Am 24. Mai 1915 publizierten die drei Entente-Mächte Frankreich, Großbritannien und Russland eine gemeinsame Deklaration, in der sie die seit Jahresbeginn zunehmenden Übergriffe auf die armenische Minderheit im Osmanischen Reich beklagten und ankündigten, alle Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Auch wenn diese Drohung die Massenvertreibungen und den Genozid an den Armeniern nicht verhindern konnte, handelte es sich bei dieser Erklärung um ein zentrales Dokument aus der Frühzeit der Menschenrechtsgeschichte. Nicht nur findet sich hier eine der ersten Fundstellen für den Begriff der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, sondern es sind auch Ansätze für eine grenzüberschreitende humanitäre Schutz- und Bestrafungspolitik erkennbar, die im 20. Jahrhundert auf verschiedene Weise nachwirken sollten. Zugleich war der im Namen der Menschheit formulierte Sanktionsanspruch von 1915 noch ganz aus den Traditionen europäischer Imperialpolitik hergeleitet und nur möglich vor dem Hintergrund einer Wahrnehmung des Osmanischen Reichs als defizitäres und despotisches Staatsgebilde.
Entstehungsgeschichte
Inhalt
Wirkungsgeschichte
Kommentierte Literatur
Weitere Literatur
Unmittelbarer Anlass der alliierten Deklaration vom Mai 1915 war die gewaltsame Vertreibung der armenischen Bevölkerung wenige Monate nach dem Eintritt des Osmanischen Reichs in den Ersten Weltkrieg. Als christliche Minderheit hatten die Armenier, die vor allem im östlichen Anatolien, im Südkaukasus und in Kilikien beheimatet waren, zwar seit Jahrhunderten unter osmanischer Herrschaft gelebt und dabei lange Zeit als mehr oder minder loyale Volksgruppe gegolten. Doch derartige multiethnische und multireligiöse Arrangements waren im Verlauf des 19. Jahrhunderts überall in Europa unter Druck geraten, was im Fall des Osmanischen Reichs zu besonders intensiven Spannungen führte. Zwei Faktoren wirkten dabei zusammen und verstärkten sich gegenseitig: Auf der einen Seite hatten die – nur teilweise religiös motivierten – Übergriffe der muslimischen Bevölkerungsmehrheit gegenüber den Armeniern zum Ende des Jahrhunderts immer mehr zugenommen und gipfelten zur Mitte der 1890er Jahre in Pogromen mit über 200.000 Todesopfern; in der europäischen Öffentlichkeit waren diese Ausschreitungen mit Empörung bedacht und von einer erste Welle der Sympathie für die Armenier begleitet worden. Auf der anderen Seite hatten diese Proteste, mehr aber noch die dahinterstehende Selbstverständlichkeit einer Einmischung in die inneren Verhältnisse der Hohen Pforte den osmanischen Nationalismus beträchtlich angefacht. Bereits die interventionistische Politik der europäischen Großmächte, wie sie etwa auf dem Berliner Kongress von 1878 zu beobachten gewesen war, hatte nationalistischen Strömungen im Osmanischen Reich erheblichen Auftrieb gegeben. Davon profitierte vor allem die jungtürkische Bewegung, welche 1908 die Regierungsgewalt in Konstantinopel übernahm und ihren gesellschaftlichen Modernisierungsanspruch rasch mit einer aggressiven Türkisierungsideologie verknüpfte.1
Nachdem das Osmanische Reich im November 1914 an der Seite der beiden Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn in den Krieg eingetreten war, nahm die Unterdrückungspolitik gegenüber der armenischen Bevölkerung nochmals sprunghaft zu und radikalisierte sich Anfang 1915. Zunächst aus Sorge vor einer Hinwendung der Armenier zum russischen Kriegsgegner, bald aber aus ethnisch-nationalistischen Gründen wurden Angehörige dieser Volksgruppe aus der Armee ausgeschlossen, ihre führenden Politiker, Intellektuellen und Geistlichen verhaftet und erste Dörfer zwangsweise geräumt. Ab April, und angefacht durch die Landung von Entente-Truppen auf der Halbinsel Gallipoli, begann eine organisierte Massenvertreibung aus den armenischen Siedlungsgebieten in Richtung der südlichen Wüstenregionen, wobei das Ziel einer umfassende Vernichtung von offizieller Seite kaum verhohlen wurde.2 Obwohl die Zahl der Todesopfer kaum hinreichend präzise beziffert werden kann und zwischen 800.000 und 1,5 Mio. schwankt, ist es unbestreitbar, dass diese systematisch vorbereiteten und ebenso effizient wie rücksichtslos durchgeführten Deportationen aufgrund ihrer eliminatorischen Absicht nur als Genozid angemessen zu begreifen sind.3
