Gerhart Baum (*1932) gehörte seit den fünfziger Jahren zu den FDP-Politikern, die sich für einen sozialliberalen Kurs ihrer Partei einsetzten. Unter Hans-Dietrich Genscher als Minister wurde er 1972 Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesinnenministerium. 1978 übernahm er dieses Ministerium. In dieser Funktion gehörten Bürgerrechte zu einem seiner Schlüsselthemen. Nach dem Bruch der sozialliberalen Koalition verließ er die Regierung und begann, auf Menschenrechtsverstöße in verschiedenen Ländern aufmerksam zu machen. An dieses Engagement konnte er anknüpfen, als er 1992 zum Leiter der deutschen Delegation bei der UN-Menschenrechtskommission ernannt wurde, ein Amt, das er bis 1998 innehatte. 1993 leitete er die deutsche Delegation bei der Weltmenschenrechtskonferenz in Wien. Anschließend war er UN-Sonderberichterstatter zur Menschenrechtslage im Sudan, dessen Regime er für seine Menschenrechtsverletzungen hart kritisierte.
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Das Interview mit Gerhart Baum führten Prof. Dr. Jost Dülffer, Emeritus für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität zu Köln, Peter Ridder, Stipendiat des Arbeitskreises Menschenrechte im 20. Jahrhundert, und Dr. Daniel Stahl, Wissenschaftlicher Sekretär des Arbeitskreises. Es fand am 27. November 2014 in der Wohnung von Herrn Baum statt und dauerte von 11 bis 13 Uhr.
Daniel Stahl
Herr Baum, über Ihre Kindheit in Dresden haben Sie bereits in einem 2012 veröffentlichten Gespräch mit Matthias Franck berichtet.[1] In diesem Buch kommen Sie darauf zu sprechen, wie Sie sich unmittelbar nach dem Krieg für Politik zu interessieren begannen. Sie erwähnen in diesem Zusammenhang Ihren Lehrer Adolf Grote, der damals an dem von Ihnen besuchten Gymnasium in Bayern unterrichtete. Diese Person scheint für Sie sehr wichtig gewesen zu sein, deshalb würde ich gerne mit ihr anfangen.
Gerhart Baum
Ich bin mit meiner Mutter und meinen beiden Geschwistern aus dem zerstörten Dresden vor Ende des Krieges, ich schätze Ende März oder Anfang April 1945, in das Tegernseer Tal gekommen. Wir lebten als Flüchtlinge in verschiedenen Unterkünften rund um den See. Es gab allerdings kein Gymnasium am Tegernsee. Meine Mutter sorgte aber dafür, dass ich Unterricht bei einem Privatlehrer erhielt. Als schließlich das Gymnasium Tegernsee gegründet wurde, herrschte Lehrermangel. Adolf Grote gehörte zu den ersten Lehrern. Er war ein Privatgelehrter, ein Mann, der eigene Studien betrieb, Veröffentlichungen machte und als Hauslehrer bei verschiedenen Familien tätig war. Während des Krieges hatte er einer Widerstandsgruppe angehört, auch in einiger Entfernung dem Kreis um den Dichter Stefan George. Obwohl er ebenfalls geflüchtet war, war es ihm gelungen, seine große Bibliothek mitzunehmen. Er war ein hagerer, schwarz gekleideter Mann und in dieser Nachkriegszeit vollkommen aufgeschmissen. Er konnte sich nichts organisieren und wäre bald verhungert. Irgendwann hat er das Gymnasium verlassen, aber er kam mit Hilfe von Freunden über die Runden.
Grote hat sich in intensiver Weise um mich gekümmert. Mein Vater ist nicht aus dem Krieg zurückgekommen.Grote wurde eine Art Vaterersatz, aber mehr als das: Er war Mentor. Auf eine ganz umfassende Weise, die ich immer wieder neu entdecke, hat er mich in die verschiedenen Bereiche von Politik und Kultur eingeführt. Ich war vorgestern in der Gemäldegalerie in Berlin und habe mir die niederländischen Landschaftsbilder angesehen. Da war auch ein Bild von Aert van der Neer, der nur Nachtbilder von Landschaften gemalt hat. Den hat er mir beispielsweise nahegebracht, neben vielem anderen in der Bildenden Kunst und der Literatur.
Grote war ein lebensfremder, im Grunde dem praktischen Leben ferner Mann, der bei all diesen Tatmenschen völlig aus dem Rahmen fiel, auch im Lehrerkollegium. Er hat mich auch politisch geprägt. Er war ein überzeugter Anti-Nazi, da machte er überhaupt keine Kompromisse. Gegenüber bestimmten Phasen der deutschen Geschichte war er sehr skeptisch, insbesondere gegenüber den freiheitsfeindlichen Elementen der Bismarck-Zeit. Er gab mir die ganze Literatur von Eugen Kogon[2] zu lesen. Ein weiteres Buch, an das ich mich erinnere, hieß Hitler in uns selbst.[3] Diese Anti-Nazi-Aufarbeitung hat er mit mir gemacht. Auch später habe ich von ihm von den Thesen von Fritz Fischer[4] erfahren. Eine Frage stand immer im Vordergrund: Müssen die Deutschen nicht entschieden Abstand nehmen von jeder Form des Revanchismus’? Die Oder-Neiße-Grenze war eines der Hauptthemen. Es war klar: Frieden gibt es nur, wenn die Deutschen die Situation der Grenzen anerkennen. Diese Erkenntnis habe ich später in der Politik versucht umzusetzen. Bei den Deutschen Jungdemokraten[5] oder auch in der FDP habe ich wiederholt eine neue Ostpolitik gefordert. Dabei ging es immer auch um die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Das führte zu riesigen Verwerfungen. Auf dem Bundesparteitag der FDP 1968 ist die Partei beinahe auseinandergeflogen, als wir Jungdemokraten diesen Antrag einbrachten.Grote war auf vielfältige Weise mein Mentor, auch wenn es um Literatur ging. Wir haben beispielsweise nacheinander Rilkes Duineser Elegien gelesen, den frühen Hofmannsthal, Trakl, und vor allem Thomas Mann. Ich könnte das jetzt noch lange ausführen. Ich habe sogar einen Brief an Thomas Mann geschrieben. Auch Texte von Ökonomen wie Wilhelm Röpke[6] und Alexander Rüstow[7] lasen wir. Das waren ja prominente Theorethiker der Sozialen Marktwirtschaft. Die eigentlichen Neoliberalen. Heute gilt diese Bezeichnung fälschlicherweise den Marktradikalen. Ein wichtiges Buch von Röpke hat den Titel Jenseits von Angebot und Nachfrage[8] – darin betont er die ethische Verantwortung der Wirtschaftsbürger. Er war der Meinung, der Kapitalismus müsse auch vor den Kapitalisten geschützt werden. Grote hat mich also auch in meinen politischen Grundhaltungen motiviert und bei der Entscheidung, politisch tätig zu werden.
