Quellenzur Geschichte derMenschenrechte

Anwar Al-Buni

Anwar Al-Buni gehört zu jenen syrischen Aktivisten, die das Assad Regime schon lange vor dem Arabischen Frühling für Menschenrechtsverletzungen kritisierten. Aufgewachsen in einer Familie, in der kommunistische Oppositionsarbeit und die Erfahrung staatlicher Repression zum Alltag gehörten, entschied er sich für das Jurastudium. Nach dessen Abschluss gehörte er einer kleinen Gruppe von Menschenrechtsanwälten an, die sich für Regimegegner einsetzten und sie vor Gericht verteidigten. Sein Engagement brachte ihn 2006 für mehrere Jahre ins Gefängnis. Nach seiner Freilassung setzte er zunächst seine Tätigkeit fort, entschied sich aber angesichts zunehmender Gewalt gegen politische Gegner im Zuge der Niederschlagung der Proteste durch das Assad-Regime das Land zu verlassen. Seit 2015 lebt er in Deutschland. Zusammen mit dem European Center for Constitutional and Human Rights arbeitet er daran, im syrischen Bürgerkrieg begangene Verbrechen vor deutschen Gerichten zur Anklage zu bringen.

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Interview

Das Interview fand am 26. April 2018 im Berliner Büro Anwar Al-Bunis statt und dauerte dreieinhalb Stunden. Herr Al-Buni antwortete auf Arabisch auf die Fragen von Prof. Dr. Susanne Buckely-Zistel, Lehrstuhl für Friedens- und Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg, und Dr. Daniel Stahl, Wissenschaftlicher Sekretär des Arbeitskreises Menschenrechte im 20. Jahrhundert. Ramzi Merhej, Wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl von Prof. Buckley-Zistel, dolmetschte das Gespräch.

Buckley-Zistel
Könnten Sie uns etwas über Ihre Kindheit erzählen?

Al-Buni
Ich wurde 1959 geboren und wuchs im christlichen Teil von Hama auf. Als ich 12 war, starb mein Vater. Mein nächstältester Bruder war damals schon 18. Mein Vater war im Schmuck- und Antiquitätengeschäft tätig. Ich habe ihm oft geholfen und nach seinem Tod sogar versucht, parallel zur Schule das Familiengeschäft weiterzuführen. Wir waren insgesamt sieben Geschwister, fünf Brüder und zwei Schwestern. Finanziell unterstützt hat uns damals vor allem einer meiner Brüder, der in Damaskus eine Ausbildung machte, und die Familie des Mannes der ältesten Schwester, die damals bereits studierte und verheiratet war. Als mein Vater starb, war mein jüngster Bruder gerade einmal drei Jahre alt. Für mich bedeutete der Tod meines Vaters, schon früh Verantwortung in der Familie zu übernehmen.

Stahl
Welche Rolle spielte Politik in Ihrer Familie?

Al-Buni
Ich habe vier ältere und einen jüngeren Bruder sowie zwei ältere Schwestern. Meine älteren Brüder und meine eine Schwester waren politisch engagiert und auch die Stadt Hama war damals ein durchaus politisches Pflaster, denn viele Leute haben gegen den von Assad1 installierten Regierungspräsidenten in Hama demonstriert. Meine älteren Brüder gingen aber noch weiter und etablierten bei uns zu Hause kulturelle Zirkel, um Bücher zu diskutieren. Aus diesem Kreis entstand eine kommunistisch inspirierte Bewegung. Ich selbst war nie in einer Partei und es gab wegen des politischen Engagements meiner Brüder immer Diskussionen.

Stahl
Wie alt waren Sie, als diese kommunistischen Zirkel bei Ihnen zu Hause entstanden?

Al-Buni
Es war ungefähr 1972, kurz nach dem Tod des Vaters, als Assad ein neues Grundgesetz eingeführt hatte,2 das vieles veränderte. Aber es gab noch Platz für politische Diskussionen und die Leute gingen auf die Straße. In meinem Elternhaus gab es auch ganz buchstäblich Platz: Es gab viele Zimmer, über die meine Brüder nach dem Tod des Vaters verfügen konnten. Daher haben die Treffen bei uns zuhause stattgefunden.

Ich musste von Gefängnis zu Gefängnis gehen, um meine Geschwister besuchen zu können.

Buckley-Zistel
Gab es da bereits Probleme mit der Polizei?

Al-Buni
Die autoritäre Regierung wurde von 1972 bis 1977 Schritt für Schritt aufgebaut. Als die syrische Armee 1976 in den Libanon einmarschierte,3 war es auch noch möglich, gegen diese Aktion zu demonstrieren. Aber 1977 wurden meine Geschwister verhaftet. Vorher gab es eigentlich kein Problem mit der Polizei.

Buckley-Zistel
Warum wurden Ihre Geschwister verhaftet?

Al-Buni
1977 hat die Regierung alle Leute, die etwas mit oppositionellen Bewegungen zu tun hatten, verhaften lassen. Das betraf etwa 600 Leute. Mein großer Bruder Youssef wurde zu Beginn des Jahres 1977 verhaftet, bis 1978 dann zwei andere Brüder und meine eine Schwester. Durch die Verhaftungen machte ich eine neue Erfahrung im Leben: Ich musste von Gefängnis zu Gefängnis gehen, um meine Geschwister besuchen zu können, denn sie waren alle in unterschiedlichen Gefängnissen in Damaskus inhaftiert. Einmal pro Monat fuhr ich mit meiner Mutter nach Damaskus, um sie zu besuchen. 

Buckley-Zistel
Wie lange waren Ihre Geschwister inhaftiert?

Al-Buni
Zunächst zwischen zwei und drei Jahren.