In den Reihen der alliierten Mächte wurde der spezifisch moderne Charakter der osmanischen Vertreibungspolitik im Frühjahr 1915 noch wenig wahrgenommen.4 Die Empörung über das osmanische Vorgehen folgte vielmehr einem etablierten Skript, welches eine zivilisatorische Differenz zwischen den christlichen Opfern und den muslimischen Tätern herausstellte und die „Massaker“ als Folge despotischer und unzivilisierter Herrschaftsverhältnisse deutete. Dass der schärfste Protest dabei aus Russland kam, überrascht mit Blick auf die geopolitische Konkurrenz der beiden Vielvölkerimperien wenig. Schon im Krimkrieg von 1853 bis 1856 oder im russisch-osmanischen Krieg von 1877/78 hatte sich die zaristische Regierung auf eine Schutzverpflichtung gegenüber den christlichen Minderheiten in Kleinasien berufen, woran sie nun nahtlos anknüpfen konnte. Es war nur konsequent, wenn der russische Außenminister Sasonow im April 1915 seinen französischen und britischen Amtskollegen eine gemeinsame Erklärung vorschlug, mit der das Schicksal der Armenier in das Licht der Weltöffentlichkeit gerückt und die osmanische Regierung unter Druck gesetzt werden sollte. Schon aus Gründen einer innenpolitischen Mobilisierung war es für die zaristische Staatsführung von zentraler Bedeutung, sich dabei auf die Prinzipien des Christentums und der Zivilisation zu berufen und deren Verletzungen publikumsträchtig einzufordern; auch mag man darin den Versuch erkennen, an die internationalen Rufe nach Bestrafung, Vergeltung und Wiedergutmachung anzuknüpfen, mit denen kurz zuvor das deutsche Verhalten in Belgien bedacht worden war.5
In Paris und London war man angesichts der russischen Initiative zögerlich, da die eigene Imperialpolitik andere Akzente verlangte. Gegen den Anspruch, die Sache der Zivilisation zu verteidigen und alle Verantwortlichen für die Gewalttaten gegen die Zivilbevölkerung zur Rechenschaft zu ziehen, war zwar nichts einzuwenden, aber vor allem die französische Seite nahm Anstoß an der russischen Zuspitzung als Religionskampf. Angesichts des „sentiment des populations musulmanes qui vivent sous la souveraineté de la France et de l’Angleterre“, so ließ der französische Außenminister Delcassé den britischen Botschafter in Paris wissen, sei es besser, nicht nur als Schutzmacht des Christentums aufzutreten.6 Das wurde auch in London so gesehen. Hier hätte man die Formulierung von den osmanischen Verbrechen „contre la chrétienté et la civilisation“, wie es der russische Entwurf vorgesehen hatte, zwar lieber ganz gestrichen, insistierte aber nicht darauf und stimmte jedenfalls der von französischer Hand eingeführten Variante des „contre l‘humanité et la civilisation“ zu.7 Am 24. Mai, und nur Stunden nachdem das russische Außenministerium sein Einverständnis zum geänderten Wortlaut telegraphiert hatte, wurde die Deklaration über die französische Nachrichtenagentur Havas veröffentlicht und erschien noch am selben Tag in der Abendausgabe vieler europäischer und amerikanischer Zeitungen.8
Inhaltlich fiel die Deklaration denkbar knapp aus und umfasste kaum mehr als 120 Wörter. In einem ersten Schritt wurden Zeitpunkt und Schauplatz verschiedener Gewalttaten gegenüber der armenischen Bevölkerung benannt und der „Kurd and Turkish population of Armenia“ zugeschrieben, allerdings die osmanischen Autoritäten vor Ort sowie die Regierung in Konstantinopel ausdrücklich als mitverantwortlich bezeichnet. In einem zweiten Schritt deuteten die drei Mächte diese Übergriffe sodann als „new crimes of Turkey against humanity and civilization“ und kündigten an, alle verantwortlichen Regierungsmitglieder wie auch die Angehörigen der ausführenden Organe zur Rechenschaft ziehen zu wollen.