Die alten Nazis waren ja noch da.
Jost Dülffer
Gab es noch weitere Stufen der inneren Politisierung, die sich zunehmend nach außen wandte?
Baum
Ja, genau so war es. Es war eine innere Politisierung, eine intensive Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte und mit der Nazi-Zeit. Auf Anregung von Grote versuchte ich mit Mitschülern 1948 oder 1949, in der Schule eine Gedenkveranstaltung an den 20. Juli zu organisieren. Das wurde uns von einem wirklich reaktionären Lehrer untersagt. Die alten Nazis waren ja noch da. Ich bin überzeugt, dass wir erst von Grote erfahren hatten, was überhaupt der 20. Juli bedeutete. Viele wussten das ja überhaupt nicht. Nürnberg war Siegerjustiz, Thomas Mann ein vaterlandsvergessener Emigrant, der uns hier im Stich gelassen hat. Man fragte, warum wir uns überhaupt mit Widerstandskämpfern beschäftigten, die den Eid auf den Führer gebrochen hatten. Es gab starken Widerstand. Und dann gab es diese ganzen Schlussstrichdebatten. Ich interessierte mich später auch für Fritz Bauer.[9] Uns wurde immer gesagt, das muss ein Ende haben, die Verjährung von Mord muss nun endlich eingeführt werden und so weiter. Meine Politisierung begann also dort.
Stahl
Warum haben Sie sich nicht an die »Nazi-Lehrer« gehalten? Was machte diesen Lehrer Grote so besonders?
Baum
Er war absolut authentisch, ein guter Pädagoge. Seine Überzeugungen trafen die meinen. Er hat sich mir zugewandt. Es entstand eine Lehrer-Schüler-Beziehung im besten Sinne des Wortes. Er hatte große Sympathien für mich und hat sich mir gewidmet. Als er nicht mehr am Gymnasium lehrte, haben wir uns bis zu seinem Lebensende regelmäßig einmal die Woche getroffen. Sein Buch Unangenehme Geschichtstatsachen, erschienen 1960, lese ich auch heute immer wieder.
Stahl
Wie war Ihr Verhältnis zu den anderen Lehrern, zu denen, die beispielsweise die Gedenkveranstaltung verhinderten?
Baum
Gleichgültig. Ich konnte das damals gar nicht richtig einordnen, schätze ich.
Stahl
Und Ihre Mitschüler?
Baum
Ich hatte einen Freundeskreis, der mobilisierbar war. Ich habe heute noch Kontakt zu denen. Das waren echte Freunde und die Freundschaften haben sich gehalten.
Stahl
Waren das alles Schüler aus dem Umfeld von Grote?
Baum
Nein, die haben ihn nur als Lehrer erlebt. Mitunter lud er auch einige Mitschüler zu sich ein. Ich erinnere mich an furchtbar kalte Winternächte 1946, 1947, 1948: Der See war zugefroren und wir saßen abends bei ihm und er las uns aus Thomas Manns Tonio Kröger vor.
Dülffer
Warum haben Sie Jura studiert?
Baum
Ich hatte eine sehr starke Affinität zur Kunstgeschichte. Grote bestärkte mich darin und ich dachte daran, dieses Fach zu studieren. Meine Mutter hatte die Vorstellung, ich müsse Arzt werden. Die ganze Diskussion beendete ich mit der Entscheidung, Jura zu studieren. Ich merkte, dass dieses Fach vielseitige Anwendungsmöglichkeiten bot. Sicherlich spielte es auch eine Rolle, dass mein Vater und Großvater beide Juristen gewesen waren. Ich hatte die Hoffnung, eines Tages als Anwalt in Dresden tätig zu werden wie meine Vorfahren.
Dülffer
Als Jurist hatte man ganz unterschiedliche Karrieremöglichkeiten, das verstehe ich gut. Aber warum gingen Sie zu den Jungdemokraten und später zur FDP?
Baum
Man kann ja nicht irgendwo in einem Klub sitzen, die Zeitläufe beurteilen und bedauern, sondern man erreicht nur etwas, wenn man sich mit einer politisch aktiven Gruppe zusammenschließt. Das habe ich getan – zuerst hier in Köln an der Universität im Liberalen Studentenbund.[10] Nach kurzer Zeit wurde ich Vorsitzender. Es gibt heute noch in der alten Universität dieses langgezogene Forum, wo wir uns jeden Mittag getroffen haben. Außer uns gab es unter anderem die schlagenden Verbindungen, gegen die wir auch bei den Wahlen in der Studentenschaft angetreten sind. Der nächste Schritt waren die Jungdemokraten, das war immer noch nicht die FDP. Nicht alle Jungdemokraten waren auch Mitglieder der FDP; das war keine Voraussetzung. Ich war fünf Jahre Vorsitzender bei den Jungdemokraten in Köln. Bald stellte sich mir die Frage: »Was willst du eigentlich? Wenn du wirklich etwas verändern willst, dann musst du in eine Partei eintreten.« Ich habe mir daraufhin die Parteien angesehen. Die SPD war sehr links, das änderte sich erst mit dem Godesberger Programm. Dort gab es vor dem Godesberger Programm Strömungen, die heute nicht mehr da sind; die schied aus. Ich war ein überzeugter Marktwirtschaftler. Außerdem gab es die Union, die in Köln sehr konfessionell geprägt war und sich beispielsweise für die Konfessionsschule und gegen die Gemeinschaftsschule aussprach. Es blieb also nur die FDP übrig. Wir sahen uns die FDP an und kamen zu dem Schluss, dass sich dort viel ändern musste. Es gab sehr bemerkenswerte Reste alter Nazis, ein echtes Netzwerk.
Dülffer
Die NRW-FDP der fünfziger Jahre wird mitunter als geradezu rechtsradikal bezeichnet.
Baum
So weit würde ich nicht gehen, es gab ja auch andere Leute. Aber es gab ein Netzwerk, in NRW, gegen das wir gekämpft haben. Wir waren eine Zeitlang Außenseiter, auch dann noch, als ich von 1962 bis 1972 Kölner Kreisvorsitzender der FDP war. Wir waren Außenseiter mit unserer Forderung einer neuen Ostpolitik und dem Versuch, nationalistische Positionen zu überwinden. Wir luden uns deshalb Leute aus Baden-Württemberg oder Hamburg ein, die ebenfalls unsere Positionen vertraten. Echte Liberale wie Theodor Heuss, Hildegard Hamm-Brücher, Thomas Dehler oder Hermann Höpker-Aschoff – das waren unsere Vorbilder. Es gab viele Leute, die in der damaligen FDP Bezugspersonen für uns waren. Deshalb haben wir diesen Schritt getan. Und wir wollten die FDP verändern, was uns letztlich auch gelang.
Stahl
Welche Rolle spielte die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit für ihre politische Arbeit?
