehörigenorganisationen, NGOs und dem Roten Kreuz bestand, tagte zwischen 2003 und 2005. Die Diskussionen über die Frage, ob eine eigene Konvention nötig sei oder ob es sinnvoller wäre, das bereits bestehende Instrumentarium zu erweitern, setzte sich auch in der Arbeitsgruppe fort. Unterstützung erhielten die Opferorganisationen von Amnesty International, Human Rights Watch, der Parlamentarischen Versammlung des Europarates und von namhaften Intellektuellen wie Eduardo Galeano, Adolfo Pérez Esquivel oder Noam Chomsky, die sich der Meinung anschlossen, dass zur Aufklärung und Prävention von Verbrechen des Verschwindenlassens eine Konvention unabdingbar sei. Diese Position setzte sich letztlich durch.[24] Am 29. Juni 2006 wurde der Entwurf in der Sitzung des UN-Menschenrechtsrates angenommen und der Generalversammlung übergeben. Diese stimmte schließlich am 20. Dezember 2006 der Konvention zu und eröffnete am 6. Februar 2007 die Unterzeichnung in einer feierlichen Zeremonie in Paris.
Die Konvention verpflichtet Staaten sowohl zu Präventionsmaßnahmen als auch zur Aufklärung vergangener Verbrechen und der Bestrafung von Tätern. Hinsichtlich der Aufklärung bereits begangener Verbrechen spiegelt der Inhalt in den einzelnen Artikeln wider, was Angehörige von Verschwundenen seit Beginn ihres politischen Kampfes um Aufklärung als besonderes Leid beschrieben haben: Die psychologische Folter durch permanente Ungewissheit darüber, ob der Angehörige noch lebe oder tot sei, und das Fehlen von Erinnerungsorten, Begräbnis- und Trauerritualen. Da Verschwindenlassen somit auch soziale und religiöse Rituale von Gesellschaften betrifft, ist es als »kultureller Krieg«[25] bezeichnet worden.
Einer der wichtigsten Aspekte der Konvention ist die Ausweitung des Opferbegriffes, indem nicht nur die Verschwundenen als Opfer definiert werden, sondern auch die Angehörigen. So heißt es im Artikel 24: »Im Sinne dieses Übereinkommens bezeichnet ›Opfer‹ die verschwundene Person sowie jede natürliche Person, die als unmittelbare Folge eines Verschwindenlassens geschädigt worden ist.« In diesem Artikel spiegelt sich die veränderte Rolle von Opfern in internationalen Rechtsdiskursen seit den achtziger Jahren. Zuvor hatten Opfer im Völkerrecht und öffentlichen Rechtsdiskursen kaum eine Rolle gespielt, lag doch das Hauptaugenmerk auf der Bestrafung der Täter, auf Amnestiegesetzen und dem Thema der Straflosigkeit. Durch die zunehmende globale Vernetzung von Opferbewegungen, Menschenrechts-NGOs und internationalen Organisationen, wuchs auch die Aufmerksamkeit für die Anliegen und Forderungen der Opfer. Thorsten Bonacker beschreibt diesen Prozess als die die Herausbildung einer global victimhood.[26]
Auf der Grundlage eines erweiterten Opferbegriffs spricht die Konvention den Angehörigen von Verschwundenen eine Reihe von Rechten zu: Erstmals definiert sie das Recht der Opfer, die Wahrheit über den Umstand des Verschwindenlassens zu erfahren, und verpflichtet die Vertragsstaaten, den Verbleib der Verschwundenen aufzuklären. Geeignete Maßnahmen zur Suche der Verschwundenen, Ermittlung ihres Aufenthaltsortes, Freilassung und im Falle ihres Todes, zur Überführung ihrer sterblichen Überreste müssen durchgeführt werden. Schließlich enthält die Konvention das Recht auf Wiedergutmachung und Entschädigung.
Aus der Erweiterung des Opferbegriffs ergeben sich auch Folgen für die strafrechtliche Verfolgung der Täter. Da die Familienangehörigen kontinuierlichem Leid ausgesetzt sind, wird erzwungenes Verschwindenlassen in der Konvention als eine Straftat von Dauer definiert, für die es keine Verjährung geben kann, solange das Schicksal der Verschwundenen nicht ausreichend aufgeklärt ist.