Drei Aspekte sind herauszuheben: Zunächst ist der Deklarationstext nicht erklärbar ohne seine Einbettung in die europäische Wahrnehmungsgeschichte des Osmanischen Reichs, wie es im Begriff der „new crimes“ schlaglichtartig greifbar wird. Dahinter stand ein Diskurs über osmanische Despotie und Grausamkeit, der mindestens bis zur zweiten türkischen Belagerung Wiens im Jahr 1683 zurückreichte und vor allem im 19. Jahrhundert unter dem Eindruck langwährender Desintegrationsprozesse und gewaltsamer Nationalitätenkonflikte immer wieder aktualisiert worden war.9 Musste nach den Ereignissen in Belgien 1914 eine Abweichung des Deutschen Kaiserreichs von europäischen Zivilisationsstandards erst auf neue Weise rationalisiert und mühsam propagandistisch gefestigt werden, so lagen im Fall des Osmanischen Reiches etablierte Deutungsmuster zu einer Diskrepanz von christlichem Abendland und orientalischer Despotie abrufbereit vor. Aus dieser Sicht war die gewaltsame Vertreibung der armenischen Bevölkerung weder neuartig noch unerwartet, sondern entsprach ganz dem brutalen Charakter des „bloody turk“.
Vor diesem Hintergrund war, zweitens, die alliierte Ankündigung einer Sanktionierung weniger revolutionär als es den Anschein haben mochte. In der Vergangenheit waren Interventionen der europäischen Hauptmächte zugunsten der christlichen Minderheiten im Osmanischen Reich nicht unüblich gewesen, allzumal das osmanische Justizwesen in Europa als ungerecht, korrupt und ineffizient galt; aus diesem Grund war mit der Konsulargerichtsbarkeit bereits eine Art exterritoriale Paralleljustiz für Europäer etabliert worden.10 Aber auch die Gewährung von Handelsprivilegien in Form von Kapitulationen oder die horrende Staatsverschuldung, welche dazu führte, dass ein Drittel des osmanischen Staatshaushaltes einer internationalen Kontrolle unterlag, hatte in den Jahrzehnten vor dem Krieg dazu beigetragen, dass das Osmanischen Reich keineswegs als souveränes Staatswesen auf Augenhöhe mit den europäischen Nationen begriffen wurde.11 Im Gegenteil, je stärker sich westliche Staatsdenker, Politiktheoretiker und Diplomaten im 19. Jahrhundert auf ein normatives Grundmodell von Staatlichkeit festlegten, desto mehr trat „die Schwäche der osmanischen Regierung, die Unfähigkeit, den Staatszwecken allein und überhaupt genügen zu können“12 hervor. Eine Einmischung in den Machtbereich der Hohen Pforte war darum schon durch ihre unzureichende Staatlichkeit problemlos legitimierbar, zumal wenn es sich um den Versuch handelte, gleichsam stellvertretend grundlegende staatliche Funktionen auszuüben, im vorliegenden Fall sich also schützend vor die Armenier zu stellen und die Verantwortlichen persönlich haftbar zu machen.