Baum
Ich gebe Ihnen ein Beispiel. 1955 erschien der Dokumentar-Film Nacht und Nebel von Alain Resnais. Er zeigte uns zum ersten Mal authentisch die Verbrechen in den Konzentrationslagern. Als Liberale ergriffen wir Ende der fünfziger Jahre die Initiative und zusammen mit anderen politischen Jugendorganisationen mieteten wir in Köln ein Kino, um den Film an einem Sonntagmorgen aufzuführen. Anschließend diskutierten wir mit dem Publikum. Unsere Parteien waren damit nicht glücklich. Es gab Debatten und Kritik an uns. Aber wir wollten wissen, was gewesen war. Und das war bei mir natürlich auch von Grote beeinflusst.
Außerdem verfassten wir parteiinterne Rundbriefe gegen alte Nazis. Darüber ist vor einigen Jahren ein Buch von Ulrich Keitel erschienen,[11] dem Initiator dieser Briefe. Es gab überall diese Nester oder Zentren alter Nazis in der FDP: im Saarland und Bayern und anderswo. Mit den Rundbriefen, in denen wir diese Verhältnisse schilderten und kritisierten, stießen wir eine parteiinterne Diskussion an. Das war relativ spät, zwischen 1960 und 1965. Die Aktion wurde von uns selbst finanziert. Jeder Brief hatte eine Auflage von 400 oder 500 Stück. Die Briefe machten wir in der Partei zur Grundlage von Diskussionen. Das stieß auf heftigen Widerstand. So etwas machte man nicht. Man diskutierte auf Parteitagen, aber man schrieb es nicht nieder. Aber diese Briefe hatten eine Funktion. Es ging um Widerstand. In Bayern gab es beispielsweise eine heftige Bewegung gegen Hildegard Hamm-Brücher. Mit diesen Briefen, die an Meinungsträger und Mandatsträger im Lande gingen, haben wir sie unterstützt.
Stahl
Woher hatten Sie die Informationen über alte Nazis in der FDP?
Baum
Die konnte man sich natürlich beschaffen. Man fragte Parteifreunde oder wertete Zeitungen und Archive aus.
Stahl
Bezogen Sie auch Material aus der DDR?
Baum
Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.
Dülffer
Ihre erste Anwaltsstelle war 1961 die Vertretung von Robert Servatius, der in Jerusalem war, um Adolf Eichmann zu verteidigen.
Baum
Ich kannte Servatius nicht. Ich hatte gerade mein zweites Examen gemacht, als die Anwaltskammer Köln auf mich zukam und erklärte, Herr Servatius habe eine Einzelpraxis und ein langdauerndes Mandat in Jerusalem. Israel finanzierte das Mandat. Deshalb brauchten sie einen amtlich bestellten Vertreter. Ich ging zu Servatius. Er führte mich kurz ein und dann saß ich hier am Ring in einer Anwaltskanzlei mit einer Bürovorsteherin und mit einem breiten Spektrum an juristischen Fällen, vom Strafrecht bis zum Verwaltungsrecht. Ich fing an, mich zurechtzufinden.
Dülffer
Servatius war schon bei den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen Anwalt gewesen. Wie war Ihr Verhältnis zu ihm?
Baum
Er war einfach neugierig. Die Leute brauchten einen Verteidiger, das ist in einem Rechtsstaat notwendig. Servatius war nach Nürnberg gefahren und hatte dort einen Angeklagten gefunden, den er verteidigen konnte. Aufgrund dieser Tatsache wurde er wohl als Anwalt Eichmanns ausgewählt. Aber die Kanzlei lief völlig unbeeinflusst davon und ich habe da einiges mitbekommen. Er war auch fast nie da. Ich habe redlich versucht, die Sachen abzuarbeiten, die ich vorfand. Servatius war irgendwie auf seine Weise ein beeindruckender Mann.
Dülffer
Servatius scheint sich auf alte Nazis spezialisiert zu haben. Er verteidigte ja auch Walther Rauff, den Erfinder der Gaswagen.
Baum
Er war nicht spezialisiert auf Nazis, obwohl seine Affinität zu diesem Milieu doch irgendwie merkwürdig ist. Aber er hat sich nicht mit ihnen identifiziert. Er war Demokrat.
Dülffer
Um auf die FDP zurückzukommen: Es gab in den sechziger Jahren einen gewissen Aufbruch in der NRW-FDP mit Personen wie Karl-Hermann Flach oder Wolfram Dorn.
Baum
Ja. Die FDP hat sich in den sechziger Jahren total verändert. Das begann nach dem Weggang von Friedrich Middelhauve. Gegen ihn und Erich Mende haben wir gekämpft, gegen diese alten Strukturen. Wolfgang Döring spielte eine Mittlerrolle, er ist ja leider sehr früh gestorben. Er war auf seine Weise ein liberaler Kopf. Aber Mende war schrecklich. Diese ganze Mende-Truppe und dieser ganze Apparat hier in NRW, die waren uns gegenüber absolut feindselig. Und in den sechziger Jahren kamen dann die Neuen, mit denen die Reformzeit begann: Werner Maihofer, Ulrich Klug, Ralf Dahrendorf, Walter Scheel und natürlich Flach. Der spielt auch eine große Rolle.
Dülffer
War Klug für Sie schon an der Kölner Universität wichtig?
Baum
Ja, er war Strafrechtsordinarius und wurde dann Justizsenator in Hamburg. Wir haben Klug hier gewonnen. Ich erinnere mich noch, wie wir zu ihm fuhren und ihn auf einer Pressekonferenz als unser neues Mitglied vorstellten. Während dieser Reformzeit gab es in Köln wie in fast allen Städten einen Republikanischen Club, wo sich die Reformer aller Couleur zusammenfanden. Abends traf man sich im Römerturm, das werde ich nie vergessen. Ich war auch in Berlin im Republikanischen Club. Dort kochte es noch sehr viel stärker, dort waren Rudi Dutschke und diese Leute. Diese Aufbruchsstimmung in den sechziger Jahren mündete in der sozialliberalen Koalition und bald darauf in das Freiburger Programm der FDP von 1971.
Wir versuchten 1968, Dutschke zu einem Parteitag einzuladen. Wir wollten unsere Parteifreunde mit diesem Mann, der eine große Wirkung auf Teile der jungen Generation hatte, konfrontieren. Wir wollten ihn der Partei als Kontrast, als Reibungspunkt vorstellen. Das hat die Mehrheit abgelehnt. Er durfte nicht in die Halle. Deshalb haben wir gesagt, wir machen es außerhalb. Wir arrangierten, dass er vor die Halle kam und mit Dahrendorf diskutierte. Das hatte natürlich eine Riesensignalwirkung. Viele Leute erinnern sich.
Stahl
Warum wollten Sie Rudi Dutschke unbedingt vor der FDP haben?