Stahl
Bekamen Sie damals etwas davon mit, ob es Folter gab?

Al-Buni
Auf jeden Fall, ja. Es gab Folter. Freunde eines Bruders wurden im Gefängnis getötet, regelrecht geschlachtet. 

Stahl
Weshalb verfolgte die Regierung diese kommunistische Gruppe? Wie unterschied sich das, was sie forderte, von der Baath-Partei4?

Al-Buni
Assad wollte einfach alle Oppositionellen loswerden, alle, die nicht mit ihm zusammenarbeiteten. Es gab in Syrien offizielle kommunistische Parteien, die sogar ein indirekter Teil der Regierung waren. Meine Geschwister engagierten sich weniger für den Kommunismus, sondern eher für eine Demokratisierung von links. Das war ein wesentlicher Unterschied zur offiziellen kommunistischen Bewegung, die Assads Autoritarismus unterstützte. Meine Geschwister und ihre Freunde hingegen wollten zwar kommunistische Werte, aber mehr Demokratie, mehr Freiheit und auf keinen Fall diese autoritäre Perspektive für Syrien.

Stahl
Also orientierten sie sich nicht an der Sowjetunion?

Al-Buni
Nein. Es gab viele kommunistische Bewegungen. Eine andere Bewegung, die sich wie die meiner Geschwister distanzierte, war die Bewegung von Riade Terik. Er war 18 Jahre im Gefängnis, von 1977 bis etwa 1995. 

Buckley-Zistel
Spielte Religion und Religiosität in Ihrer Familie eine Rolle? 

Al-Buni
Meine Familie war christlicher Herkunft, aber nicht religiös. Sie hatten keine Ikone zu Hause und kein Kreuz. Wo wir wohnten, in der Altstadt von Hama, gab es allerdings einen Keller, von dem es hieß, dass Josef, der Vater von Jesus, dort beerdigt sei. Meine Eltern wollten den Keller zuschütten lassen. Aber die Leute, die ihn zuschütten sollten, verletzten sich dabei; sie brachen sich Hände und Beine. Da sagten auch viele, die nicht gläubig waren, man sollte das Religiöse dort belassen. So erinnere ich mich daran, dass dort eine Marienstatue stand mit einem Licht. Das war die einzige religiöse Verbindung für mich damals. 

Buckley-Zistel
Nach Ihrem Schulabschluss haben Sie zunächst Ingenieurwesen studiert. Was hat Sie dazu bewogen?

Al-Buni
Meine Noten waren ziemlich gut, gut genug, um Ingenieur zu werden. Ich entschied mich für eine praxisnahe Ausbildung, weil das schneller ging und man nach nur zwei Jahren arbeiten konnte. Das war mein Ziel: Geld verdienen. Doch durch die Verhaftung meiner Geschwister änderten sich meine Pläne und ich beschloss, Jura zu studieren. Das Studium finanzierte ich mir teilweise als Ingenieur. Während meines Studiums zwischen 1980 und 1985 arbeitete ich als Assistenz-Ingenieur für eine militärische Institution, die Häuser für Soldaten baute. Es bedurfte keiner geheimdienstlichen Überprüfung, um dort angestellt zu werden, sonst wäre das wegen meiner Geschwister schwierig geworden. In dieser Institution war der Direktor ein bisschen liberal. 

Meine Brüder und seine Schwester wurden 1980 entlassen, doch schon 1982 gab es eine weitere Verhaftungswelle und sie kamen erneut im Gefängnis. Einer meiner Brüder floh und lebte fortan im Untergrund. Da intensivierten die Polizei und der Geheimdienst natürlich den Druck auf meine Familie. 

Buckley-Zistel
In Hama kam es 1981 nach Demonstrationen zu einem großen Massaker.5 Es gab hunderte Tote und etliche Leute wurden hingerichtet. War Ihre Familie betroffen?

Al-Buni
Damals waren Semesterferien und ich war in Hama. Unter die Demonstranten mischten sich etwa 300 Leute, die zur Muslimbruderschaft6 gehörten und sozusagen Kämpfer waren. Assad nutzte das als Rechtfertigung, um die Aufbruchsstimmung in der Gesellschaft zu brechen.

Stahl
Er nahm die Beteiligung der Muslimbruderschaft als Vorwand, um die ganze Protest-Bewegung zu zerstören?

Al-Buni
Ja, genau. Mehr noch: Seit dem Arabischen Frühling passiert etwas ganz Ähnliches: Auch jetzt hat die Regierung sozusagen in diese gewalttätigen, islamischen Bewegungen investiert, um die friedliche syrische Revolution zu brechen. Ich glaube, dass man irgendwann in Dokumenten entdecken wird, dass die Regierung die Muslimbruderschaft damals finanziell unterstützt hat. Diese Organisation hatte leider noch nie ein klares Ziel. Sie ließ sich daher gut instrumentalisieren. Wissen Sie, ich bin in einer bunten Zivilgesellschaft aufgewachsen, in der Menschen verschiedener Religionen und verschiedener Geschlechter Rechte hatten. In meiner Heimatstadt gab es vier sehr gute private christliche Schulen – die Schüler waren oft Muslime. Aber Assad hat diese Schulen schließen lassen und religiöse Konflikte geschürt.

Mit einigen anderen Studenten wurde ich auf der Ladefläche eines LKW aus der Stadt gebracht.

Stahl
Können Sie nochmal darauf eingehen, wie es zu den Zusammenstößen in Hama 1981 kam?