Mit der Selbstverständlichkeit europäischer Sanktionsmacht gewinnt, drittens, der Hinweis auf die Menschheit als Referenzmaßstab sein besonders Gewicht. Mit guten Gründen lässt sich argumentieren, dass die alliierten Diplomaten im Mai 1915 nicht wirklich hätten sagen können, wer oder was mit der nahezu en passant einfügten Berufung auf die Menschheit statt auf das Christentum genau gemeint war.13 Ein näherer Blick zeigt, dass vergleichbare Formulierungen im 19. Jahrhundert einen sukzessiven Aufstieg erlebt hatten. So war der Kampf gegen den Sklavenhandel, wie er besonders von britischen Abolitionisten geführt wurde, ebenso von Begriffen der Menschheit und Menschlichkeit begleitet worden14 wie die Legitimation von Interventionen, die der Völkerrechtler Lasse Oppenheim immer dann für gerechtfertigt halten wollte, wenn sie „in the interests of humanity“15 erfolgen würden. Auch der im Rahmen der Haager Konferenz von 1899 formulierte Anspruch einer fortschreitenden Verrechtlichung und Pazifizierung der Staatenverhältnisse, wie er sich in der „Martens’schen Klausel“ niederschlug, berief sich auf nichts weniger als die Menschheit.16 Im Kern lag solchen und vergleichbaren Beschwörungen die Erweiterung, Entgrenzung und Universalisierung europäischer Weltvorstellungen zugrunde, darunter besonders das Ideal eines vor staatlicher Willkür geschützten Staatsbürgers und die aufklärerische Forderung einer prinzipiellen Gleichartigkeit aller menschlichen Lebewesen. Das meinte keineswegs eine Infragestellung der als natürlich begriffenen Differenzierung in Völker, Rassen oder Kulturen. Im Gegenteil, erst das Konzept einer gemeinsamen Gattung der Menschheit machte es sinnvoll und plausibel, die erkennbaren Unterschiede zwischen einzelnen Gesellschaften und Staatsformen in eine hierarchische Rangordnung zu bringen, bei der die europäischen Großmächte als Hüter von „humanity and civilization“ unangefochten an der Spitze standen.17
Die praktische Wirkung der alliierten Deklaration von 1915 war zunächst gering. Während sie bei armenischen Exilgruppen auf dankbare Zustimmung stieß,18 erblickte die osmanische Regierung darin einen weiteren Beleg europäischer Übergriffigkeit. Nachdem der amerikanische Botschafter Henry Morgenthau, der die Interessen der Entente-Mächte in Konstantinopel vertrat, am 3. Juni die Erklärung förmlich übergeben hatte, musste er sich vom Großwesir bittere Vorhaltungen über die Einmischung von „foreign governments with the sovereign rights of the Turkish Government over their Armenian subjects“19 anhören. Entsprechend unbeirrt und ungebremst setzte sich die osmanische Verfolgungspolitik nach der alliierten Erklärung fort. Auch für die Welle der humanitären Anteilnahme, welche das Schicksal der Armenier ab Frühjahr 1915 in der westlichen Öffentlichkeit auslöste, spielten die dürren Worte der Diplomaten kaum eine Bedeutung; größere Resonanz fanden hier eher mediale vermittelte Narrative mit personalisierten Schicksalen und suggestiven Bilder.20
Gleichwohl stellt die alliierte Deklaration von 1915 einen bemerkenswerten Markstein in der Geschichte der Menschenrechte und der Sanktionierung ihrer Verletzung dar. Sie markiert den Übergang, an dem ein unbestimmtes, tief im europäischen Imperialismus eingebettetes humanitäres Anliegen als neuartiger Schutz- und Sanktionsanspruch im Namen der Menschheit zu einem Bestandteil der internationalen Politik avancierte. Damit wurde das Kriterium einer religiösen Differenz, welches schon im 19. Jahrhundert fortlaufend an Bedeutung eingebüßt hatte, durch die Entgegensetzung von zivilisierten Nationen und unzivilisierten Herrschaftsgebilden mit despotischer und defizitärer Staatlichkeit endgültig in den Hintergrund gedrängt. Die