Baum
Weil er ein Wortführer war. Wenn man seine Reden liest – so chaotisch waren sie gar nicht. Sein Leben war chaotisch.
Stahl
Wie erklären Sie sich diesen Wandel, der nicht zuletzt von der NRW-FDP ausging? Wie konnten die Linksliberalen stark werden?
Baum
Die Älteren starben weg. Außerdem hatte sich der Zeitgeist völlig verändert. In den sechziger Jahren herrschte eine Reformstimmung. Wir waren in der Opposition gegen die Große Koalition. Das spielte auch eine wichtige Rolle. Wir waren gegen die Notstandsgesetze, die übrigens heute noch gelten. Kein Mensch regt sich mehr darüber auf. Wir waren im Grunde schon aufgrund unserer Rolle als Opposition im Aufbruch. Das führte dazu, dass Willy Brandt und Scheel mit Entschiedenheit die Große Koalition aufgelöst haben.
Dülffer
Welchen Beitrag haben Sie 1971 zu den Diskussionen um das Freiburger Programm geleistet?
Baum
Das Freiburger Programm war eine wichtige Grundlage für die Gemeinsamkeiten in der sozialliberalen Koalition. Es sollte die Koalition stabiler machen. Das ist auch geschehen. Die liberale Grundhaltung, die damals zum Ausdruck kam, ist meines Erachtens heute noch gültig. Es ist ein Programm, das die Werte der Aufklärung in unsere moderne Zeit und auch in die Arbeitswelt bringen wollte. Es ging ja damals um Mitbestimmung und Demokratie im Betrieb und nicht nur in der Gesellschaft. Und es ging um einen gerechten Anteil an der Vermögensbildung, um Erbrecht und Vermögenszuwachsteilung. Es ging auch – und das verwundert manche, wenn ich das heute sage – um Umweltpolitik. Es war das erste Umweltprogramm einer deutschen Partei. Die grünen Bewegungen kamen später, auch die Basisbewegung kam später. Es war das Programm einer sozial verpflichteten Marktwirtschaft, einer umweltorientierten, sozial verpflichteten Marktwirtschaft, wie ich sie mir auch heute noch vorstelle. Ich nahm teil an unzähligen Beratungen in der Theodor-Heuss-Akademie hier in Gummersbach, Flach hatte einen ganz wichtigen Anteil. Scheel hat das alles befördert. Für Scheel war das ganz wichtig. Auch Otto Graf Lambsdorff war dabei, der davon in seiner späteren Zeit wenig zu erkennen gegeben hat. Heute ist es unvorstellbar, dass er jemals dabei gewesen ist.
Stahl
Wie sah Ihre Rolle damals aus?
Baum
Ich wirkte in verschiedenen Arbeitskreisen mit. Das war ein Diskussionsprozess, der die ganze Gesellschaft oder Teile der Gesellschaft erfasste. Das Rowohlt-Bändchen über das Freiburger Programm[12] hatte glaube ich eine Auflage von 100.000, das müssen Sie sich mal vorstellen, was das für ein Diskussionsprozess war.
Stahl
Welche Themen lagen Ihnen besonders am Herzen?
Baum
Umweltschutz zum Beispiel.
Dülffer
1972 wurden Sie Parlamentarischer Staatssekretär. Die NPD verfehlte die 5% Hürde.
Baum
Aber haarscharf mit 4,3 Prozent.
Dülffer
Sonst wäre die Koalition nicht zustande gekommen.
Baum
Genau.
Dülffer
Der Rechtsradikalismus flaute also ab. Der Linksradikalismus spaltete sich nach 1968 in unterschiedlichste Gruppierungen auf. Gerade das Innenministerium als ein Ordnungsministerium hatte ja einen schmalen Grat zu fahren zwischen diesen Extremen.
Baum
Ich aber auch manchmal.
Genscher sah meine Rolle in der FDP als Vertreter des eher linken Flügels.
Dülffer
Genau das wollte ich Sie fragen. Sie waren Parlamentarischer Staatssekretär, der nach außen eine ganze Menge vertreten konnte und musste.
Baum
Ja. Genscher hat mich geholt. Mit Genscher hatte ich vorher schon einen vertrauensvollen Gesprächskontakt. Er wusste, wer ich war. Er sah auch meine Rolle in der FDP als Vertreter des eher linken Flügels. Und wie es so seine Art war, sagte er: »Den integriere ich. Ich nehme auch den linken Flügel in mein Ministerium.« Er war schon Minister. Er holte übrigens auch Günter Verheugen, Heiner Bremer und Klaus Kinkel. Kinkel war eher der Konservative. Wir waren so eine Art politischer Beraterkreis bei Genscher. Wir versuchten auch etwas radikaler, ihn auf bestimmte Positionen zu bringen. Es war mitunter auch nicht einfach, Entscheidungen des Innenministeriums meiner Klientel nahezubringen. Aber irgendwie ist es gelungen. Ich habe die Entscheidungen ein wenig beeinflussen können. Und nicht nur als Person im Ministerium, sondern mit dem Hintergrund meiner Anhänger in der Partei.
Stahl
Der Anfang 1972 verabschiedete Radikalen-Erlass[13] war eines der Themen, die heftig diskutiert wurden, als Sie ins Ministerium kamen. Welche Position vertraten Sie in dieser Debatte?
Baum
Ich erinnere mich, dass der Radikalen-Erlass heftig unter Beschuss war und dass viele meiner Freunde sich beschwert fühlten durch die Informationen, die über sie vom Verfassungsschutz gesammelt wurden. Ich nahm auch wahr, dass der Erlass zu einem wachsenden Misstrauen zwischen der älteren und jüngeren Generation führte. Er hat die politische Stimmung im Lande vergiftet.
Stahl
Von einigen wurde der Erlass ganz konkret als Menschenrechtsverletzung angeprangert. Sahen sie das Thema auch unter dem Aspekt Menschenrechte?
Baum
In gewisser Hinsicht schon. Zunächst einmal steht die Frage, warum der Staat solche Informationen sammelt. Das Sammeln von Informationen ist ein Grundrechtseingriff. Und was macht er damit? Es war ein Verstoß gegen die Grundorientierung unserer Verfassung.
Stahl
Können Sie sich noch erinnern, wann Sie zu dem Standpunkt kamen, dass es sich um einen Verstoß gegen die Grundrechte handelte?
Baum
Das weiß ich nicht mehr genau. Die Abschaffung kam ja nicht aus heiterem Himmel. Da musste ja erhebliche Vorarbeit geleistet werden. Auch in meiner Partei gab es Widerstand. Burkhard Hirsch beispielsweise, der sonst immer auf meiner Seite stand, hatte zunächst erhebliche Bedenken, weil er die politische Indoktrination durch Lehrer in der DDR vor Augen hatte. Anfang 1979 erreichte ich einen Kabinettsbeschluss, mit dem die Regelanfrage beim Verfassungsschutz aufgehoben wurde.
