Quellenzur Geschichte derMenschenrechte

Daniel Rafecas

Zwischen 1976 und 1983 war in Argentinien eine Militärjunta an der Macht, die gewaltsam gegen als Feinde erachtete politische und soziale Organisationen vorging. Schätzungen gehen von etwa 30 000 Todesopfern dieser Repressionspolitik aus. Die strafrechtliche Aufarbeitung dieser staatlichen Gewaltverbrechen gilt als einzigartig. Nach einer Phase weitreichender Amnestien setzte seit der Jahrtausendwende eine intensive juristische Auseinandersetzung mit der Militärdiktatur ein, die bis heute anhält und in deren Zuge hunderte hoch- und mittelrangige Militärs verurteilt worden sind. Eine wichtige Rolle kommt dabei Daniel Rafecas zu, der seit 2004 als Bundesrichter für die Provinz Buenos Aires für einen großen Teil der Prozesse zuständig ist.

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Interview

Das Interview mit Prof. Dr. Daniel Rafecas fand am 19. Juni 2017 in Nürnberg gelegentlich seiner von der Elisabeth Käsemann-Stiftung organisierten Vortragsreise statt. Dr. Daniel Stahl, Wissenschaftlicher Sekretär des Arbeitskreises Menschenrechte im 20. Jahrhundert, traf ihn um 13.00 Uhr in der Hotellobby und befragte ihn zweieinhalb Stunden auf Spanisch. Das Interview fügt sich in eine Reihe mit zwei weiteren Interviews über den Umgang mit den Menschenrechtsverletzungen der argentinischen Militärjunta, die der Arbeitskreis mit Gladis Sepúlveda, Inés Ragni und Lolín Rigoni geführt hat.

Stahl
Lassen Sie uns mit Ihrer Familie beginnen. War Politik bei Ihnen zuhause am Küchentisch bereits ein Thema?

Rafecas
Ich wurde 1967 geboren und wuchs in einer Mittelklassefamilie auf. Mein Vater wie meine Mutter kamen aus eher kleinbürgerlichen Verhältnissen und hatten Vorfahren, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts aus Spanien immigriert waren. Beide Familien spiegelten einen gewissen sozialen Aufstieg wider, wie er typisch war für Argentinien in dieser Zeit – mein Vater war zum Beispiel Ingenieur, mein Großvater Bäcker. Meine Mutter war Grundschullehrerin. Nach Ende der Diktatur begann ich als 16-, 17Jähriger, viel zu lesen – vor allem Zeitungen und Geschichtsbücher. Ich wurde – und blieb – politisch progressiv. Deswegen sind mein Vater und ich immer wieder in Diskussionen geraten, denn er arbeitete als Geschäftsführer einer mittelgroßen Firma und stand politisch eher mitte-rechts, ist bis heute sehr konservativ geprägt. 

Wir diskutierten damals allerdings weniger über Argentinien selbst, sondern eher über Nicaragua[1] und El Salvador:[2] Ich befürwortete die Sandinisten, mein Vater die Konterrevolutionäre. Im Grunde hatte die ganze Generation meiner Eltern wahnsinnige Angst vor dem Kommunismus – vielleicht ist das in Deutschland ähnlich. 

Bis heute haben mein Vater und ich zwei unterschiedliche Sichtweisen auf die Welt. Ich bin eben politisch eher mitte-links, jedwede Beifallsbekundung für das Autoritäre, für eine Gesellschaft der Privilegien anstelle einer Gesellschaft, die die Rechte aller garantiert, besorgt mich.

Stahl
In Argentinien spielt ja der Peronismus stets eine große Rolle. Wie war Ihre Haltung zu dieser politischen Richtung?

Rafecas
Oh, der Peronismus ... das ist komplex. Von allen Widersprüchen einmal abgesehen, war Peróns Regierungszeit zwischen 1946 und 1955 eine Dekade, in der viel für die unteren Schichten in Argentinien getan worden ist. Nie zuvor – und niemals später, vielleicht mit Ausnahme der zehn Jahre unter Néstor[3] und Christina Kirchner,[4] die es wenigstens versucht haben – gab es solch einen Fortschritt. Also, in der Vorstellungswelt der Argentinier gilt der Peronismus als ein Moment des Aufstiegs für die unteren Klassen, weil sie soziale Rechte erhielten. Deswegen betrachte auch ich den Peronismus als relativ demokratische Phase, obwohl er autoritäre und populistische Tendenzen hatte, die ich als Jurist, der die Verfassung anerkennt und schützt, natürlich sehr kritisch sehe. Die Vorbilder, die ich für mein Land aber habe, sind Länder, die die Rechte aller noch viel stärker schützen, den Populismus zähmen – wie etwa die europäischen Demokratien. Ich kann also sehen, dass der Peronismus für Argentinien wichtig war, dass er beliebt war, aber ein Anhänger war ich nie, denn was ich für mein Land will, ist eine hundertprozentige Demokratie.

Stahl
Als sie Jugendlicher waren, welche Zeitungen haben Sie gerne gelesen? 

Rafecas
Ich las das, was damals in Argentinien bei uns zuhause zirkulierte, La Nación, Clarín, ... Später, als ich so 18 war, kaufte ich mir meine eigenen, vor allem linke Zeitungen wie die Wochenschrift El Periodista, in der wichtige Linksintellektuelle schrieben, Ökonomen, Politiker, Philosophen ... Diese Zeitung hat mich geprägt, sie war weder peronistisch, noch marxistisch oder kommunistisch. Sie war europäisch. 

Stahl
Haben Sie konkrete Erinnerungen an die Diktatur?

Rafecas
Zum Ende der Diktatur war ich 15 Jahre alt. Ich erinnere mich, dass meine Eltern mir eingeschärft hatten, dass ich mich ducken und in Sicherheit bringen solle, wenn ich Einsatzkommandos auf der Straße träfe ... aber passiert ist nie etwas. Nur einmal sind bewaffnete Einsatzkräfte in das Apartmentgebäude gekommen, in dem wir lebten. Ich muss etwa zehn Jahre alt gewesen sein. An den Anblick der Leute mit Waffen erinnere ich mich trotzdem gut. Sie drangen ins Gebäude ein und gingen zu einer Wohnung. Die war schon leer, die Leute, die sie suchten, waren schon nicht mehr da. 

Stahl
Und wie haben Sie die Zeit der Demokratisierung in den achtziger Jahren in Erinnerung?

Rafecas
Mein Vater war vor allem unter ökonomischen Gesichtspunkten konservativ. Mit der Diktatur hatte er nichts zu tun, er verteidigte sie nie, sondern er begrüßte, dass es nach dem Ende der Junta-Zeit gleich ein Verfahren gegen die Militärs gab. In dieser Hinsicht waren wir also ziemlich einer Meinung. 

Als ich mit dem Jura-Studium begann, fanden die Prozesse gegen führende Militärs statt, die wir an der Fakultät mit großem Interesse verfolgten.