alliierten Mächte beanspruchten gerade nicht als christliche Nationen ein Recht zur Intervention, sondern weil das Osmanische Reich schon seit Jahrzehnten als problematisch gegolten hatte und die Drangsalierung der Armenier letztlich nur ein Symptom tieferliegender Defizite begriffen wurde, deren Lösung nun als Aufgabe, ja geradezu als Verpflichtung der internationalen Politik gelten musste. Es überrascht darum nicht, wenn während des Weltkrieges in den europäischen Hauptstädten nur wenig über das Schicksal der Armenier oder Fragen einer Wiedergutmachung nachgedacht wurde, sondern vorrangig über eine innere Umgestaltung des Osmanischen Reiches im Namen regionaler und internationaler Stabilität.21 Nach der Kapitulation der osmanischen Armee im September 1918 und dem nachfolgenden Waffenstillstand von Moudros öffnete sich in der Tat ein Möglichkeitsfenster, die „Orientalische Frage“ endgültig in einem europäischen Sinne zu erledigten. Auf der Pariser Friedenskonferenz von 1919/20 war die Vernichtungspolitik gegenüber den Armeniern jedenfalls immer dann besonders präsent, wenn es darum ging, die Verkleinerung des Osmanischen Reichs auf einen anatolischen Rumpfstaat zu rechtfertigen und ein umfangreiches Instrumentarium internationaler Eingriffsmöglichkeiten zu schaffen, darunter permanente Kontrollkommissionen mitsamt einer Aufsicht über den Staatshaushalt. Von besonderer Bedeutung war auch eine erzwungene Justizreform, welche eine Gerichtsbarkeit nach westlichen Maßstäben implementieren sollte. Im Ergebnis gingen die drakonischen Bedingungen des Friedensvertrags von Sèvres weit über die Auflagen der übrigen Friedensabkommen hinaus, mussten aber von der osmanischen Regierung unter dem Druck der Alliierten und angesichts der eigenen Schwäche am 10. August 1920 unterzeichnet werden.22
Hingegen spielte das tatsächliche Schicksal der Armenier in Paris nur eine untergeordnete Rolle. In Art. 88 des Friedensvertrags wurde zwar ein unabhängiger Staat Armenien eingerichtet. Aber das war nicht mehr als ein Ausdruck von Ratlosigkeit. Von den ursprünglichen Plänen, die armenischen Siedlungsgebiete unter europäische Aufsicht zu stellen, wie es ein russischer Entwurf schon 1914 vorgesehen hatte, war nach dem Sturz des Zaren keine Rede mehr.23 Auch der Versuch, stattdessen ein Mandatsgebiet unter Verantwortung der USA zu etablieren, scheiterte sang- und klanglos an der amerikanischen Zurückhaltung.24 In der Folge stand allenfalls die Londoner Regierung hinter dem Projekt einer armenischen Staatsgründung, wobei Großbritannien zudem als einzige der Siegermächte mit einer gewissen Ernsthaftigkeit den 1915 angekündigten Versuch machte, führende osmanische Regierungsmitglieder zur Rechenschaft zu ziehen.25 Parallel zu den vagen Ausführungen des Friedensvertrags von Sèvres – dessen Art. 230 von einer Auslieferung aller Verantwortlicher für die „Massaker“ sprach und dies mit Hoffnungen auf ein Tribunal des Völkerbundes verband26 –, konnten die Briten als militärische Besatzungsmacht immerhin die Verhaftung und Verurteilung einiger beteiligter Personen erreichen.27 Doch so bescheiden die Ergebnisse dieser Gerichtsprozesse in Konstantinopel waren, so schnell fielen sie dem Umschlag der Machtverhältnisse zum Opfer. Mit dem Ausbruch des türkischen „Befreiungskrieges“ und der verweigerten Ratifikation des Friedensvertrags von Sèvres rückte jedwede Sanktionierung der Vernichtungspolitik in unerreichbare Ferne. Eine von Griechenland im Namen der alliierten Siegermächte unternommene militärische Intervention scheiterte im Sommer 1921. Die türkischen Nationalisten um Mustafa Kemal Atatürk konnten den europäischen Nationen in der Folge aus einer Position neugefundener Stärke entgegentreten, welche jeden Gedanken an eine systematische Umsetzung der alliierten Deklaration von 1915 zur Makulatur machte. In dem 1923 unterzeichneten Vertrag von Lausanne, der an die Stelle des totgeborenen Friedensvertrages von Sèvres trat, wurde die Souveränität der neugebildeten türkischen Republik ebenso ausdrücklich bekräftigt wie jeder Hinweis auf ein unabhängiges Armenien oder auf die Verfolgung der Armenier restlos getilgt.28