Stahl
1975, während Ihrer Zeit als Parlamentarischer Staatssekretär, gab es ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu diesem Thema.
Baum
Das weiß ich jetzt nicht mehr genau. Ich habe als Innenminister ein Gesetz vorgelegt mit dem Versuch, die Verfassungstreue zu differenzieren. Es sollte bestimmte Anforderungen von der ausgeübten Tätigkeit im öffentlichen Dienst abhängig machen. Das Gesetz ist nach meinem Weggang verschwunden. Es gab ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das ich versuchte, auf diese Weise umzusetzen. Das betraf aber ganz allgemeinen die Voraussetzungen der Aufnahme in den Öffentlichen Dienst unabhängig vom Radikalen-Erlass. Der Radikalen-Erlass war ja nur ein Instrument. Aber die Grundsatzfrage, wer in den Öffentlichen Dienst durfte und wer nicht, die wollte ich verändern. Und da musste zwischen dem Lokomotivführer und beispielsweise dem Lehrer unterschieden werden. Das war sehr, sehr schwierig. Das Urteil muss später ergangen sein, vielleicht war es 1975. Es war nicht sehr positiv.
Dülffer
Sie wurden Werner Maihofers Nachfolger im Amt des Innenministers. Nach Genscher war er der zweite Minister gewesen, der in Ihre Richtung ging. Haben Sie in Ihren Jahren als Innenminister noch neue Akzente setzen können?
Baum
Natürlich. Das war aber eine Gratwanderung. Einerseits war Maihofer mir sehr verbunden und ich ihm. Er war ein väterlicher Freund, mit dem ich Vieles gemeinsam hatte. Aber er hatte im Amt seine Schwierigkeiten. Er war sehr professoral, nicht auf schnelle praktische Entscheidungen hin orientiert. Die Sitzungen dauerten unendlich lange. Aber das ist nur eine Nebensache. Er ist von der RAF-Sache überrollt worden. Ihm wurde das Heft aus der Hand genommen von Helmut Schmidt, Hans-Jürgen Wischnewski[14] und Horst Herold[15]. Er hat es nicht verstanden, in dieser kritischen Zeit, in der wir in der Defensive gegenüber der RAF und gegenüber der Opposition waren, die Balance zu halten zwischen Liberalität und dem, was notwendig war; auch unter sehr, sehr starkem Druck von Schmidt nicht. Wir wurden gejagt. Es war ja eine Stimmung, die kann man sich gar nicht mehr vorstellen. Es herrschte allgemeine Hysterie. Dann kam noch dieser Fall Klaus Traube dazu, den kein Mensch mehr kennt. Das war ein Überwachungsfall. Heute haben wir mit der NSA Milliarden Überwachungsfälle, über die sich sehr wenige Leute aufregen. Damals hat die ganze Republik wochenlang über den Fall Traube diskutiert. Es ging um ein Abhörgerät, das in der Wohnung dieses Atomwissenschaftlers eingesetzt worden war, weil man annahm, er gehöre der RAF an. Das war ungesetzlich. Es gab einen Spiegeltitel[16] und eine Riesenaufregung. Und dann kam es zur Schleyer-Panne: Dem zweimaligen Hinweis auf den Aufenthaltsort von Schleyer[17] wurde nicht nachgegangen. Dafür hat Maihofer die Verantwortung übernommen. Ich musste und wollte es anders machen und andere Akzente setzen. Das erwartete man von mir und das erwarte ich auch von mir. Ich hatte den Wunsch, Maihofer nicht über Gebühr zu verletzen. Ich musste einen Kurs finden, der von ihm wegführte, ohne dass ich mit ihm gebrochen hätte. Ich nehme an, er hat das so empfunden. Wir haben uns später einmal ausgesprochen.
Stahl
Ab 1977 wurden mehrere Gesetze verschärft. Die Verhaftung von Verdächtigen wurde erleichtert, Durchsuchungsvorschriften wurden erweitert. Wie verhielten Sie sich eigentlich zu diesen Gesetzesänderungen, wo Sie doch eigentlich mit Reformansichten angetreten waren?
Baum
Teilweise haben wir zugestimmt. Es war ja eine heftige Auseinandersetzung mit der Opposition. Wir mussten mit eigenen Vorschlägen abwehren, was die Union wollte. Die ging sehr viel weiter. Dann haben wir bestimmte Gegenpositionen aufgebaut. Wir, das war vor allem auch der Justizminister Hans-Jochen Vogel. Wir haben Dinge gemacht, die im Nachhinein aus meiner Sicht rechtsstaatlich höchst bedenklich waren, wie beispielsweise die Kontaktsperre und bestimmte Fahndungsmethoden. Es ging immer um die Frage, ob völlig Unverdächtige in den Fokus des Staates kamen, ob also das Recht von unbescholtenen Bürgern beschädigt wurde.
Dülffer
Haben Sie das damals als Zwiespalt empfunden, als Staatssekretär und dann vor allen Dingen als Minister Positionen zu vertreten, die nicht unbedingt Ihrer Gesinnung entsprachen?
Baum
Am Anfang der RAF-Zeit wurden viele Maßnahmen im Schnellgang beschlossen – Gesetzesänderungen, wie nach dem 11. September auch. Es gab zwar Bedenken, auch bei mir, aber man konnte und wollte nichts dagegen tun. Als Parlamentarischer Staatssekretär war ich Regierungsmitglied und hatte nur einen begrenzten Handlungsspielraum. Als Minister dann habe ich Regelungen überprüfen lassen, verändert oder abgeschafft.
Stahl
Ende der siebziger Jahre trat die Union eine Asylrechtsdebatte los. Sie forderte strengere Regeln. Sie stellten sich dem damals entgegen. Warum war das für Sie so wichtig?
Baum
Weil es meinem Grundverständnis entsprach und auch im Grundgesetz stand. In der Nazizeit waren viele Menschen zu politischem Asyl gezwungen. Das Grundgesetz ist später verstümmelt worden. Wann war das? Es gab ja diesen Asylkompromiss.[18] Da war ich schon nicht mehr Minister.
Stahl
Zum Asylkompromiss kam es Anfang der neunziger Jahre.
Baum
Ja, im Dezember 1992. Es gab einen Asylkompromiss, da war ich noch im Parlament als die Verfassung geändert wurde. Der Artikel wurde derart mit Bedingungen angereichert, dass der Satz »Politisch Verfolgte genießen Asyl« praktisch ins Leere fiel. Hirsch und ich stimmten nicht zu. Dieses Thema hat eine große Rolle gespielt und ich stand schon als Minister unter heftigem Beschuss. Es waren Zahlen von über 100.000 Asylbewerbern pro Jahr. Das wurde mir um die Ohren geschlagen. Mit Asyl wurde Politik gemacht, die Überfremdungsangst genutzt und angeheizt. Man hat beispielsweise nie dagegen gerechnet, wie viele Leute unser Land wieder verlassen haben. Nicht wenige. Es war eine ständige Polemik auch mir gegenüber. Und wir haben es damals nicht geändert.