Al-Buni
Die Regierung erließ Notstandsgesetze und rekrutierte Spezialkräfte, die noch wenige Tage zuvor im Bürgerkrieg im Libanon gekämpft hatten. Sie gingen sehr brutal vor und nahmen die ganze Stadt ein. In der christlich geprägten Altstadt ging es etwas ruhiger zu als in den sunnitischen Teilen der Stadt. Wir Jugendlichen haben die älteren Leuten, die alleine lebten, damals heimlich mit Essen und Gas versorgt. Einmal wurde ich dabei von einem Soldaten aufgehalten und angesprochen: „Was machen Sie hier, wohin gehen Sie?“ Ich sagte: „Wir bringen den alten Leuten etwas zu essen.“ Daraufhin hat der Vorgesetzte des Soldaten mich gefragt: „Bist du Muslim oder Christ?“ Ich wagte es, ihm zu antworten: „Ich lebe seit 20 Jahren in Hama und niemand hat mich das gefragt. Warum stellst du jetzt diese Frage?“ Das ärgerte den Militär und er schlug auf mich ein. Bis heute kann man die Narben sehen und ich wurde nur deshalb nicht an Ort und Stelle umgebracht, weil viele Frauen aus den Nachbarhäusern kamen und sagten, ich sei Christ, man solle mich in Ruhe lassen. „Warum hast Du dann einen Bart“, fragte der Soldat, als er aufhörte, mich zu schlagen. Ich wollte etwas Spannung rausnehmen und sagte: „Die Frau, die ich liebe, mag Bärte.“ Und dann habe ich meinen Bart selbst vor den Augen der Soldaten mit einem Feuerzeug verbrannt, damit sie von mir ablassen. 

Buckley-Zistel
Wie ist es dann weitergegangen? Wie kamen Sie von Hama wieder nach Damaskus?

Al-Buni
Nach der Geschichte war klar, dass ich irgendwie rausgeschmuggelt werden musste. Einer unserer Nachbarn war Arzt bei der Armee und hat was organisiert. Mit einigen anderen Studenten wurde ich auf der Ladefläche eines LKW aus der Stadt gebracht. In der Plane waren Löcher und durch die sahen wir Schreckliches, viele Tote, viel Blut. Das geht mir bis heute nicht aus dem Kopf. Zwischen Hama und Homs, hat der LKW uns abgesetzt. Von dort gelangten wir dann auf eigene Faust nach Homs beziehungsweise Damaskus. 

Buckley-Zistel
Sie schlossen 1985 Ihr Studium ab. Wie waren die ersten Schritte in Ihrem neuen Beruf als Anwalt?

Al-Buni
Nach dem Studium dauerte es etwas, bis ich eine Kanzlei fand, für die ich arbeiten konnte. 1986 wurde ich Praktikant in einem Anwaltsbüro eingestellt. Zwei Jahre Praktikum waren damals nach dem Studium Pflicht. 

Buckley-Zistel
Was waren die ersten Fälle, mit denen Sie sich auseinandersetzten? Waren das politische Fälle?

Al-Buni
Nein, keine politischen Fälle – was auch daran lag, dass politische Fälle in Syrien nicht vor Gericht kommen. Politisch Verfolgte werden verhaftet und vergessen, oft weiß niemand, was genau passiert ist. Die Kanzlei, für die ich damals arbeitete, beschäftigte sich primär mit Arbeitsrecht und vertrat die Interessen von Arbeitern und Bauern – zum Beispiel, wenn jemand seinen Job verloren hatte.

Stahl
Haben Sie sich die Kanzlei damals bewusst ausgesucht? Stand das in einem Zusammenhang mit Ihrer politischen Überzeugung oder war es Zufall, dass Sie dort anfingen?

Al-Buni
Wie gesagt, es war richtig problematisch, überhaupt eine Kanzlei zu finden, weil ich aus einer politischen Familie kam. Viele Bürogeschäftsführer hatten Angst, mich zu nehmen. Der Geschäftsführer dieses Büros aber hatte Courage. Und dass er Courage hatte, war ein Zufall. Über einen Fall, den ich bearbeitete, kam ich dann sogar in Kontakt mit meiner inhaftierten Schwester. In der Kanzlei vertrat man auch Kriminelle, also Fälle des normalen Strafrechts. Als Praktikant durfte ich Fälle nicht unter meinem eigenen Namen vertreten. Das war gut so, denn ich übernahm den Fall einer Libanesin, die wegen eines Drogendeliktes in einem Frauengefängnis war – dem Gefängnis, in dem auch meine Schwester aus politischen Gründen interniert war und keinen Rechtsbeistand bekam. Über die libanesische Frau konnte ich mit meiner Schwester Nachrichten austauschen. Einen dieser Briefe hat die Libanesin jedoch verloren und die Polizei im Gefängnis hat ihn gefunden. Daraufhin wurde ich verhaftet und drei Tage festgehalten. Mein Chef hat sich damals sehr für meine Freilassung eingesetzt. 

Stahl
Wie ist es nach Ende Ihres zweijährigen Praktikums in dieser Kanzlei weitergegangen? Sind Sie bei diesem Anwalt geblieben?

Es war mir immer wichtig, dass ich keine Täter vertrete, sondern mich für Meinungsfreiheit und einen fairen Prozess einsetze. Das ist für mich nicht nur einfach mein Beruf, sondern es ist mein Lebensziel.

Al-Buni
Ja, für zwei, drei Jahre habe ich weiter dort als Anwalt gearbeitet. Danach habe ich mit anderen Anwälten ein eigenes Büro gegründet.

Buckely-Zistel
Hatte dieses Büro einen besonderen Schwerpunkt? Wie kam es dazu, dass Sie sich später auf Menschenrechtsfälle spezialisierten?