Stahl
Wie erlebten Sie diese Phase der transición in der Schule?

Rafecas
Ich ging auf eine katholische Schule, die aber sehr offen, sehr liberal war. Ich hatte eigentlich eine sorglose Schulzeit, die Schule verfolgte ein möglichst unverfängliches Bildungskonzept und verzichtete sowohl darauf, das Regime lautstark zu unterstützen als auch, es zu kritisieren. Aber natürlich haben wir mitgekriegt, dass es einen politischen Frühling gab, nachdem die Diktatur beendet worden war. Die Zeit zwischen meinem 15. und meinem 20. Lebensjahr hatte also etwas Romantisches, da hatte ich Glück. Als ich 1985 begann, Jura zu studieren, spürte man noch den Aufbruch an der Fakultät, es gab viele politische Diskussionen über den Sozialismus, den Peronismus, die Ziele der Radikalen Partei[5] … Außerdem war das die Zeit, in der die CONADEP ihren Bericht Nunca Más (Nie wieder) veröffentlichte. Diese Kommission war 1983 von der Regierung eingesetzt wurde, um das Schicksal der Verschwundenen aufzuklären. Dann gab es wie gesagt die Prozesse gegen die führenden Militärs – wir verfolgten das alles natürlich mit großem Interesse und die aktuelle Entwicklung wurde in den Seminaren diskutiert. Was aber kurios war: Obwohl die Diktatur beendet war, blieb der Militärdienst Pflicht. Auch ich wurde eingezogen, als Jura-Student! Für ein ganzes Jahr! Die Militärs der Einheit, in die ich geschickt wurde, hatten so ihre Probleme mit mir. Das war schon eine sehr komplexe Angelegenheit...

Stahl
Inwiefern? Können Sie noch detaillierter von Ihrer Zeit als Wehrdienstleistender erzählen?

Rafecas
Aber natürlich! Wissen Sie, letztlich hatten die Militärs mit allem Recht, was sie von mir dachten. Da ich von der juristischen Fakultät kam, an der es viel politischen Aufruhr gab, hielten sie mich für eine Gefahr. Als ich zum Militär ging, war es, als ginge ich ins Herz der Dunkelheit. Die Einheit, die ich erwischte, kam in Nunca Más vor, also hatte ich bereits von der Kaserne gelesen. Während der Diktatur war dort ein illegales Gefängnis. Diese Einheit hatte ferner um die Malvinas gekämpft, im Krieg gegen England um die Falklandinseln. Und als ich meinen Dienst gerade beendet hatte, war diese Einheit in den sogenannten Aufstand der Carapintadas involviert – ein erneuter Putschversuch ultrarechter Militärs.[6] Ich bin dann Jahre später noch einmal an diesen Ort zurückgekehrt: als Richter. Es ging darum, dass Opfer aus der Militärdiktatur die Kaserne wiedererkennen sollten. Es war für alle eine Überraschung, dass auch ich mich da auskannte, weil ich meinen Wehrdienst dort hatte leisten müssen. 

Stahl
Haben sie als Wehrdienstleistender mit jemandem dort über das gesprochen, was dort während der Militärdiktatur passiert ist? 

Rafecas
Ja, eines nachts zum Beispiel. Da musste ich bei Kerzenschein mit einem Unteroffizier Wache halten. Wir tranken Mate und nach einer Weile unterhielten wir uns etwas vertrauter. Er erzählte mir, dass er keinen Sinn mehr darin sehe, in dieser Einheit zu dienen, der Sold sei so niedrig. Er werde lieber irgendein Geschäft mit Lastwagen auf die Beine stellen. Das Geld für die Wagen hatte er bei Plünderungen in der Zeit der Diktatur »verdient«. Das lief so: Wenn sie politische Gefangene machten, haben sie deren Wohnungen gleich komplett mit ausgeräumt. Man kann wirklich von systematischen Plünderungen sprechen, es rückte ein Lastwagen an und ... alles, alles haben sie sich genommen und dann verkauft, oder verschenkt – unter den einfachen Soldaten, wie im Krieg. Den Soldaten sah ich wenig später tatsächlich nicht wieder. Und noch etwas fiel mir auf: Ein anderer Unteroffizier, der in Nunca Más konkret beschrieben worden war als jemand, der gefoltert hatte, arbeitete noch immer dort, am selben Ort! Nur diente die Baracke, die das Gefängnis für politische Opfer gewesen war – die Fenster bis auf einen kleinen Spalt zugemauert – nun als eine Art Materiallager. Und er verwaltete es.

Das heißt: Man wusste längst viel darüber, was wo passiert war, aber trotzdem ließ man viele Leute einfach weiterarbeiten!

Stahl
Wie haben die Militärs Sie spüren lassen, dass sie an Ihrer Loyalität zweifelten?

Rafecas
Es war schon eine sonderbare Zeit. Nachts und vormittags war ich in der Kaserne, am Nachmittag aber ging ich in die Uni. Ich habe kein Urlaubssemester genommen, ich habe sieben Scheine gemacht! Die Militärs wussten, dass ich Jura studierte und ich galt als jemand, der eher demokratisch eingestellt war, links, vielleicht sogar Aktivist. Ich habe einfach weitestgehend den Mund gehalten, um in Ruhe gelassen zu werden – und ich wurde in Ruhe gelassen. Sie haben mir ja sogar erlaubt, weiter zu studieren, eigentlich kann ich mich wirklich nicht beschweren. Wobei: Die meisten der jungen Offiziere dort, hatten zwar noch nicht während der Diktatur gedient, aber sie hatten die antiliberale, antidemokratische Ausbildung aus jener Zeit genossen. Am Eingang zur Kaserne gab es beispielsweise eine Wandzeitung. Was da aufgehängt wurde! Nur Artikel aus ultrarechten, ultrakatholischen Blättern, die über eine vermeintliche jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung berichteten! Diese Kaserne bestätigte jedes Klischee.

Stahl
Wie sahen die Soldaten die argentinische Vergangenheit?

Rafecas
Nun ja, darüber wurde einfach nicht gesprochen, den 18jährigen Rekruten fehlte das nötige Niveau. Neunzig Prozent der Unterhaltungen drehten sich um alltägliche Fragen und Kleinigkeiten. Neben der Kaserne aber war ein Autokino. Eines Abends mussten wir zu einer Art Sonderübung raus und der Offizier hob zu einem längeren Monolog an, es ging um die Übel des Kommunismus. Und im Hintergrund, auf der riesigen Leinwand, lief ausgerechnet La Historia Oficial, jener berühmte Spielfilm über die gewaltsame Vergangenheit meines Landes. Vorne also der Offizier, hinten die Madres de la Plaza de Mayo. Dieses Bild hat sich mir eingebrannt: die zwei Argentinien. Das Argentinien, das noch immer in den Kasernen überlebte, und das Argentinien, in dem langsam eine neue Gesellschaft entstand.