Peter Ridder
Wenn sie von 1982 auf Ihre Regierungszeit und die Zeit davor zurückblicken, wann würden Sie sagen, sind Sie zum ersten Mal mit dem Thema Menschenrechte in Kontakt gekommen? Welche Rolle spielte das Thema für Sie vor 1982?
Baum
In gewisser Hinsicht immer, nur nicht immer so unmittelbar wie später. Im Innenministerium gab es natürlich schon Bezugspunkte zu Menschenrechten, zum Beispiel aufgrund der Notwendigkeit, für politisch Verfolgte aus Argentinien oder Chile die Aufnahme durch die Bundesländer zu erreichen. Das war eine Angelegenheit, die mich und die Länder-Innenminister betraf. Nur hatte ich keine Funktion, die mich in die Nähe der Menschenrechte gebracht hätte. Aber es gab natürlich im Innenministerium Bereiche, die zur Menschenrechtspolitik gehörten und sich mit der Bürgerrechtspolitik überschnitten.
Ridder
Seit wann wurden gewisse Verstöße als Menschenrechtsverletzungen in einem internationalen Sinne betrachtet und nicht mehr lediglich als Grundrechtsverstoß?
Baum
Das hat immer eine Rolle gespielt. Es gab, bevor ich im Ministerium war, eine Diskussionsphase über den Vietnamkrieg. Wir Jüngeren lehnten den Vietnam-Krieg ab. Und wir haben uns auch im Zusammenhang mit dem Ost-West-Konflikt mit Menschenrechten befasst. Ich war 1966 zum ersten Mal als Leiter einer Delegation der Deutschen Jungdemokraten in der Sowjetunion. Wir setzten uns für die inhaftierten Dissidenten-Schriftsteller ein. Wir hatten als einzige deutsche politische Jugendorganisation einen Vertrag mit den Komsomolzen,[19] mit denen wir einen Austausch machten: Wir waren 14 Tage in der Sowjetunion und die 14 Tage hier. Es war genau festgelegt, an drei Orten öffentliche Veranstaltungen durchzuführen. Das hatten wir naiver Weise in den Vertrag reingeschrieben. Wir mussten dann feststellen, dass es in Leningrad oder Moskau keine öffentlichen Veranstaltungen waren. Aber wir hatten natürlich intensive Kontakte. Wir sind als Jungdemokraten auch zu den Weltjugendspielen[20] gefahren. Das war verpönt. Wir wurden hier angegriffen, weil wir dort Gesprächskontakte suchten.
Stahl
Worum ging es Ihnen bei diesen Gesprächskontakten?
Baum
Wir wollten Kontakt zu den jungen Leuten aus den kommunistischen Ländern haben. Was sind das für Menschen? Wie kann man mit ihnen reden? Wir wollten diskutieren und unsere Positionen austauschen. Das hatte einfach einen Reiz. Und die anderen Parteien hatten Angst vor der Berührung mit diesen ganzen Foren.
Dülffer
Hatten Sie auch Kontakte in die DDR oder war das schwieriger?
Baum
Die DDR war dabei. Das war schwieriger. Aber das kam erst später. Meine Kontakte mit der Bürgerrechtsbewegung waren erst später
Stahl
Suchten Sie gezielt Kontakte zu den Dissidenten oder hatten Sie auch Interesse an Kontakten zu den Staatsoffiziellen?
Baum
Immer auch zu den Dissidenten. Die Kontakte vermittelte der Deutsche Botschafter in Moskau. Hans Magnus Enzensberger schreibt in seinem neuen Buch Tumult[21] über seine Reise 1966 nach Moskau. So haben wir Moskau 1966 auch erlebt.
Stahl
Sie erwähnten bereits die Flüchtlinge aus Chile und Argentinien. Wie beurteilten Sie eigentlich die Außenpolitik von Schmidt und Genscher mit Blick auf die Beziehungen zu rechten Diktaturen?
Baum
Ich weiß jetzt nicht mehr genau, wie die deutsche Außenpolitik zu Argentinien und Chile war. Meiner Erinnerung nach nicht so eindeutig, da gab es für Menschenrechtspolitiker ja doch Irritationen, würde ich mal sagen. Bei Südafrika weiß ich es ganz genau. Ich war da nicht mehr im Parlament und wir waren sozusagen Außenseiter in der eigenen Partei.
Dülffer
Sie waren nicht mehr im Parlament?
Baum
Später, als wir nach Südafrika gefahren sind.
Stahl
Aber während Ihrer Zeit im Kabinett gab es ja Fälle wie zum Beispiel Elisabeth Käsemann,[22] die dazu führten, dass die deutsche Außenpolitik gegenüber Diktaturen in die Kritik geriet. Können Sie sich an solche Episoden erinnern und an Kabinettsitzungen, auf denen darüber diskutiert wurde?
Baum
Nein. Der Fall Käsemann war ein Versagen der deutschen Außenpolitik. Das haben Sie ja in einem Dokumentarfilm kürzlich gesehen.[23] Sie hätte gerettet werden müssen und gerettet werden können.
Stahl
Haben das damals so gesehen?
Baum
Nein. Nein. Überhaupt nicht. Ich kann mich überhaupt nicht mehr daran erinnern.
Dülffer
Im Kabinett auch nicht?
Baum
Nein. Nein.
Stahl
Das Thema Menschenrechte spielt ja Ende der siebziger Jahre auch international eine Rolle. Unter anderem machte Jimmy Carter 1977 die Menschenrechte zu einem Schlüsselthema seiner Außenpolitik. Jetzt war ja Schmidt nicht unbedingt ein großer Freund von Jimmy Carter.
Baum
Schmidt ist auch kein unbedingter Freund von Menschenrechten. Bis heute nicht.
Stahl
Wie haben Sie es damals wahrgenommen, als die Menschenrechtspolitik zum Gegenstand internationaler Politik wurde?
Baum
Für Schmidt und andere stand diese Politik nicht vorn auf der Agenda. Das sind die großen Staatenlenker, die das eher als störend empfinden. Da können Sie den Herrn Kissinger[24] und Egon Bahr[25] dazu nehmen. Bahr sagt irgendwo in seinen Reden, Frieden sei wichtiger als Menschenrechte.
Dülffer
Bei Jimmy Carter war es anders. Er hat Menschenrechte programmatisch nach vorne gestellt. Viele sagen, das sei nur Rhetorik gewesen. Haben Sie Carter als einen positiven Mann wahrgenommen?
Baum
Ja absolut. Er stand in den Zwängen seines Amtes. Die Amerikaner haben Menschenrechtspolitik immer auch sehr stark mit ihren außenpolitischen Interessen verknüpft. Davon kam er nicht los. Aber ich habe ihn positiv empfunden.