Al-Buni
Schon 1977, als meine Geschwister verhaftet wurden, knüpfte ich erste zarte Kontakte mit Amnesty International und anderen Menschenrechtsorganisationen. Damals war es schwer, überhaupt einen solchen Kontakt herzustellen, denn man konnte kaum telefonieren, E-Mail und das Internet gab es natürlich auch nicht. Aber es gab bestimmte Menschen, mit denen man direkt sprach, zum Beispiel Leute aus Beirut. Als ich meine Kanzlei mit ehemaligen Kommilitonen zusammen gründete, war es nicht möglich, politische Schwerpunkte zu setzen. Aber es hat sich herumgesprochen, dass wir uns dafür interessierten, und so haben wir immer mehr Opfer der Regierung vertreten. Wenn Leute von der Polizei verhaftet worden waren, konnten wir sie vertreten. Aber wenn sie vom Militär oder vom Geheimdienst verhaftet wurden, war dies nicht möglich. So haben wir bis 1994 viele politische Fälle formal als Strafrechtler vertreten.

Stahl
Wie haben Sie in den späten siebziger Jahren überhaupt zum ersten Mal von Amnesty International gehört? 

Al-Buni
Um 1977 suchte Amnesty selbst den Kontakt zu Familien, aus denen ein Mitglied verhaftet worden war. In unserem Falle lief das über Mittelsmänner, andere Syrer, Libanesen. Und wir waren ja auch ein besonderer Fall, denn in meiner Familie gab es gleich vier Verhaftungen. Viele Familien hatten Angst, mit jemandem zu reden, der sich bei Amnesty engagiert, aber ich hatte das nicht. 

Stahl
Was waren das für Leute von Amnesty?

Al-Buni
Die Kontaktleute von Amnesty waren Syrer oder Libanesen. Es war auch nicht so wichtig, dass diese Menschen sich direkt als Mitarbeiter von Amnesty vorstellten, sondern dass sie Informationen bekamen, die sie weitergeben konnten, und dass sie vielleicht auch Informationen darüber hatten, was mit meinen Brüdern und meiner Schwester passiert war. Ich dachte, sie könnten meiner Familie vielleicht irgendwie helfen.

Stahl
War das Konzept der Menschenrechte Ihnen damals schon ein Begriff?

Al-Buni
Nicht direkt. Im Jurastudium wurde das beispielsweise nicht thematisiert. Aber es lag einfach in der Luft. Als ich 1986 mein eigenes Büro gründete, hatte ich mehr persönliche Kontakte mit Amnesty. Ich telefonierte auch mit Personen, die Arabisch sprachen und das Menschenrechtskonzept vermitteln konnten. So entwickelte sich mein Interesse für Meinungsfreiheit.

Stahl
Wie muss man sich die Zusammenarbeit mit Amnesty über die Jahre denn konkret vorstellen?

Al-Buni
Von 1977 bis 1986 kann man eigentlich nicht von einem richtigen Kontakt sprechen, es gab ein loses Interesse, Informationen zu sammeln. 1986 hat sich ein richtiger Kontakt entwickelt, sodass 1988 der erste Amnesty-Bericht über Syrien erschien, in dem auch die Namen Inhaftierter – meiner Geschwister – auftauchten. 

Buckley-Zistel
Im deutschen Diskurs werden Sie heute als Menschenrechtsanwalt bezeichnet. Verstehen Sie sich selbst auch als solcher und wenn ja, seit wann?

Al-Buni
Menschenrechte sind ein weites Feld, aber es war mir immer wichtig, dass ich keine Täter vertrete, sondern mich für Meinungsfreiheit und einen fairen Prozess einsetze. Das ist für mich nicht nur einfach mein Beruf, sondern es ist mein Lebensziel. Manche Fälle habe ich bearbeitet, um Geld zu verdienen. Das habe ich dann aber immer wieder genutzt, um mich für die Menschenrechte, für meine Familie einzusetzen.

Buckley-Zistel
Wie reagierte der Staat auf Ihre Aktivitäten?

Al-Buni
Fragen Sie nur mal meine Frau! Ich habe viele Probleme bekommen und wegen meines Engagements auch auf viele Privilegien verzichtet. Andere Anwälte haben die Regierung respektiert. Sie konnten Häuser bauen, fuhren die besten Autos, sie waren reich. Ich könnte jetzt ein Millionär sein. Wenn ich meine Energie, meine Zeit, meine Erfahrung anders eingesetzt hätte, dann hätte ich viel, viel Geld verdienen können. Aber so hatte ich immer nur ein kleines Zuhause und meine finanziellen Möglichkeiten waren stets begrenzt.

Stahl
Gab es für Ihre Menschenrechtsarbeit und auch für die Informationsbeschaffung für Amnesty finanzielle Unterstützung? 

Al-Buni
Nein, das gab es nie und selbst wenn das der Fall gewesen wäre, wäre das gefährlich gewesen, da die Regierung es als Grund hätte anführen können, mich zu verhaften. 1988 galt es beispielsweise, eine lokale Menschenrechtsorganisation zu vertreten. Alle Leute, die sich in der Organisation engagierten, wurden verhaftet. Der Bruder eines der Verhafteten lebte zu diesem Zeitpunkt bereits in Frankreich und schickte 3.000 Dollar, um seinen Bruder zu unterstützen. Das wurde damals als Grund für die Verhaftung angeführt: illegale finanzielle Unterstützung aus dem Ausland. Die Leute waren teilweise zehn Jahre im Gefängnis. 

Stahl
Gab es andere Anwälte mit einem ähnlichen Schwerpunkt oder andere Organisationen, mit denen Sie in Menschenrechtsfällen zusammengearbeitet haben? Kann man von einem Netzwerk sprechen?