Angesichts des hochtönenden Anspruchs, die Verbrechen an der armenischen Bevölkerung im Namen der Menschheit zu ahnden, bedeutete das eine erhebliche machtpolitische Ernüchterung. Was übrigblieb, war allenfalls das System eines formalrechtlichen Minderheitenschutzes, wie es bereits einigen ost- und mitteleuropäischen Staaten nach dem Ersten Weltkrieg auferlegt worden war und nun auch im Vertrag von Lausanne auftauchte (Art. 37 bis 45). Damit konnten sich die verbliebenen Armenier zwar als religiöse Minderheit auf elementare staatsbürgerliche Rechte berufen, die jedoch ohne nennenswerte internationale Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten meist nur auf dem Papier bestanden. Dass die dem Minderheitenschutz zugrundeliegende Idee abgegrenzter Gruppenrechte im Ganzen wenig effektiv war und spätestens mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs scheiterte, ist hinlänglich bekannt.29
Nach 1945, und zumal unter den Bedingungen des Kalten Krieges wie der Dekolonisierung, verlagerte sich die Aufmerksamkeit der westlichen Gesellschaften auf das Konzept eines individualisierten Menschenrechtsschutzes. Zwei ineinander verschränkte Aspekte der Deklaration von 1915 wirkten trotzdem weit in das 20. Jahrhundert hinein und bis auf unsere Tage nach. Einerseits wurde der Begriff der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“30 in den Nürnberger Prozessen ab 1945 nochmals aufgegriffen, in einen neuen Kontext gestellt und juristisch ausgebaut. Es ist häufig dargestellt worden, wie Raphael Lemkin in seinen Versuchen einer konzeptionellen Erfassung des Holocaust vom Völkermord an den Armenieren ausging.31 Der entscheidende Punkt ist hier, dass erst mit der Begriffsbestimmung als Genozid die spezifisch moderne Begründungslogik auch der osmanischen Verbrechen sichtbar wurde, deren systematischer Vernichtungscharakter lange Zeit hinter der Wahrnehmung unsystematischer Gräueltaten und „Massaker“ verborgen geblieben war. Andererseits blieb jeder Anspruch einer internationalen Sanktionierung vergleichbarer Gewalttaten auch nach 1945 zumeist auf die Annahme eben solcher unzivilisierten Verhältnisse mitsamt einer despotischen Machtausübung bezogen. Bereits in den Nürnberger Prozessen hatte es eine nur schwer zu meisternde Herausforderung dargestellt, die Abkehr einer hochentwickelten Industriegesellschaft wie Deutschland von als allgemeingültig behaupteten Zivilisationsstandards zu erklären.32 Hingegen hat sich die seit den 1990er Jahren geführte Debatte über eine „Responsibility to Protect“33, wie sie 2005 auch durch eine UN-Erklärung postuliert wurde, vorrangig auf solche Fälle konzentriert, in denen ein Staat als nicht fähig (anstatt nicht willens) gelten musste, seine Angehörigen vor schwersten Menschenrechtsverletzungen zu schützen. Dass auch in der Gegenwart eine grenzüberschreitende Sanktionsmacht nach wie vor meist von Nationen des globalen Nordens beansprucht und gegenüber schwachen, schlecht regierten oder zerfallenden Staaten des globalen Südens ausgeübt wird, mag man jedenfalls als fernes Echo der alliierten Deklaration von 1915 werten. Eine humanitäre Schutzpolitik abseits der asymmetrischen Machtverhältnisse der internationalen Ordnung ist hingegen kaum erkennbar und vielleicht auch nur schwer vorstellbar.