Stahl
Aber gab es denn schon Anzeichen dafür, dass gerade aus Ihrer Kaserne heraus ein Putschversuch stattfinden würde?

Rafecas
Ja, man merkte, es wurde etwas geplant: Es gab Besprechungen, eine gewisse Nervosität. Als der Prozess gegen die Junta begann, müssen die Leute, die damals während der Diktatur die mittlere Befehlsgewalt darstellten, jetzt aber Einheiten leiteten, Angst gekriegt haben, auch vor Gericht gestellt zu werden, und so entschlossen sie sich, zu putschen, um einer Verurteilung zuvor zu kommen. Heute wissen wir sehr genau, wer wann was organisierte, aber damals wussten wir einfachen Soldaten das nicht.

Stahl
Und es sprach auch niemand mit Ihnen über die Pläne?

Rafecas
Nein, sie haben uns nicht vertraut, weil wir keine Berufssoldaten waren, die diesen Karriereweg aus Überzeugung eingeschlagen hatten. Trotzdem zählen gerade die einfachen Soldaten heute zu unseren besten Zeugen über die Militärdiktatur. Sie mussten manchmal mit zu den »operativos«, zu den illegalen Einsätzen gegen die »subversivos«, die politisch Subversiven, diese Einsatzkommandos, bei denen geplündert, verschleppt und gemordet wurde. Die einfachen Soldaten aber fühlten sich oft nicht dem Militär zugehörig und sie wurden ja auch oft von den Offizieren schlecht behandelt, eingeschüchtert und dazu gezwungen, mitzukommen. Bei den Einsätzen spielten sie dann nur eine untergeordnete Rolle, indem sie beispielsweise den Häuserblock umstellten und bewachten.

Stahl
Kommen wir noch einmal auf Ihre Biographie zurück: Weshalb haben Sie Jura studiert?

Rafecas
Schon als kleiner Junge interessierte ich mich für Fragen der Gerechtigkeit innerhalb der Familie. Ich bin der älteste von vier Geschwistern und galt als unbestechlich, wenn es darum ging, etwas zu verteilen. Mein Vater und meine Geschwister nannten mich sogar »el juez justo«, der gerechte Richter, als ich etwa zehn Jahre alt war.

Stahl
Hatte ihr Entschluss, später Jura zu studieren, auch etwas mit der politischen Situation Argentiniens zu tun?

Rafecas
Ja, aber auch als Jugendlicher faszinierte mich die Frage: Was ist gerecht? Und die autoritären Staatsmodelle waren eindeutig nicht gerecht mit Blick auf ihr wirtschaftliches, politisches, soziales Denken. Das empörte mich. Was meine beruflichen, wissenschaftlichen Aktivitäten antreibt, ist diese Empörung. Insbesondere wenn eine Gefahr, eine Gewalt vom Staat ausgeht, wie es während der Diktatur besonders ausgeprägt war. Das wurde mir klar, als ich 1985/86 Nunca Más las und der Prozess gegen die obersten Militärs begann.

Stahl
Haben Sie an einer Verhandlung teilgenommen?

Rafecas
Nein, da rein zu kommen war sehr schwierig, es gab wenige Besucherplätze. Und es wäre einem einfachen 18jährigen Jungen auch nicht eingefallen, sich darum zu bemühen. Der Gerichtssaal war etwas sehr Fernes. 

Stahl
Erinnern Sie sich, ob Sie über das Buch Nunca Más an der Universität, mit Freunden oder innerhalb der Familie diskutiert haben? 

Rafecas
Aber ja! Wir waren allerdings nicht sehr viele, die sich für die Prozesse aussprachen. Als die Diktatur beendet war, entfalteten sich mehrheitlich Diskurse über das Vergessen und die Straflosigkeit. Man negierte oder rechtfertigte den staatlichen Terror. Diese Diskurse wurden vor allem auch über die großen Medien verbreitet: Man müsse dieses Kapitel beenden und nach vorne schauen, nicht zurück; man müsse sich mit dem schmutzigen Krieg versöhnen, es habe eben diese zwei Dämonen gegeben[7] ... dieser Diskurs war damals hegemonial. Wer, wie ich, anders dachte, war in der Minderheit. Selbst unter den jungen Leuten, selbst an der Universität.

Stahl
Mit welchen Argumenten stellten Sie sich diesem Diskurs entgegen?

Rafecas
Nun, es hieß ja, dass es darum gehe, sich zu beruhigen, sich über die Jahrzehnte wieder anzunähern. Aber angesichts der Verbrechen, die begangen worden waren, gab es meiner Ansicht nach keinen anderen Weg als den, die Verbrechen aufzuklären und zu bestrafen. Alles andere ist ein fauler Kompromiss. Heute ist diese Ansicht mehrheitsfähig, aber vor dreißig Jahren und über lange Zeit hinweg war sie es nicht. 

Stahl
Hatten Sie damals Kontakt mit Menschenrechtsaktivisten oder Opfern?

Rafecas
Nein. Als ich 2004 Richter wurde und mich der Fälle annahm, war meine Unabhängigkeit gerade dadurch gesichert, dass in meiner Familie weder jemand während der Diktatur verfolgt worden oder in die Diktatur verstrickt gewesen wäre. Ich selbst gehöre schon einer Generation an, die zu jung war, um von dieser Zeit kontaminiert oder konditioniert worden zu sein.

Die Verabschiedung der Amnestiegesetze war ein Moment der Enttäuschung und Verzweiflung, weil die ganze politische Klasse dahinterstand.

Stahl
Und wie war es damals für Sie, als die Gesetze des punto final oder der obediencia debida[8] verabschiedet wurden, sprich als klar war, dass es keine gründliche Strafverfolgung der Täter geben würde?

Rafecas
Das war ein Moment der Enttäuschung und Verzweiflung, weil die ganze politische Klasse dahinterstand, nicht nur eine Partei. Mehr noch: Der oberste Gerichtshof segnete diese Gesetze auch noch ab. Alle demokratischen Kräfte unterstützten diesen Kurs, es war wie ein riesiger Staudamm, ein Damm der Straflosigkeit. Die einzigen, die noch immer für einen anderen Weg kämpften, waren die Menschenrechtsorganisationen, die die Opfer und ihre Angehörigen vertraten.

Stahl
Und in dieser Zeit wurden Sie Gerichtsbeamter?

Rafecas
Im Grunde arbeitete ich seit 1987 bei Gericht und seit 1995 als Dozent an der rechtswissenschaftlichen Fakultät. Bis ich 2004 Richter wurde, hatte keiner meiner Posten mit den Verbrechen der Diktatur zu tun. Aber als Wissenschaftler schon, denn ich spezialisierte mich innerhalb des Strafrechts auf Folterverbrechen und illegale Festnahmen, dazu wurde ich 2002 promoviert. 