Obwohl wir wussten, dass es nur Schauprozesse waren, wollten wir Jüngeren diese Bühne nutzen.

Al-Buni
Ja, es gab andere Anwälte. Zum Beispiel Khalil Ma’touq, ein Kollege, der seit fünf Jahren verschwunden ist. Er hat mit vier oder fünf anderen Anwälten vor Jahren ein Büro gegründet, und er kannte auch erfahrene Anwälte, die zwar für die Politik gearbeitet haben, aber schon ein wenig in der Opposition waren. Aber insgesamt waren wir nur zehn, zwölf Anwälte in Syrien, die sich um Menschenrechtsfälle gekümmert haben. Eine lose Gruppe – bis zu den Entwicklungen 1996. Da wurden politische Fälle endlich vor Gericht gebracht. Dafür wurde extra ein Gericht gegründet und wir als Menschenrechtsanwälte traten noch stärker hervor.

Stahl
Konnte man mit diesen Gerichtsprozessen Menschen tatsächlich helfen oder waren das letztlich doch nur Schauprozesse?

Al-Buni
Es waren Schauprozesse. Alle Fälle waren schon vorher entschieden. Es ging Assad darum, international in besserem Licht zu erscheinen. Die älteren, politischen Anwälte haben sich tatsächlich als eine Art Schauspieler benutzen lassen. Aber obwohl wir wussten, dass es nur Schauprozesse waren, wollten wir Jüngeren diese Bühne nutzen, um in Verteidigungsreden wenigstens anreißen zu können, dass das Vorgehen nicht legal war. 

Stahl
Sie sprechen von den älteren, „politischen Anwälten“. Wer waren diese und warum wurden sie so genannt?

Al-Buni
Dies Männer waren teils als Anwälte, teils als Politiker tätig, und zwar oft schon zu Nassers Zeiten.7 Für sie war es leichter zu sagen, dass sie für Menschenrechte einträten, weil sie gute Kontakte zur Regierung hatten. Man konnte sie daher nicht so ohne Weiteres verhaften. Für uns jüngere Garde der Menschenrechtsanwälte waren sie in gewisser Weise ein Schutz, wenn sie auch nicht so progressiv waren. Unter den jüngeren Menschenrechtsanwälten haben wir 2000/2001 die Human Rights Association Syria gegründet, ein Komitee für Menschenrechte.

Buckley-Zistel
Das war zur Zeit des Damaszener Frühlings8?

Al-Buni
Ja, als Hafiz al-Assad gestorben ist, haben viele Leute geglaubt, dass der Albtraum ein Ende hätte, dass die Zeit der totalitären Regierung vorbei sei und es nun vielleicht wieder Chancen für Freiheit und Demokratie, für ein besseres Leben geben könne. Damals haben 99 teilweise prominente Personen, auf jeden Fall Bürger mit einem gewissen Status, einen Aufruf unterschrieben.

Stahl
Wann wurde Ihnen klar, dass der Damaszener Frühling eine Illusion war? 

Al-Buni
Die Unterzeichner haben es damals einfach probiert und sie sind bis heute nicht hoffnungslos.

Stahl
Aber es muss doch einen Moment gegeben haben, in dem man merkt, dass auch Baschar al-Assad9 autoritär ist.

Al-Buni
Baschar al-Assad ist nicht wie sein Vater. Er hat psychische Probleme. Hafiz al-Assad, der Vater, war stark und smart. Nachdem Hafiz gestorben war, regierten die alten Eliten, obwohl Baschar bereits Präsident war. Diese Unklarheiten über die Machtverhältnisse öffneten für etwa drei Jahre ein Fenster für die Zivilgesellschaft und die Demokratiebewegung. Denn obwohl die zehn wichtigsten Protagonisten des Damaskus-Frühlings noch im Jahr 2001 verhaftet wurden, verebbte diese Bewegung nicht. Es gab immer Hoffnung, zumindest bis 2004, als sich die Probleme mit den Kurden häuften.10

Stahl
Im Jahr 2006 sind Sie dann selbst verhaftet worden. Weil auch Sie die Beirut-Damaskus-Deklaration11 unterschrieben haben?

Al-Buni
Nein, es wurden andere Gründe angeführt: Dass ich über Fälle von Folter und Ermordung ins Ausland berichtet hatte und die Regierung darauf beharrte, dies habe nie stattgefunden. Dass ich Geschäftsführer eines mit EU-Mitteln geführten Zentrums für Menschenrechtstraining war. Und weil ich eine Studie vorgestellt hatte, die herausarbeitete, dass das syrische Grundgesetz nicht Menschenrechtsstandards einhält. Die Beirut-Damaskus-Deklaration wurde von 500 Leuten unterschrieben – 250 Libanesen, 250 Syrern – ich war der einzige, der verhaftet worden ist. Es ging ihnen mehr um die anderen, genannten Punkte.

Zukunftspläne für Syrien zu schmieden, das hat mir während der Zeit im Gefängnis Energie gegeben.

Stahl
Sie sind fünf Jahre in Haft gewesen. Inwiefern hat die Hafterfahrung Ihre Arbeit danach geprägt? 

Al-Buni
Ich habe damit gerechnet, ins Gefängnis zu gehen. Ich wusste, dass die Regierung so funktioniert. Es gab eher viele Leute, die die Frage stellten, warum ich nicht früher verhaftet worden sei. Ich glaube das hatte zwei Gründe: Einerseits war meine ganze Familie schon verhaftet und das wäre vielleicht ein bisschen zu viel des Guten gewesen, wenn auch ich für mein Engagement ins Gefängnis gesteckt worden wäre. Und zweitens hatte ich ganz gute Kontakte zu ausländischen Botschaftern. Dass ich Christ bin, aus einer christlichen Familie stamme, hat eine ambivalente Rolle gespielt.