Eine weitere »Lücke«, die mit der Konvention geschlossen werden sollte, betrifft das Verbot der unrechtmäßigen Entziehung von Kindern, das in Artikel 25 festgelegt wird. Dieser Artikel bestraft die weitverbreitete Praxis, Kinder von Verschwundenen ideologisch und moralisch »geeigneten« Familien zu übergeben. Dabei wird meist durch die Vernichtung oder Fälschung von Dokumenten die wahre Identität des Kindes verschleiert. Zwangsadpotionen waren vor allem in Argentinien ein zentrales Thema der Angehörigenorganisationen. Während der Militärdiktatur hatten die Militärs etwa 500 Kinder zur Adoption freigegeben, die in Geheimgefängnissen von verschleppten Frauen geboren worden waren. Das Schicksal von etwa hundert dieser Kinder konnten die Abuelas de la Plaza de Mayo[27] aufklären. Der Verbleib der restlichen Kinder ist jedoch weiterhin unbekannt.
Seit der Verabschiedung der Konvention kämpfen Angehörigen- und Menschenrechtsorganisationen in der International Coalition Against Enforced Disappearances (ICAED) für die Ratifizierung und Implementierung der Konvention. Ungeachtet dessen, dass die Konvention mittlerweile von 94 Staaten unterzeichnet und von 45 ratifiziert wurde,[28] muss sie angesichts bestehender staatsterroristischer und machtpolitischer Praktiken doch als ein eher wirkungsloses Instrument bezeichnet werden. Viele Staaten haben bei der Ratifizierung Vorbehaltsklauseln festgelegt, die eigene Interpretationen zulassen und somit bestimmte Artikel der Konvention abschwächen.[29] Oft verfügen Angehörige nicht über das nötige Wissen über die Konvention oder sie haben keine finanziellen Ressourcen, um Prozesse führen zu können.[30] In vielen Unterzeichnerstaaten wird laut Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch weiterhin erzwungenes Verschwindenlassen praktiziert.[31] Im Bericht der UN-Arbeitsgruppe für erzwungenes Verschwindenlassen von August 2014 stellte diese fest, dass es eine alarmierend hohe Zahl an neuen Fällen von Verschwundenen gibt, so zum Beispiel in Ägypten, Bahrein, China, Thailand, Syrien, Kambodscha oder Indonesien.
Andere Staaten wie USA, China oder Russland haben die Konvention aus machtpolitischen Gründen gar nicht erst unterschrieben. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass der neu definierte Straftatbestand auch auf Methoden angewandt werden kann, die im Kampf gegen den Terrorismus angewandt werden. Doch nicht nur die Praxis des Verschwindenlassens, sondern auch die Konvention erlangte vor diesem Hintergrund neue Relevanz. Bereits im Jahr 2005 äußerte die UN-Arbeitsgruppe für erzwungenes Verschwindenlassen ihre Besorgnis darüber, dass erzwungenes Verschwindenlassen auch im war on terror vermehrt vorkomme, indem Verdächtige ohne Rechtsgrundlage in andere Staaten verbracht – sogenannte renditions – und geheime Gefangenenlager genutzt werden. Die UN-Arbeitsgruppe erinnerte deshalb alle Regierungen an Artikel 2 der Konvention, dass »außergewöhnliche Umstände gleich welcher Art, sei es Krieg oder Kriegsgefahr, innenpolitische Instabilität oder ein sonstiger öffentlicher Notstand« nicht als »Rechtfertigung für das Verschwindenlassen geltend gemacht werden« dürfe. Einige Juristen plädieren deshalb für die Weiterentwicklung der Konvention, indem Praktiken wie die Entführung und Überstellung von Terrorverdächtigen ohne juristische Grundlage ebenfalls als erzwungenes Verschwindenlassen im Sinne der Konvention deklariert und strafrechtlich verfolgt werden sollen.[32]
Auch im Zusammenhang mit dem »Krieg gegen Drogen« spielt die Konvention eine Rolle. Als im September 2014 in Ayotzinapa, Mexiko, Polizisten zusammen mit Drogenbanden 43 Studenten entführten und ermordeten, kritisierte die UN-Arbeitsgruppe für erzwungenes Verschwindenlassen die fehlende Aufklärung der mexikanischen Regierung.[33] Es ist dies ein paradigmatisches Beispiel des ambivalenten staatlichen Umgangs mit diesem Verbrechen in vergangenen und aktuellen Gewaltkontexten. Während die mexikanische Regierung Anfang 2015 erklärte, den Fall aufgeklärt zu haben, und vermeintliche Täter aus den Reihen lokaler Drogenkartelle vorführte ohne weitere Untersuchungen durchzuführen, versuchen mexikanische Angehörigenorganisationen in einem transnationalen Netzwerk mit unabhängigen Wissenschaftlern und Menschenrechtsorganisationen zu beweisen, dass sehr wohl staatliche Akteure aus den Reihen von Militär und Polizei am Verschwindenlassen der Studenten Schuld tragen. Die UN-Konvention gegen Verschwindenlassen dient dieser Plattform dabei als legales Instrument in ihrem Bemühen.