Ebenfalls 2002 habe ich mich an das Holocaust-Museum in Buenos Aires gewendet und begonnen, mich stark mit der Geschichte der Shoa, mit dem Nationalsozialismus zu beschäftigen. Beides konnte ich für meine Untersuchungen über den Staatsterror in Argentinien während der Diktatur gebrauchen. Es erscheint also rückblickend so, als ob ich mich unterbewusst auf das Amt vorbereitet hätte, das ich 2004 übernahm.

Stahl
Wie kamen Sie darauf, sich als Wissenschaftler mit der Folter zu beschäftigen? 

Rafecas
Nun, die tieferen Gründe kenne ich nicht, aber mich beschäftigte einfach immer das Thema Gewalt von Staaten gegen die Bürger. Der Nationalsozialismus und die argentinische Militärjunta sind da einfach zwei extreme Ausprägungen. Ich finde, man kann sich nicht genug damit beschäftigen, sich dafür sensibilisieren, sich über die Geschehnisse in autoritären Staaten empören. Ich versuche, mich da jeden Tag weiterzubilden, gerade lese ich zum Beispiel Nikolaus Wachsmanns Buch KL über die Konzentrationslager.[9]

Stahl
Was war der Anlass, sich so intensiv mit dem Holocaust zu beschäftigen?

Rafecas
Das lag an Schindlers Liste, dem Film. Ich hatte schon viel über den Nationalsozialismus gelesen, aber als ich diesen Film gesehen hatte, sagte ich mir: »Ich muss noch mehr tun.« Ich leitete damals eine kleine Abteilung mit zehn Mitarbeitern, die alle ziemlich jung, aber auch ziemlich unterschiedlicher politischer Meinung waren. Nachdem ich den Film gesehen hatte, sagte ich zu ihnen: »Morgen gehen wir ins Kino!« Mir schien, dass alle Welt diesen Film sehen müsste. Wenig später sprach ein Überlebender im Holocaustmuseum von Buenos Aires. Und danach habe ich dann angefangen, mich im Museum zu engagieren, ja bis heute schleppe ich jedes Jahr meine Studenten dorthin und wir diskutieren über diese Zeit und die Prozesse in einer Aula des Museums. 

Stahl
Warum war das für Sie so wichtig?

Rafecas
Es gibt ein Verbindungsglied zwischen dem Holocaust und der Repression unter der argentinischen Militärjunta, und das ist der Antisemitismus und Rassismus. Ich würde meinen, dass das argentinische Militär durchaus vom Nationalsozialismus inspiriert worden ist. Insbesondere, was die Logik einer Endlösung betrifft. Das ist ja auch keine Erfindung der Nazis, nicht wahr? Denken wir etwa daran, was die Türken mit der armenischen Minderheit gemacht hat ... es gibt also eine direkte Verbindung zwischen der Endlösung der Judenfrage im Europa der Nazis und einer Endlösung in der Frage der Subversion oder der linken Organisationen in Argentinien während der siebziger Jahre. Das heißt, nachdem das NS-Regime verschiedene Strategien ausgelotet hatte – die Emigration, die Ausbürgerung an einen isolierten Ort wie Madagaskar und so weiter, entschloss es sich letztlich zur physischen Vernichtung. Diese Logik gibt es im argentinischen Falle auch: Man wollte die Linken vernichten, physisch, mit massiven Methoden. Ein anderer Berührungspunkt ist natürlich auch der Aufbau von Lagern auf dem Staatsgebiet: Überall in Argentinien entstanden ab 1976 centros clandestinos, Geheimgefängnisse, geheime Folterzentren, die durchaus das Universum der Konzentrationslager wiederherstellten, Orte der Entpersönlichung, der Entmenschlichung. Wer dort gefangen ist, verliert absolut alle Rechte und meist auch sein Leben. Auch antisemitische Aspekte waren in den Folterzentren an der Tagesordnung, das haben wir mittlerweile juristisch zeigen können.

Stahl
Ja, das konnte man bereits im Nunca Más-Bericht lesen. 

Rafecas
Genau. Zwar wurde in Argentinien damals niemand ausschließlich aus rassistischen Gründen verfolgt, auch nicht als Jude. Die Verfolgung hatte nur politische Motive. Aber wer in einem centro clandestino als jüdisch demaskiert wurde, war einer doppelten Folter ausgesetzt, wurde antisemitisch beschimpft und mit noch höherer Wahrscheinlichkeit ermordet. Für mich als Nichtjuden gilt: Wenn es so etwas gibt wie eine Berufung zum Juristen, dann ist die Shoah etwas, was einen nicht unberührt lassen kann. Es muss einen erschüttern, was dort passiert ist.

Stahl
Mehr noch als die Verbrechen der Militärjunta?

Rafecas
Mehr. Der Staatsterrorismus zeichnete sich ebenfalls durch ein ungeheures Maß an Ungerechtigkeit aus, aber nicht auf solch eine absolute Weise. Es gab zumindest eine gewisse Logik, in der rechtstaatliche Praktiken wie Anklage und Verurteilung eine Rolle spielten. Das macht die Ungerechtigkeit nicht besser, unterscheidet sie jedoch von dem, was die Nationalsozialisten taten.

Eine der ersten Entscheidungen, die ich traf, war es, die Untersuchungen zu einem Dutzend großer Folterzentren in meinem Zuständigkeitsbereich wiederaufzunehmen.

Stahl
Lassen Sie uns einen Sprung machen, in die Jahre 2003/2004, als die Zeit der Straflosigkeit endete. Wie wurden Sie als Richter ernannt?

Rafecas
Im Jahr 2001/2002 habe ich an mehreren Auswahlverfahren für Richterposten teilgenommen. Damals hatte sich eigentlich niemand auch nur vorstellen können, dass sich die Situation im Umgang mit der Diktatur ändern würde. Das Auswahlverfahren zog sich bis 2003/2004 hin. Als Néstor Kirchner zum Präsidenten gewählt wurde, respektierte er das Auswahlverfahren und ich wurde nominiert. Trotzdem war es Schicksal, dass ich genau auf diesem Posten, bei diesen Fällen landete. Es gab vier Richterämter zu vergeben, ich hätte auch in einem anderen Bereich landen können, aber ich erwischte eben genau diesen Posten. Und es gab viel zu tun, gerade weil der Fall seit 1987 brachlag. Man musste ihn auf tausend verschiedene Arten wiederaufnehmen. Das war die Herausforderung, als ich im Oktober 2004 mein Amt antrat. 

Stahl
Was waren Ihre ersten Schritte im Amt?