Buckely-Zistel
Inwiefern?

Al-Buni
Die Regierung sprach mir einerseits die Fähigkeit ab, in einer muslimischen Gesellschaft großen Einfluss zu haben und sie unterstützte andererseits Minderheiten. Deswegen passte es nicht ins Bild, einer Minderheit anzugehören und trotzdem gegen eine Regierung zu sein, die Minderheiten in gewisser Weise unterstützt.

Stahl
Haben Ihr Christsein und Ihre Internationalen Kontakte Ihnen im Gefängnis etwas genützt, in dem Sinne, dass Sie weniger brutal behandelt wurden?

Al-Buni
Nein, dass ich Christ bin, hat höchstens gegenüber anderen Inhaftierten eine positive Rolle gespielt, aber nicht in Bezug auf die Regierung. Für die war es eher ein Grund, mich mehr zu foltern. Zwei Mal haben sie versucht, mich umzubringen. In dieser Zeit hat mich mein Glaube geprägt, mein Glaube an die Menschen, an eine bessere Zukunft für Syrien. Fünf Jahre Haft waren eine lange Zeit; viel Zeit, um für das zukünftige Syrien zu planen. 2005 habe ich ein neues Parteiengesetz für Syrien entworfen. Durch Kontakte hatte ich noch vor meiner Haft die amerikanische Verfassung und das deutsche Grundgesetz auf Arabisch erhalten. Noch während ich im Gefängnis war, wurde das Programm publiziert. Und als ich wieder frei war, habe ich einen Plan für transitional justice in Syrien entworfen. Ich habe nicht alles veröffentlicht, aber diese Pläne für Syrien zu schmieden, das hat mir stets Energie gegeben. Ich habe mich nie vor der Regierung geängstigt, ich glaube eher, sie haben Angst vor mir. 

Buckley-Zistel
Nach Ihrer Entlassung sind Sie allerdings nach Deutschland geflohen. Weshalb haben Sie sich entschieden, Syrien trotz all der Pläne zu verlassen?

Al-Buni
Als ich entlassen worden war, hat mich der Nahost-Vertreter der deutschen Regierung besucht und mir gesagt, dass meine Familie und ich in Deutschland willkommen seien, weil man wolle, dass wir in Sicherheit wären. Aber für mich kam es damals noch nicht in Frage, auszuwandern. Die Revolution war am Anfang, die Hoffnung auf ein neues Syrien war größer denn je. Ich sagte: „Dankeschön, aber ich möchte weiter an der Zukunft meines Landes arbeiten.“ Drei Jahre lang habe ich weitergearbeitet, in Syrien. Ich habe viele Kontakte zu Botschaftern gepflegt und an Amnesty International und andere Organisationen berichtet. Die Regierung Assad hatte immer große Angst vor mir, sie haben sich geärgert, dass sie mich überhaupt freigelassen haben. Als ich im März 2014 mit meinem Bruder verabredet war, kam ich eine halbe Stunde zu spät – und Akram wurde in dieser halben Stunde verhaftet, weil die Regierung dachte, ich sei es. Mich hätten sie vermutlich umgebracht. Da wurde mir klar: Ich muss raus. Vom Ausland aus kann ich der Revolution womöglich sogar besser helfen, als in Syrien selbst. Ich schickte meine Frau und die Kinder in den Libanon vor und tauchte unter. Ich besorgte mir Kontaktlinsen mit einer anderen Augenfarbe und eine Perücke.

Gute Kontakte zu Diplomaten und Journalisten – das ist die einzige Waffe, mit der man gegen die Diktatoren kämpfen kann.

Buckley-Zistel
Haben Sie sich dann wieder an die deutsche Botschaft gewendet?

Al-Buni
Ja, meine Familie war im Libanon in Sicherheit und mir hat die Deutsche Botschaft sehr schnell geholfen. Schon bald habe ich ein Ausreisedokument erhalten und konnte nach Deutschland.

Stahl
Wie ist es Ihnen gelungen, einen derart guten Kontakt zu deutschen Behörden aufzubauen, dass es dann so schnell ging? Seit wann hatten Sie so gute Beziehungen zur Deutschen Botschaft in Syrien?

Al-Buni
Das geht zurück auf das Jahr 1996, als Hafiz al-Assad dieses besondere Gericht installiert hat, um Menschenrechtsfälle zu verhandeln. Die Regierung hat viele Botschaftsvertreter dorthin eingeladen, viele Beobachter. Diese Anwesenheit haben wir Anwälte, die wir uns wirklich für Menschenrechte einsetzen wollten, genutzt, um Kontakte zu knüpfen. Ich wurde in der Folge auch immer mal wieder für verschiedene Veranstaltungen in die Botschaft eingeladen. Nach dem Damaszener Frühling 2001 hat sich das nochmal intensiviert, ich ging mit Botschaftern essen, tauschte mich aus. Es gab ein großes Interesse der Vertretungen von Frankreich, Deutschland, den USA und den Niederlanden, sich für den Wandel in Syrien einzusetzen. Gute Kontakte zu Diplomaten und Journalisten – das ist die einzige Waffe, mit der man gegen die Diktatoren kämpfen kann.

Stahl
Wie sind Sie nach Deutschland gekommen und wie verlief Ihre Ankunft? 