Elsemann, Nina: Umkämpfte Erinnerungen. Die Bedeutung lateinamerikanischer Erfahrungen für die spanische Geschichtspolitik nach Franco. Frankfurt 2010.
Nina Elsemann gibt einen instruktiven Überblick über die historischen Entwicklungen der Debatten um erzwungenes Verschwindenlassen und den Wissenstransfer zwischen Lateinamerika und Europa. Dieser Wissenstransfer fand zunächst in der militärischen Kooperationen statt, wobei Methoden der Aufstandsbekämpfung und des Verschwindenlassens von Europa nach Lateinamerika gelangten. In der Debatte über die Franco-Diktatur in Spanien, die sich seit den neunziger Jahren entspann, wurde dann der lateinamerikanische desaparecido-Begriff aufgegriffen und für den europäischen Kontext fruchtbar gemacht.
Karl, Sylvia: Kampf um Rehumanisierung. Die Verschwundenen des Schmutzigen Krieges in Mexiko. Bielefeld 2014.
In ihrer kulturwissenschaftlichen Arbeit befasst sich Karl mit den Initiativen der Familienangehörigen jener Personen, die in Mexiko in der Zeit zwischen 1967 und 1974 verschwanden. Die Praxis des Verschwindenlassens habe die Dehumanisierung der Opfer zum Ziel gehabt. Dem stellt Karl den Begriff der Rehumanisierung gegenüber. Darunter versteht sie die »Gesamtheit der Elemente und Handlungsstrategien, die Angehörige ab dem Zeitpunkt des Verschwindenlassens eines Familienmitglieds einsetzten, um die Verschwundenen in das soziale und kulturelle Netzwerk zu reintegrieren«.
Ott, Lisa: Enforced Disappearance in International Law. Cambridge 2011.
Die Arbeit von Lisa Ott ist eine der wenigen rechtswissenschaftlichen Forschungsarbeiten, die sich ausschließlich mit erzwungenem Verschwindenlassen auseinandersetzen. Detailliert und in chronologischer Abfolge werden einzelne Fälle der Rechtsprechung zu erzwungenem Verschwindenlassen analysiert und eingebettet in den internationalen Menschenrechtsschutz, das humanitäre Völkerrecht und das internationale Strafrecht. In der Analyse der UN-Konvention zeigt sie wichtige Kritikpunkte und Lücken auf – wie etwa das Fehlen eines Verbots von Amestiegesetzen – und macht Vorschläge zur Weiterentwicklung der Rechtsfigur.
Pervou, Ioanna: The Convention for the Protection of all Persons from Enforced Disappearance: Moving Human Rights Protection Ahead, in: European Journal of Legal Studies 5:1 (2012), S. 145-171.
Die Juristin Ioanna Pervou diskutiert wichtige aktuelle Weiterentwicklungen der UN-Konvention im Zusammenhang mit dem Krieg gegen Terror. Sie argumentiert, dass gewisse Praktiken dieses Krieges als erzwungenes Verschwindenlassen deklariert werden sollten, um verschleppten und geheim inhaftierten Personen Schutz zu gewähren. Sie plädiert daher für eine juristische Überprüfung der Anwendbarkeit der Konvention auf aktuelle Anti-Terror Methoden.
Scovazzi, Tullio/Citroni, Gabriella: The Struggle against Enforced Disappearance and the 2007 United Nations Convention. Leiden/Boston 2007.
Die rechtswissenschaftliche Studie von Tullio Scovazzi und Gabriella Citroni gibt einen detaillierten Überblick über die Entwicklung der UN-Konvention und zeigt die Bemühungen und Perspektiven der beteiligten Akteure auf. Dabei nimmt sie Menschenrechtsorganisationen, Opferverbände, Juristen und internationale Organisationen in den Blick. Scovazzi und Citroni argumentieren, dass das Fallrecht, das in einzelnen Rechtsurteilen zum Verschwindenlassen in verschiedenen Ländern zur Anwendung kam, einen zentralen Beitrag zur Entwicklung der UN-Konvention leistete.
Amnesty International: Confronting a Nightmare. Disappearances in Mexico. Index: AMR 41/025/2013. London 2013.
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Konvention gegen das Verschwindenlassen
von Sylvia Karl