Davide Rodogno: Against Massacre. Humanitarian Interventions in the Ottoman Empire, 1815-1914. The Emergence of a European Concept and International Practice. Princeton 2012.
In seiner konzisen Studie zeigt Davide Rodogno auf, wie sehr sich Theorie und Praxis humanitärer Interventionen aus den europäischen Wahrnehmungen des Osmanischen Reiches im 19. Jahrhundert herleiten lassen. Das grenzüberschreitende Eingreifen der Großmächte des Europäischen Konzerts zugunsten fremder Volksgruppen etwa in Griechenland, Syrien oder auf Kreta erfolgte zunächst nicht aus einem universalistischen Anspruch, sondern war noch ganz auf die konkreten politischen und religiösen Konstellation der sog. Orientalischen Frage bezogen. Trotzdem entwickelte die Begründung, die Ausübung von „Massakern“ an der Peripherie Europas verhindern zu wollen, eine eigene Logik, welche alle Debatten über humanitäre Interventionen im 20. Jahrhundert maßgeblich bestimmen sollte.
Ronald Grigor Suny: „They Can Live in the Desert but Nowhere Else.“ A History of the Armenian Genocide. Princeton 2017.
Die Bewertung des Völkermords an den Armenieren gehört zu den politisch umstrittensten Geschichtsfragen. Sofern man einen akademischen Konsens für möglich hält, dürfte er durch die Gesamtdarstellung von Ronald Suny repräsentiert werden. Das Buch verknüpft verschiedene Perspektiven zu einem instruktiven Überblick über die Geschehnisse und kommt vor allem in der Frage nach dem genozidalen Charakter der osmanischen Verfolgungspolitik zu einem ausgewogenen Urteil: nicht Motivation und Planung, wohl aber die zunehmende Radikalisierung und nationalistische Verbrämung der Gewalttaten während ihrer Durchführung rechtfertigen es, von einem Genozid zu sprechen. Zugleich leistet Suny einen wichtigen Beitrag zur Diskussion um eine stärker integrierte Geschichte der Massenverbrechen und Völkermorde des 20. Jahrhunderts.
Michelle Elizabeth Tusan: The British Empire and the Armenian Genocide. Humanitarianism and Imperial Politics from Gladstone to Churchill. London 2017.
Dass im British Empire des 19. Jahrhunderts imperiale Interessen und humanitäre Anliegen eng verklammert waren, ist ein in der historischen Forschung breit dokumentierter Befund. Die Studie von Michelle Tusan betrachtet diesen vielleicht nur auf den ersten Blick widersprüchlichen Zusammenhang am Beispiel der öffentlichen Anteilnahme und der politischen Initiativen, mit denen in Großbritannien auf die osmanische Verfolgung der Armenier reagiert wurde. Dabei kann sie überzeugend herausarbeiten, dass die Geschehnisse im Nahen Osten das humanitäre Sendungsbewusstsein der Londoner Regierung zwar erheblich anfachten, die erlebte Einfluss- und Machtlosigkeit aber als Problem der britischen Imperialpolitik rationalisiert wurde.
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Die alliierte Deklaration zur Vertreibung der Armenier (1915)
von Marcus M. Payk