Al-Buni
Ich reiste über den Libanon und es dauerte dann doch nochmal fast eine Woche. Da die Hisbollah im Libanon mit Assad kooperiert, wäre unser Flug fast noch storniert worden. Am Ende kam es mir wie ein Wunder vor. Außerdem war Hochsaison; es war schwer, überhaupt einen Flug zu finden. Wir haben 1.900 Euro pro Person bezahlt und sind über Madrid nach Berlin gekommen. Die Kosten bezahlten wir selbst, aber als wir ankamen, hat uns jemand vom Außenministerium am Berliner Flughafen empfangen. Wir wurden mit anderen politischen Flüchtlingen untergebracht, mussten aber nicht in ein Flüchtlingsheim.

Stahl
Nahmen Sie Kontakt zu anderen syrischen Oppositionellen hier in Deutschland auf? 

Al-Buni
Ich glaube, ich kenne alle Leute, die in Syrien in der Opposition waren und habe viele von ihnen vertreten. Am Anfang haben mir diese persönlichen Beziehungen auch geholfen, anzukommen. Allerdings wollte ich immer juristisch arbeiten und nicht Politiker werden, solche Kontakte und Anfragen, etwa die, in einer alternativen Regierung Minister zu werden, habe ich immer abgelehnt.

Wir sind schon allein dadurch erfolgreich, dass wir es zu einer Anklage gegen syrische Folterer vor deutschen Gerichten gebracht haben. Auf diese Weise dokumentieren wir die Verbrechen des Assad-Regimes.

Stahl
Hatten Sie bereits im Vorfeld erwogen, auch in Deutschland als Jurist tätig zu werden? Was wussten Sie über das deutsche Rechtssystem? 

Al-Buni
Ich wusste wenig über europäische Rechtssysteme, vom Deutschen hatte ich zugegebenermaßen keinen Begriff. Zu Beginn des neuen Jahrtausends wurde ich angefragt, ob ich mich in Belgien an einem Prozess gegen Ariel Sharon beteiligen wolle, viele libanesische Anwälte haben eine mögliche Anklage unterstützt. Aus verschiedenen Gründen habe ich nicht teilgenommen. In meinen Augen war das vor allem Propaganda, denn viele Libanesen oder Syrer tragen auch Schuld, aber es sollte nur gegen Sharon etwas gemacht werden. Zeitgleich gab es vonseiten französischer Anwälte Bemühungen, das Hama-Massaker juristisch nach dem Weltrechtsprinzip12 aufzuarbeiten. Ich wusste, dass es in Belgien die Möglichkeit gibt, Verstöße gegen das Völkerrecht unabhängig vom Tatort zu ahnden, aber wie es in Deutschland ist, das wusste ich nicht genau. Deswegen trat ich nach meiner Ankunft mit verschiedenen deutschen Organisationen in Kontakt, um mich fortzubilden.

Stahl
Sie meinen das European Center for Constitutional and Human Rights?13

Al-Buni
Ja genau. Dorthin war ich oft eingeladen zu Veranstaltungen und Tagungen.

Stahl
Hatten Sie schon Kontakt zum European Center, bevor Sie nach Deutschland kamen?

Al-Buni
Es gab keinen persönlichen Kontakt, ich habe mich 2015 dort gemeldet und zusammen haben wir eine Monitoring-Arbeit für Syrien aufgebaut, Zeugenaussagen gesammelt, im März 2017 in einem ersten Fall Klage eingereicht.14

Stahl
Wie muss man sich die Arbeit an diesen Fällen vorstellen? 

Al-Buni
Am ECCHR arbeitet Patrick Kroker zu Syrien, er hat zwei Assistenten. Zusammen mit einem anderen syrischen Geflüchteten kümmere ich mich um die Zeugenaussagen, finde Zeugen, organisiere die Übersetzung. Patrick Kroker und seine Assistenten sind für das Juristische in Deutschland zuständig, sie bereiten die Anklage vor. 

Stahl
Wie haben Sie die Zeugen ausfindig gemacht?

Al-Buni
Manche kenne ich persönlich, etwa vier oder fünf. Und dann haben wir weitere Zeugen via Facebook gesucht und Aufrufe geschrieben. Das war am Einfachsten. Ohne Facebook hätte es Monate gedauert. Durch soziale Netzwerke haben sich binnen fünf Minuten über 100 Menschen gemeldet, weil mein Aufruf sich sehr schnell verbreitet hat.

Stahl
Wie viele Zeugenberichte sind jetzt letztlich in die Anklage eingeflossen?

Al-Buni
Für den ersten Fall hatten wir 12 Hauptzeugen. Wir haben sie aus dem großen Zuspruch herausgefiltert, den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen durch weitere Zeugen gegengecheckt und darauf geachtet, dass sich die Zeugen für andere Fälle nicht wiederholen. Außerdem war uns wichtig, dass sie die Gesellschaft abbilden, also dass alle Geschlechter und verschiedene Religionszugehörigkeiten vertreten sind.

Stahl
Wie schätzen Sie und auch die anderen Mitarbeiter im European Center die Erfolgschancen ein?

Al-Buni
Wir sind schon dadurch erfolgreich, dass wir es überhaupt zur Anklage gebracht haben. Auf diese Weise dokumentieren wir die Verbrechen. Allerdings hat der zuständige Staatsanwalt wirklich sehr viel zu tun und nur ein kleines Team. Ich weiß nicht, wann es zum Prozess kommt, aber ich bin zuversichtlich, dass es bald sein wird.

Stahl
Wie sind die Reaktionen der Syrer? Wird es in Syrien und unter Geflüchteten wahrgenommen, dass nun so etwas wie eine juristische Aufarbeitung stattfindet?

Al-Buni
Niemand ist gegen Gerechtigkeit, mindestens als Show. Auch diejenigen, die im Namen der Regierung Gerechtigkeit fordern, kriegen viel Unterstützung.