Rafecas
Eine der ersten Entscheidungen, die ich traf, war es, die Untersuchungen zu einem Dutzend großer Folterzentren in meinem Zuständigkeitsbereich wiederaufzunehmen. Das Dringlichste war, so auf die Anfragen der Opfer, der Überlebenden zu reagieren, die beschrieben, wie sie ihre Peiniger in der Stadt trafen: In der Schlange vor der Bank, im öffentlichen Nahverkehr, im Park, an den Schultoren. Könnte es etwas Dringenderes geben, als die Täter von den Straßen zu holen? Jedes Wiedersehen bedeutete für die Opfer eine erneute Erniedrigung. Und außerdem: Kann es ein deutlicheres Bild für die Straflosigkeit geben, als dass man demjenigen im Alltag begegnet, der einen vergewaltigt und gefoltert, die geliebten Angehörigen umgebracht hat? Mir war, als hätte ich mich mein Leben lang auf diese Aufgabe vorbereitet, verstehen Sie? Meine ganze Ausbildung, meine Lebenserfahrung – ich sollte dieses Amt übernehmen, diese Fälle bearbeiten. Und ich werde seit bald 14 Jahren nicht müde, ich mache weiter. Und gut, wir haben viel geschafft. Sehr viel. 

Stahl
Anfangs war es ja nicht klar, ob der Senat und der Oberste Gerichtshof Kirchner folgen und die Straflosigkeit kippen würden. Wie sind Sie mit dieser Ungewissheit umgegangen?

Rafecas
Ich habe darüber nicht spekuliert. Ich war der zuständige Richter dieser Fälle, ich hatte es in der Hand, ob es vorwärtsging, ob bestimmte Leute verhaftet wurden. Mich hat nicht interessiert, was der Senat oder der oberste Gerichtshof entscheiden würden. Ich war durch ein Auswahlverfahren zum Richter ernannt worden und musste mich an die Verfassung halten. Ich hatte meine Arbeit zu tun, da konnte mich niemand aufhalten. Das ist ein starker Augenblick. Ich hatte einen klaren Fokus, ich wollte die Türen aufstoßen und damit anfangen, diese Vergangenheit zu überprüfen. Schon vor Jahresende 2004 hatte ich 20 Verhaftungen angeordnet, es ging um das größte Folterzentrum, den Club Atlético del Banco del Olimpo, und es betraf Leute, die in der ganzen Zeit nach der Diktatur nicht angerührt worden waren, also auf ihren hohen Posten hatten bleiben dürfen, ja diese teilweise noch innehatten. Plötzlich mussten sie hinter Gitter. Und da sind sie bis heute, verbüßen lange Haftstrafen. Es ist mir wirklich nicht in den Sinn gekommen, in der Sache über die politische Großwetterlage zu spekulieren, vielleicht war ich ein bisschen beschränkt. Aber ich hatte da einfach keine Zweifel und fertig. Und ich habe mich ja auch nicht getäuscht! Bis heute nicht. Wobei das Urteil des obersten Gerichtshofes 2005, der ein Urteil über die Causa Simón fällte, natürlich einen enormen Rückhalt bedeutete.[10] 

Stahl
Wie haben Ihre Kollegen reagiert? Wie wurde die Wiederaufnahme der Strafverfolgung diskutiert?

Rafecas
Die Justiz stand dem insgesamt gar nicht so wohlwollend gegenüber, die strafrechtlichen Untersuchungen über die Zeit der Diktatur wiederaufzunehmen. Das hatte vor allem arbeitsökonomische Gründe, denn es bedeutete eben jede Menge Arbeit, eine gigantische Menge. Die juristische Zunft besteht vor allem aus Bürokraten. Die wollen früh nach Hause gehen, Tennis spielen oder Golf, die wollen so wenig arbeiten wie möglich. Die Wiederaufnahme dieser Fälle aber war wie eine Bedrohung, weil sie alle zu überaus viel Arbeiten verdammen würde, bis der Gesellschaft Gerechtigkeit widerfahren wäre. Die meisten wollten das nicht. Sie wollten nicht. Ich erinnere mich wie höher gestellte Kollegen mich fragten: »Was machst du da? Warum dieser Enthusiasmus, warum dieser Elan? Das bringt uns alle an einen Wendepunkt. Warum drosselst du nicht ein bisschen die Geschwindigkeit? Willst du dich profilieren, willst du eine politische Karriere machen? Was ist es, das du suchst?« Sie haben nicht verstanden, dass es mir um die Opfer ging. Das ging ihnen nicht in den Kopf. Und dann sagten etliche – Kollegen, aber vor allem sagten das die Angeklagten: »Hör mal, das ist doch in einem Jahr alles wieder vorbei, dann wird alles wieder wie früher. Und dann wirst du unangenehmen Fragen ausgesetzt sein, weil du dich für die Sache eingesetzt hast.«

Wenn ich den Haftbefehl aussprach – gegenüber diesen unantastbaren, mächtigen Leuten – saßen sie mir gegenüber und sagten: »Heute bist du hier der Richter und ich der politische Gefangene. Aber in keinem Jahr wird sich das umdrehen und dann bin ich dein Richter. Das wird nicht lange dauern, vielleicht noch bis zu den nächsten Wahlen, aber dann kommen wir wieder an die Macht.« Das sagten sie und das sagen sie immer noch, obwohl sie teilweise schon dreizehn Jahre im Gefängnis sitzen. Trotzdem hat mich das nicht eingeschüchtert. Nicht ein einziges Mal. Ich war überzeugt davon, dass das mit der Strafverfolgung nun von Dauer sein würde. Und so war es auch. 

Stahl
Aber gab es auch Kollegen, die Sie unterstützt haben?

Rafecas
Ja klar, natürlich – in Buenos Aires, in La Plata... An vielen Orten gab es Staatsanwälte und Richter, die sich dadurch hervorgetreten sind, dass sie sich mit den Fällen aus der Zeit der Diktatur beschäftigt haben. Ja, es gab viele. Zum Glück!

Stahl
Sind die Menschenrechtsorganisationen auf Sie zugekommen? Wann war das?

Die ersten Treffen waren ziemlich haarig, weil sie mir deutlich zu verstehen gaben, dass sie Ergebnisse erwarteten.

Rafecas
Die ersten Treffen fanden unmittelbar nach meinem Amtsantritt statt, als sie mitbekamen, dass da jetzt jemand diese Arbeit in Angriff nahm. Damals gab es bei mir am Gericht etwa dreißig Gerichtsbeamte, die die Fälle abarbeiteten. Für die Militärverbrechen aber hatte ich formal nur zwei Leute. Ich habe es dann auf sechs Beamte erhöht, später wurde es zehn und jetzt sind es etwa 14. Als die Menschenrechtsanwälte das mitbekamen, wurde ihnen klar, dass es mir ernst war, dass ich Fortschritte machen wollte. In den letzten 14 Jahren ist die Gruppe der Menschenrechtsaktivisten immer stärker und einflussreicher geworden. Wenn ich attackiert wurde, haben sie mich unterstützt. Ich fühle mich ein bisschen als Teil dieses Kollektivs, ohne dass dies meine Unvoreingenommenheit, meine Unparteilichkeit trüben würde.

Sie wissen, dass ich jede Menge Sympathien für sie und eine Menge Abneigung gegen die Täter habe, aber sie wissen auch, dass ich mich als Richter nicht einen Millimeter bewege und keinen Prozess anstrenge, wenn ich keine Beweise habe. Das respektieren sie. 