Dülffer
Er setzte sich auch für Dissidenten ein und versuchte, deren Ausreise mit ökonomischen Vorteilen für die Ostblock-Staaten zu verbinden.
Baum
Ja, damit befand er sich im Rahmen der KSZE. [26] Das ist für mich eine der wichtigsten Menschenrechtsvereinbarungen, die Völker je getroffen haben. Zum ersten Mal spielten die Bürgerrechte auch im Ost-West-Konflikt eine gleichberechtigte Rolle.
Dülffer
Sie wurde immerhin schon von der Regierung Schmidt-Genscher unterschrieben.
Baum
Ja – und von Honecker. Aber auch im Westen war es nicht einfach, diesen Teil durchzusetzen.
Stahl
Auch innerhalb der deutschen Delegation?
Baum
Das weiß ich nicht – ja, vielleicht auch. Aber da müsste man nochmal in die Quellen gehen. Vor allem war es schwierig gegenüber dem Osten, aber auch im Westen. Ich habe dunkel in Erinnerung, dass Genscher sagte, es habe auch bei den Amerikanern hier im westlichen Lager Schwierigkeiten gegeben, diesen Teil gegen heftige Widerstände des Ostens durchzufechten. Man wollte das Abkommen an dieser Frage nicht scheitern lassen.
Dülffer
Konnten Sie von Ihrer Position aus irgendwelche Spannungen innerhalb der Koalition wahrnehmen, wenn es um den Bereich Menschenrechte ging?
Baum
Immer wieder. Sie müssen nur einmal die Reden lesen, die Genscher vor der UN-Generalversammlung gehalten hat, auch im Hinblick auf die Menschenrechtsinstitutionen. Er forderte im Namen der deutschen Regierung einen internationalen Menschenrechtsgerichtshof.[27] Ich weiß nicht, ob Schmidt so etwas gemacht hätte. Die Genscher-Außenpolitik hatte sehr starke Menschenrechtsaspekte. Auch in der Innenpolitik als Sicherheitsminister hat er immer wieder versucht, die Bürgerrechte aufrecht zu erhalten. Er hatte beispielsweise Gesprächskontakte mit Heinrich Böll.
Dülffer
Nach dem Regierungswechsel von 1982 sind einige Linksliberale wie Günter Verheugen aus Ihrer Partei ausgetreten. Sie blieben. Was hat Sie dazu bewogen?
Baum
Ich stand vor der Frage, die Partei zu wechseln. Das habe ich nicht gemacht. Die Sozialdemokraten waren aus meiner Sicht keine liberale Partei, wie ich sie mir vorgestellt habe. Die CDU kam sowieso nicht in Frage. Es gab die Option, nicht mehr Politik zu machen. Die habe ich ernsthaft erwogen. Und dann gab es eine Trotzreaktion. »Warum überlässt du eigentlich denen, die jetzt diesen Kurs in die Wege geleitet haben, deine Partei?« Deshalb habe ich auf dem Berliner Parteitag 1982 als Stellvertreter Genschers – nicht gegen ihn, aber als Stellvertreter – kandidiert und bin knapp gewählt worden. Was sich hinterher als ein Pyrrhussieg herausgestellt hat. Ich hatte überhaupt keinen Einfluss mehr. In dieser neuen Koalition war mein Einfluss außerordentlich gering. Genscher hat immer noch versucht, Leute wie mich und Hirsch zu stützen und uns auch einen gewissen Raum zu geben. Aber in der Koalition war das nicht mehr möglich. Bald hat die Außenpolitik das Bild bestimmt und Genscher ist zur Hochform aufgelaufen. Ich hatte Bedenken, ob die Regierung Kohl überhaupt diese Außenpolitik fortsetzen würde. Das ist tatsächlich geschehen. Die Themen, die mir wichtig waren, die uns wichtig waren, traten in den Hintergrund. Die FDP hat sich seitdem verändert – bis heute.
Dülffer
War es diese Wende und Ihre relative Isolierung in der FDP, warum Sie sich stärker der internationalen Menschenrechtspolitik zuwandten?
Baum
Ja. Ich konnte mich dieser Aufgabe einige Wochen im Jahr durch Reisen, Teilnahme an Konferenzen widmen.
Dülffer
Ich denke, das ist nicht die ganze Wahrheit. Was hat Sie zu diesem Schritt veranlasst?
Baum
Wir, Hirsch und ich, haben sozusagen zwei Dinge gemacht: Einmal haben wir eine intensive Menschenrechtspolitik betrieben. Wir sind in der Welt herumgereist und haben Menschenrechtsverteidiger unterstützt. Mit der Zustimmung von Genscher oder sogar mit seiner Ermunterung fuhren wir in verschiedene Krisengebiete, also in Länder mit einer Militärdiktatur wie die Türkei, Südkorea oder Südafrika. Es gab kaum ein diktatorisches Regime, das wir nicht aufgesucht haben, um dort Kontakte mit den Menschenrechtsverteidigern herzustellen. Das Zweite war, dass wir in einer späteren Phase innenpolitisch unsere Regierung durch ständige Verfassungsbeschwerden angegriffen haben. Da brauchten wir keine Partei und nichts dazu. Da brauchten wir nur unser Gehirn und unsere Überzeugung.
Das Thema Südafrika lag einfach in der Luft. Es gab eine wachsende Empörung darüber, dass Helmut Kohl sich auf die Seite der Apartheid-Regierung stellte.
Ridder
Wie sind Sie mit Südafrika und dem Thema Apartheid in Berührung gekommen und warum begannen Sie, sich dafür zu engagieren?
Baum
Das lag einfach in der Luft. Es gab eine wachsende Empörung darüber, dass Helmut Kohl sich gegen die Apartheidgegner auf die Seite von Pieter Botha[28] gestellt hatte. Auch andere engagierten sich sehr stark bei diesem Thema wie die Grünen oder Verheugen. Hirsch und ich sind seit 1982 unzählige Male in Südafrika und auch in Namibia gewesen. Ich habe hier in Deutschland immer berichtet, öffentlich und auch bei wichtigen Meinungsträgern. Wir setzten uns auch mit Richard Weizsäcker[29] oder Norbert Blüm[30] zusammen, mit Leuten, die so dachten wie wir. Wenn wir in diesen Ländern waren, wurden wir von bestimmten Gruppen natürlich sehr feindselig beobachtet; auch die deutschen Botschaften waren nicht durchweg erfreut über unsere Aktivitäten – in Südafrika aber doch.
Dülffer
In einem kürzlich gegebenen Interview formulierten Sie es so, dass Sie der »Schrecken der Botschafter« gewesen seien.[31]
Baum
Ja, ja (lacht).
Stahl
Wie kam die erste Entscheidung zustande, nach Südafrika zu fliegen?