Stahl
Werden Sie auch manchmal mit der Kritik konfrontiert, ein Instrument der westlichen Mächte zu sein? 

Al-Buni
Ein Instrument der westlichen Mächte eher weniger, aber ein paar Mal wurde meine Website von der Hisbollah gehackt und sie haben behauptet, ich handle im Auftrag des IS. 

Stahl
Sie haben immer wieder von Hoffnung gesprochen: Gibt es wirklich noch Hoffnung für Syrien? Wie sehen Sie die Zukunft?

Al-Buni
Im Moment ist nicht nur die syrische Regierung dagegen, dass Syrien demokratisch wird, alle umliegenden Länder sind auch dagegen. Die Türkei, Ägypten, Saudi-Arabien, Libanon – sie alle hatten das Ziel, dass die Syrische Revolution gestoppt wird, weil ein demokratisches Syrien für ihre Systeme eine Bedrohung dargestellt hätte. Die einzige Region, die sich für die Demokratie in Syrien einsetzte, war Europa, aber Europa spielt kaum noch eine Rolle für die Region. Ich habe also, anders als damals im Gefängnis, heute wenig Hoffnung für Syrien. 

Stahl
Und wie schätzen Sie Ihre Chancen ein, vom Exil aus etwas zu erreichen?

Al-Buni
Vielleicht sind sie niedrig, aber es ist besser als nichts. Eigentlich will ich hier nicht leben, ich habe auch kaum Deutsch gelernt, weil ich fest daran glaube, zurückzukehren. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich mag Deutschland, es ist sehr schön und die Menschen sind gut. Aber sobald ein sicherer Ort in Syrien gefunden ist, gehe ich sofort zurück und mache weiter.

Stahl
Vielen Dank für das Interview.

Zitation

Lebensgeschichtliches Interview mit Anwar Al-Buni, 26.04.2018, in: Quellen zur Geschichte der Menschenrechte, herausgegeben vom Arbeitskreis Menschenrechte im 20. Jahrhundert, URL: www.geschichte-menschenrechte.de/anwar-al-buni/

  1. Hafiz al-Assad (1930-2000), 1970-1971 syrischer Ministerpräsident, 1971-2000 Staatspräsident.
  2. Am 13. März 1973 trat das Grundgesetz in Kraft, das die „führende Rolle der sozialistischen Baath-Partei“ in Gesellschaft und Staat festschrieb. 
  3. Im Januar 1976 marschierten Syrien mit einem Mandat der Arabischen Liga mit 20.000 Mann in Libanon ein, wo im Jahr zuvor der Libanesische Bürgerkrieg (1975-1990) ausgebrochen war. Syrien stellte sich auf die Seite der christlich-maronitischen Gruppen, die gegen die Nationale Bewegung aus muslimischen, palästinensischen und linke Kräften kämpften.
  4. Die 1947 gegründete Baath-Partei versteht sich als eine säkulare, den Grundprinzipien Einheit, Freiheit und Sozialismus verpflichtete Partei. Offiziell vertritt sie die Doktrin einer ungeteilten arabischen Nation.
  5. Bei dem Massaker von Hama im April 1981 handelt es sich um eine Vergeltungsaktion von Regierungstruppen auf die Bevölkerung Hamas infolge eines fehlgeschlagenen Angriffs islamischer Kämpfer auf einen Checkpoint. Den Vergeltungsaktionen fielen schätzungsweise 300 Menschen zum Opfer.
  6. Die syrische Muslimbruderschaft wurde 1937 gegründet und gehörte nach der Unabhängigkeit Syriens 1946 zu den Oppositionsparteien.1963 wurde sie verboten.
  7. 1958 gründeten Ägypten und Syrien die Vereinigte Arabische Republik, deren Staatsoberhaupt der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser (1918-1970) war. Die Union zerbrach 1961 mit dem Austritt Syriens.
  8. Als Damaszener Frühling bezeichnet man eine ca. einjährige Phase nach dem Tod Hafz al-Assad im Juni 2000, in der die syrische Gesellschaft vergleichsweise offen und ohne sofortige Repressionsmaßnahmen fürchten zu müssen über politische Alternativen diskutierte. Oppositionelle und Intellektuelle forderten u.a. die Aufhebung des Ausnahmezustands, die Freilassung aller politischer Gefangenen und die Abschaffung der Sonderstellung der Baath-Partei.
  9. Baschar al-Assad (*1965), Sohn Hafiz al-Assad und seit 2000 Präsident Syriens.
  10. Nach Zusammenstößen zwischen kurdischen und arabischen Fans zweier Fußballklubs kam es im März 2004 zu Unruhen, in deren Folge laut Amnesty International hunderte Menschen, überwiegend Kurden, verhaftet wurden. 
  11. In der Beirut-Damaskus Deklaration forderten syrische und libanesische Intellektuelle und Aktivisten die syrische Regierung auf, die libanesische Souveränität und Unabhängigkeit zu achten und diplomatische Beziehungen zu dem Nachbarstaat aufzunehmen.
  12. Das Weltrechtsprinzip besagt, dass das nationale Strafrecht auch auf Sachverhalte anwendbar ist, bei denen weder der Tatort im Inland liegt, noch das Opfer über die Staatsangehörigkeit des ermittelnden Staates verfügt.
  13. Das European Center for Constitutional and Human Rights wurde 2008 gegründet, um die strafrechtliche Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen voranzutreiben.
  14. Im März 2017 stellten sieben Überlebende aus Foltergefängnissen in Syrien beim Generalbundesanwalt Strafanzeige gegen sechs Geheimdienstchefs und weitere Tatverdächtige der Regierung Assads.