Stahl
Erinnern Sie sich an diese ersten Treffen mit den Menschenrechtsaktivisten? Können Sie davon erzählen?

Rafecas
Als ich mein Amt antrat, waren die Opferverbände ziemlich sauer auf das Justizsystem. Deswegen dachten sie erst, dass ich auch einfach nur noch ein weiterer Bürokrat sei, der etwas verspricht, das er dann nicht halten kann. Die ersten Treffen waren ziemlich haarig, weil sie mir deutlich zu verstehen gaben, dass sie Ergebnisse erwarteten. Die habe ich mittlerweile geliefert und sie wissen auch, dass sie immer einen Termin kriegen, dass sie kommen können, dass ich sie anhöre. Ihnen imponiert auch, dass wir in unseren Urteilsbegründungen die Geschichte des sozialen Engagements der Opfer rekonstruieren.

Stahl
Können Sie Beispiele für diese historische Rekonstruktion linker Organisationen geben? Warum ist das so wichtig?

Rafecas
Das ist sehr wichtig, weil es hilft, die Beweggründe der Diktatur zu erklären, warum man sie verfolgt hat. Jemand gehörte zu Partei A, zu Organisation B, zu einem Intellektuellenzirkel C... Indem wir die Vergangenheit des jeweiligen linkspolitischen Engagements rekonstruieren, generieren wir Beweise, dass seine Verhaftung, sein Verschwinden mit seiner politischen Einstellung zusammenhängt, verstehen Sie? So lässt sich auch untermauern, dass es sich um organisierte Menschenrechtsverletzungen handelte.

Stahl
Stimmt es, dass man in Argentinien auch nach Ende der Militärdiktatur lange nicht über solch linkes politisches und soziales Engagement sprach? Dass dem Thema ausgewichen wurde, weil man nicht wusste, wie es aufgefasst würde? Wie haben sie das wahrgenommen?

Rafecas
Das stimmt, durch unsere Rekonstruktionen – vielleicht kann man wirklich sagen, dass wir da Pioniere waren – haben wir ab 2005 angefangen, Opfergruppen zu unterscheiden, sie den politischen Organisationen zuzuordnen. Viele dieser Organisationen wurden von der Diktatur ausradiert, sie verschwanden aus der Geschichte. Wir wussten nichts mehr über sie, bis wir mit den Nachforschungen anfingen. Elisabeth Käsemann[11] zum Beispiel gehörte einer Organisation an, die von den Militärs vollkommen auseinandergenommen, zerstört, mundtot gemacht wurde. Sie hieß OCPO - Organización Comunista de Poder Obrero. Die meisten ihrer Mitglieder wurden, wie Käsemann, ermordet. Es gibt praktisch keine Dokumente, wir wussten fast nichts darüber, wie sich die Organisation von ihrer Gründung in den sechziger Jahren bis zum bewaffneten Kampf in den siebziger Jahren entwickelt hatte. Aber wir versuchen so viel wie möglich herauszufinden, und das dokumentieren wir dann – Seite für Seite. Die OCPO hatte später auch einen bewaffneten Flügel, dem Käsemann allerdings nie angehörte.

Stahl
Wie reagieren die Opfer auf diesen Teil Ihrer Arbeit?

Rafecas
Dass die Justiz sich solche Mühen machen würde, waren sie nicht gewöhnt. Für die Opfer ist das von unschätzbarem Wert, denn es erkennt die Organisationen von damals ja auch als Teil der argentinischen Demokratielandschaft an, als Arbeitervertretung, Studentenvertretung, als Spiegel der Besitzverhältnisse und so weiter. Und wie gesagt, es geht darum zu verstehen, nach welcher Logik die Diktatur vorgegangen ist. So haben wir zum Beispiel die Geschichte des Krankenhauses Las Posadas bis in die dreißiger Jahre zurückverfolgt, ein sehr prestigeträchtiges Krankenhaus in einem Vorort von Buenos Aires. Die Militärs hatten die Vermutung, dass sich dort ein Nest von Kommunisten befände und so gab es wenige Tage nach der Machtübernahme Ende März 1976 einen Militäreinsatz, als wäre man in Vietnam: Hubschrauber, Panzer, Soldaten – ein Angriff auf ein Krankenhaus! Da bekamen Frauen gerade Kinder! Sie haben dann dort ein Folterzentrum errichtet. 

Die Geschichte des Krankenhauses zeigte: Seit der Zeit Peróns[12] war dies ein Krankenhaus für das Volk, für die Arbeiter. Es war ein Sinnbild für den Widerstreit zweier Gesellschaftsmodelle: Ein horizontales, das die Arme öffnet, für Gleichheit steht. Und das andere vertikal, autoritär, eines, das eine gute Gesundheitsversorgung der unteren Schichten beispielsweise ablehnt. Während man diese Fälle untersucht, lernt man eine ganze Menge über die jüngere Geschichte Argentiniens jenseits der konkreten Vorkommnisse, die man analysieren muss. Das hat unsere Arbeit stets sehr bereichert und es wurde eben gerade auch von den Opfern sehr geschätzt, wenn sie dann die Anklageschriften und Urteilsbegründungen mit den historischen Exkursen lasen.

Stahl
Könnten Sie ein paar konkrete Zahlen Ihrer Arbeit nennen? 

Rafecas
In meinen Bereich fallen etwa 10.000 Geschädigte. Von ihnen wurden bereits 2000 bis 3000 als Opfer juristisch anerkannt. Zugleich gab es hunderte, vielleicht tausende Täter, von denen ich etwa 200 bis 250 den Prozess machen konnte, Täter aller Ebenen. Mein Bereich ist, was die Strafverfolgung der Diktatur betrifft, der größte in Argentinien was die Zahl der Opfer, die Zahl der Täter und die Zahl der Folterzentren betrifft. In meinem Fall sind das allein um die fünfzig.

Stahl
Woraus definiert sich Ihr Zuständigkeitsbereich? Ist es das Stadtgebiet von Buenos Aires?

Rafecas
Ja, und mehr. Um die Unterdrückung voranzubringen, teilte die Junta Argentinien in fünf Zonen für Militäroperationen auf. Die erste Zone umfasste die gesamte Millionenstadt Buenos Aires, was allein schon viel ist, und noch ein gutes Stück der Umgebung, vor allem im Norden und Westen. Dazu kam die gesamte Provinz La Pampa sowie ein Teil der Provinz Buenos Aires. Ein riesiges Gebiet, in dem sich die Unterdrückungsmaßnahmen stark entfalten konnten: Es entstanden etwa fünfzig Folterzentren, zwanzig davon in der Metropole Buenos Aires, manche größer, manche kleiner. Die anderen dreißig waren auf das restliche Gebiet der ersten Zone verteilt, vor allem im östlichen Großraum von Buenos Aires. Etwa 10.000 Menschen waren dort interniert, wurden gefoltert, ermordet, ihre Habe von Einsatzkommandos geplündert. In meinem Zuständigkeitsbereich untersuche ich also all diese Fälle von Unterdrückung und Verfolgung in diesem Gebiet, sofern sie von der Armee und der Luftwaffe gesteuert wurden. Ausgenommen ist das, was die Marine gemacht hat, das ist ein anderer Fall, der Fall ESMA.[13]

Unsere Aufgabe war es, zu rekonstruieren, was in jedem einzelnen dieser Folterzentren passiert ist. Wir sind auch in jedes einzelne gefahren und haben mithilfe der Opfer die Orte identifiziert, haben Fotos gemacht, gefilmt. Und wie gesagt: Etwa 250 Verdächtige sind schon verhaftet und verurteilt oder die Hauptverhandlung steht unmittelbar bevor. So sieht es mehr oder weniger aus.

Stahl
Bei diesen Verfahren stellen sich jede Menge juristischer Fragen, vor allem nach einer solch langen Zeit der Amnestie. Gab es einen Ort an dem sich die zuständigen Richter haben treffen und austauschen können? Konferenzen zum Beispiel?

Rafecas
Ja, aber das geschah früher, etwa zwischen 2001 und 2004, anhand des Falles Julio Simón, angetrieben in erster Instanz vor allem durch einen Richter namens Gabriel Cavallo.[14] Seine Argumentation in diesem Fall hat quasi einen Spalt in diesem Staudamm der Straflosigkeit verursacht, der Fall Simón war wie ein Sturzbach. Wir haben dann dazu Seminare und Debatten veranstaltet, aber die rechtlichen Grundlagen existierten schon dank der Arbeit der Kollegen.

Stahl
Ab wann gab es eine internationale Resonanz darauf, dass sich in Argentinien der Umgang mit der Militärdiktatur verändert?

Rafecas
Das begann, als wir die centros clandestinos untersuchten, in denen auch Gefangene aus anderen Staaten misshandelt worden waren, etwa in El Olimpo, El Vesubio oder La Mansión Seré. 2005/2006 konnten wir Haftbefehle ausstellen, 22 für El Olimpo, 14 für El Vesubio und zwölf für La Mansión Seré. Zunächst nahmen die argentinischen Medien davon Notiz, dann die internationalen. Und dann wurde auch von den Hauptverhandlungen berichtet.

Stahl
Den Fall der Deutschen Elisabeth Käsemann haben Sie ja bereits erwähnt. Gab es andere, vergleichbare Fälle aus anderen Ländern?

Rafecas
Die Diktatur in Uruguay[15] hatte ein paar Militärs in Argentinien installiert, die Bürger aus Uruguay in Argentinien verfolgten und in argentinischen centros clandestinos folterten. Als das herausgefunden wurde, hat es in Uruguay eine enorme Resonanz ausgelöst, auch weil die Militärdiktatur in Uruguay damals noch nicht aufgearbeitet wurde. Darüber hinaus wissen wir, dass es einige Gefangene bolivianischer, chilenischer und spanischer Herkunft gab. Auch Spanier und Italiener. Und dann natürlich der Fall der französischen Nonnen, aber der gehörte nicht in meinen Bereich, sondern zum Fall ESMA.[16]

Stahl
Sind die Justizbehörden anderer Staaten an Sie herangetreten?

Rafecas
Ja, die ganze Zeit. Da hatte ich immer viele Besucher. Im Falle Käsemann stand ich zum Beispiel mit Kollegen aus Nürnberg in Kontakt, die sich davon überzeugen wollten, dass wir den Fall in ernster Weise voranbrachten. Als sie sich davon überzeugt hatten, haben sie ihre Ermittlungen eingestellt. Und mittlerweile gibt es ja etwa ein Dutzend Verurteilte in dem Fall. Außerdem sind noch weitere Verhandlung in Vorbereitung, das heißt, am Ende wird es 25 oder 30 Verurteilte im Fall Käsemann geben. Nicht nur in Nürnberg, auch in Spanien oder Rom gab es Ermittlungen in Abwesenheit der Täter, die nun nicht weitergeführt werden, da Argentinien endlich beschlossen hat, sich seiner Vergangenheit juristisch zu stellen.

Unter den Kirchners gab es eine aktive Politik für mehr Wahrheit, mehr Gerechtigkeit in der Sache. Mit der Regierung Macri sind wir in ein Stadium der Neutralität übergegangen. Nicht ins Negative, ins Neutrale.

Stahl
Vor zwei Jahren wurde Christina Kirchner abgewählt und mit Mauricio Macri[17] ist nun wieder ein rechtskonservativer Politiker Präsident. Wie hat sich Ihre Arbeit durch den Regierungswechsel in Argentinien verändert?

Rafecas
Als ich 2004 ins Amt kam, war ich optimistisch, was die Rahmenbedingungen anbetraf. Das bin ich noch immer. Meine Kollegen sind es nicht. Aber ich bin überzeugt davon, dass wir weitermachen können. Und ich mache in der Tat auch einfach weiter. Gerade vor vier Wochen ließ ich zwölf Polizisten verhaften, weil sie drei illegale Einsätze zu verantworten haben, bei denen Leute ermordet wurden. Bevor ich hierher reiste, unterschrieb ich Haftbefehle gegen sechs ehemalige Offiziere eines Regiments, das Mitglieder der PRT[18] verschleppt hat. Ich mache also weiter, als ob nichts geschehen wäre. Und es ist ja auch nichts geschehen, zumindest nicht aus meiner beruflichen Perspektive. Die Regierung mag rechts-konservativ sein, aber mir hat sie noch keine Mittel gekürzt oder mir sonst etwas in den Weg gestellt. Meine Kollegen sind dieselben, meine Vorgesetzten, die Staatsanwälte. Die Anklagen werden bestätigt, ich eröffne Prozesse. Nein, aus Sicht meiner Arbeit ist alles wie vor zwei Jahren auch. 

Stahl
Ich habe vor ein paar Wochen mit einem Menschenrechtsanwalt aus Patagonien gesprochen. Er sagte mir, dass Institutionen, die wichtige Arbeit bei der Sammlung von Beweismaterial geleistet haben, durch die neue Regierung massiv die Mittel gekürzt worden seien.

Rafecas
Ja, ich habe vor allem für mich und von meiner Arbeit gesprochen. Insgesamt würde ich sagen, dass es unter den Kirchners eine aktive Politik für mehr Wahrheit, mehr Gerechtigkeit in der Sache gab. Mit der Regierung Macri sind wir in ein Stadium der Neutralität übergegangen. Nicht ins Negative, ins Neutrale. Die Regierung ist rechtskonservativ und fährt einen harten Sparkurs bezüglich aller Ausgaben der öffentlichen Hand – das betrifft nicht allein die Menschenrechtsorganisationen, sie machen das auch mit dem Sozialetat, mit dem Nahverkehr... Es ist einfach eine rechte Regierung, die denkt, das wäre nicht wichtig. Mit der vorherigen Regierung konnte ich mich identifizieren, mit dieser nicht, aber es wäre nicht richtig, zu behaupten, dass sie gegen mich wären. Sie wahren die Unabhängigkeit der Justiz.

Stahl
Was würden Sie sagen, waren die wichtigsten gesellschaftlichen Auswirkungen, die die Gerichtsprozesse gegen die Militärs hatten?

Rafecas
Die Arbeit der Menschenrechtsorganisationen und die Gerichtsprozesse haben die öffentliche Meinung komplett verändert. Jetzt, wo die Argentinier viel mehr über den Staatsterror wissen, von den Verfolgungen, Vergewaltigungen, Folterungen, Morden gehört haben, ist die Empörung gegenüber den Tätern so enorm, dass die Mehrheit die Strafverfolgung befürwortet. Das konnten Sie am 10. Mai diesen Jahres eindrucksvoll sehen: Der oberste Gerichtshof hatte einem Antrag von Luis Muñia, einen Folterer, stattgegeben, seine Haft zu reduzieren, indem ab einem gewissen Punkt jeder Tag im Gefängnis als zwei Tage auf sein Strafmaß angerechnet würde. Dieses sogenannte Zwei-für-Eins-Gesetz gibt es aber eigentlich seit 2001 nicht mehr. Gegen diese Entscheidung des Obersten Gerichtshofes, die mit drei zu zwei Stimmen gefällt wurde, gab es eine Welle der Empörung, Hunderttausende gingen am 10. Mai dagegen auf die Straße. Vor allem in Buenos Aires war es so beeindruckend, ich kann es gar nicht in Worte fassen. Es war wirklich ein soziologisches Phänomen. Alle Erwartungen wurden übertroffen, Menschen aller politischen Orientierungen protestierten gemeinsam, auch Macris Wähler. Alle winkten mit den symbolischen weißen Taschentüchern, die Madres de la Plaza de Mayo tragen ja immer weiße Kopftücher...

Stahl
Wie hat man in Politik und Justiz auf die Massenproteste reagiert?

Rafecas
Die Entscheidung des Gerichts hatte einen so empfindlichen Nerv getroffen und die Proteste waren so stark, dass sich alle Medien – auch die Konservativen – auf die Seite des Protestes schlugen. Und auch das Parlament reagierte sofort mit einem Gesetz, dass eine Anwendung der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes verhindert. Jetzt kritisiert also quasi die ganze politische Klasse diesen Versuch einer Teilamnestie. Und mit diesen Protesten, diesem Bekenntnis für die Demokratie ist klar, dass die ganze tägliche Arbeit, nicht nur der Justiz, auch der politischen Bildung, dass dies mehr gebracht hat als nur die Täter hinter Gitter. Die Idee eines »Nunca Más« – eines »Nie wieder« – sie ist jetzt fest verankert, vor allem in den jüngeren Generationen. 

Stahl
Vielen Dank für das Gespräch!

Zitation

Lebensgeschichtliches Interview mit Daniel Rafecas, 19.06.2017, in: Quellen zur Geschichte der Menschenrechte, herausgegeben vom Arbeitskreis Menschenrechte im 20. Jahrhundert, URL: www.geschichte-menschenrechte.de/daniel-rafecas/

  1. Nach einem zweijährigen Bürgerkrieg floh Diktator Anastasio Somoza 1979 aus Nicaragua und die links orientierten Sandinisten übernahmen die Regierung. Die sogenannten Contras führten in den folgenden Jahren einen Guerillakrieg, um die Sandinisten zu entmachten.
  2. In El Salvador übernahm 1979 eine Militärjunta die Macht, gegen deren Repression sich schnell bewaffneter Widerstand bildete. Von 1980 bis 1991 erlebte das Land einen Bürgerkrieg mit rund 70.000 Toten.
  3. Néstor Kirchner (1950-2010), argentinischer Politiker des linken Flügels der peronistischen Partei, 2003 bis 2007 Präsident Argentiniens, Ehemann der ihm folgenden Präsidentin Christina Kirchner.
  4. Cristina Fernández de Kirchner (*1953), argentinische Politikerin des linken Flügels der peronistischen Partei, 2007 bis 2015 Präsidentin Argentiniens, Ehefrau des vorangegangenen Präsidenten Néstor Kirchner.
  5. Die Unión Cívica Radical (UCR) ist eine traditionsreiche linksliberale Partei.
  6. Im April 1987 kam es nicht zuletzt in Reaktion auf die steigende Anzahl von Prozessen wegen der Junta-Verbrechen zu einer Militärrebellion, an der sich vor allem mittelrangige Militärs beteiligten. Es gelang der Regierung, sie zur Aufgabe zu bewegen.
  7. Die sogenannte Zwei-Dämonen-Theorie besagt, dass die Gewaltakte des Militärs als Reaktion auf die Gewalt von Links zu deuten und mit dieser gleichzusetzen seien.
  8. Das Schlusspunkt-Gesetz (punto final) und das des Befehlsgehorsams (obediencia debida) bewirkten eine weitgehende Straffreiheit für das Militär und den Stopp der juristischen Aufarbeitung der zwischen 1976 und 1983 begangenen Verbrechen.
  9. Nikolaus Wachsmann: KL – A History of the Nazi Concentration Camps. New York 2015.
  10. In diesem Urteil bestätigte der oberste Gerichtshof das Urteil eines Bundesgerichts, das die Amnestiegesetze (siehe Fußnote 8) für ungültig erklärt hatte (siehe Fußnote 14).
  11. Die Deutsche Elisabeth Käsemann (1947-1977) lebte und arbeitete seit 1970 in Buenos Aires. 1977 wurde sie von der Militärjunta entführt. Die Versuche von Eltern und Freunden, ihre Freilassung durch öffentliche Appelle an die deutsche und argentinische Regierung zu erwirken, schlugen fehl. Einige Wochen nach ihrer Entführung wurde sie ermordet.
  12. 1946-1955
  13. Die ESMA war eine Ausbildungsstätte der Marine, die während der Militärdiktatur als Folterzentrum genutzt wurde.
  14. In seinem Urteil zum Fall Simón kam Gabriel Cavallo 2001 zu dem Schluss, dass die Amnestiegesetze (siehe Fußnote 8) gegen die Verfassung verstoßen würden und somit nichtig seien.
  15. 1973-1985 war in Uruguay eine Militärdiktatur an der Macht.
  16. Léonie Duquet und Alice Domon wurden 1977 von den Militärs entführt, in der ESMA gefoltert und anschließend lebendig aus einem Flugzeug über dem Meer abgeworfen.
  17. Mauricio Macri (*1959), seit 2015 Präsident Argentiniens.
  18. Partido Revolucionario de los Trabajadores (Revolutionäre Arbeiterpartei).