Baum
Das weiß ich nicht mehr. Hirsch und ich haben das sehr sorgfältig vorbereitet. Es war damals gar nicht so selbstverständlich. Wir waren bei den Kirchen und bei den Gewerkschaften. Wir haben uns zunächst hier im Lande orientiert und uns erkundigt über die Erfahrungen, die andere gemacht haben. Es gab ja auch Gewerkschaftsinitiativen in Südafrika. Die Kirche spielte eine große Rolle. Obwohl die Kirche und die Menschenrechte so ein Kapitel sind. Die evangelische und die katholische Kirche haben die Menschenrechte sehr spät entdeckt, was kaum jemand weiß. Graf Ballestrem schreibt darüber. Es hat lange gedauert, bis in den Kirchen ein Bewusstsein für weltweite Menschenrechtspolitik aufkam. Einzelne Initiativen haben sie immer unterstützt.[32]
Dülffer
Mit wem haben Sie in Südafrika gesprochen?
Baum
Mit nahezu allen führenden Oppositionellen. Da gab es ja auch einige ganz wunderbare weiße Oppositionsleute, die sich auf die Seite der Schwarzen gestellt haben. Ich habe die Namen vergessen. Wir haben mit dem im Exil befindlichen Oliver Tambo[33] gesprochen, mit Bischöfen, Journalisten und Frau Mandela. Mandela[34] selbst war ja noch in Haft. Wir sprachen mit seinem ganzen Umfeld. Und natürlich auch mit der Regierungsseite. Die Regierungsvertreter versuchten uns natürlich zu überzeugen. Ich erinnere mich, an einen großen Empfang in Johannesburg, in der deutschen Botschaft. Hirsch und ich kamen da rein und konnten keinen Schwarzen sehen. Es waren ganz wenige Schwarze eingeladen. Das haben wir Genscher erzählt, der die Botschaft daraufhin aufforderte, innerhalb einer bestimmten Frist die Gästelisten der letzten Monate vorzulegen und zwar aufgeschlüsselt nach Rasse. Das war natürlich ganz unerfreulich. Auf dem Empfang saßen wir mit einigen Leuten zusammen, die uns der Botschafter als die gewählten Abgeordneten vorstellte. Ich habe sie nur gefragt, von wem die eigentlich gewählt seien. Daraufhin standen sie auf und gingen. Aber es gab in der Botschaft immer auch sehr gute Leute, die politisch dachten. In der deutschen Diplomatie gibt es in Sachen Menschenrechte wirklich überzeugte, beeindruckende Diplomaten, die dem Land, in dem sie stationiert sind, nicht nach dem Munde reden oder sich still verhalten, sondern die Partei ergreifen für die Menschenrechte. Das war auch in Südafrika so.
Stahl
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Baum
Zum Beispiel der Botschaftsrat Fritz Ziefer. Er war zuständig.
Stahl
Wie drückte sich sein Menschenrechtsengagement aus?
Baum
Er fuhr beispielsweise morgens zum Gericht, wenn ein Apartheidgegner eine Verhandlung hatte, und setze sich in die erste Reihe. Er machte deutlich: »Es interessiert uns, was hier passiert und vor sich geht.« Das drückte sich außerdem darin aus, dass die Botschaft den Familien der Inhaftierten einen Beitrag zum Unterhalt leistete.
Ridder
Wie würden Sie die Auswirkungen dieser Reisen nach Südafrika auf die deutsche Öffentlichkeit und auf die deutsche Politik bewerten?
Baum
Die deutsche Öffentlichkeit haben wir wohl mit beeinflusst. Wenn wir beispielsweise nach einer Reise in Bonn ankamen, gaben wir eine Pressekonferenz und legten Folterprotokolle vor: »Der Bischof so und so ist in der Nacht nackt mit den Füßen nach oben auf der Polizeistation aufgehängt worden. Bevor die Putzfrauen morgens kamen, hat man ihn wieder herunter genommen.«
Ridder
Führte das auch zu innerparteilichen Spannungen?
Baum
Doch, doch!
Ridder
Es gab ja auch Gegner dieser Menschenrechtspolitik.
Baum
Es gab Leute, denen das irgendwie zu idealistisch war. Ich erinnere mich, dass als wir zum ersten Mal hinfuhren, Graf Lambsdorff zu uns sagte: »Eins könnt Ihr Euch ganz klar abschminken: one man, one vote wird es dort nie geben.«
Dülffer
Wenn Sie mit Regierungsvertretern zusammen waren, haben Sie die mit Menschenrechten konfrontiert?
Baum
Ja, nur. Das war ja unser Ziel. Wir haben ja nicht Small Talk gemacht. Wir haben Sie konfrontiert mit der Situation der Verfolgten. Und dann gab es die üblichen Ausreden: Erst stimmt es nicht. Dann stimmt es überhaupt nicht. Dann hat es andere Gründe, alles sind Drogenhändler.
Stahl
Wir haben jetzt viel über Südafrika gesprochen. Welche Regionen oder Länder haben sie außerdem bereist und welche waren Ihnen besonders wichtig?
Baum
Iran und Guatemala zum Beispiel. Der Nahe Osten insgesamt. Türkei, Indonesien, Timor.
Stahl
Und Osteuropa?
Baum
Osteuropa auch. Ich war als Innenminister in Moskau. Ich war übrigens auch in China als Innenminister. Wir hatten dann auch wachsende Kontakte in die DDR zu den Bürgerbewegungen.
Dülffer
Wie haben Sie Ihre Reiseziele ausgesucht? Entschieden Sie danach, wo es die schlimmsten Menschenrechtsverletzungen gab?
Baum
Ja. Ja. Das ergab sich so. Wir konnten ja nicht dauernd reisen. Die Zeit war beschränkt. Wir waren noch Abgeordnete und haben die Reisen beim Deutschen Bundestag beantragt.
Dülffer
Im Iran ging es um das Regime von Khomeini[35] und die Folgen. Haben Sie in diesem Fall etwas machen können? Dort ging es um religiöse Menschenrechtsverletzungen, was ich mir besonders schwierig vorstelle.
Baum
Jede Situation ist anders und erfordert eine andere Strategie. Immer muss man immer auf die spezielle Situation eingehen. Es war ganz wichtig, denen, die gegen Diktaturen und Unterdrückung gekämpft haben, zu zeigen: »In Deutschland gibt es Menschen, die euch wahrnehmen, euch zuhören, euch ermutigen und die euren Regierungen sagen, was sie davon halten.« Die Wirkung kann man nie abschätzen. Wir haben natürlich keine Berge versetzt. Aber wir haben versucht, deutlich zu machen, dass Deutschland mit seiner Erfahrung zweier Diktaturen eine besondere Verantwortung für Menschen hat, die verfolgt werden.
Dülffer
Sie haben sicherlich eng mit Amnesty International and Human Rights Watch zusammengearbeitet.
Baum
Natürlich. Da müssen Sie jetzt das Kapital meiner Tätigkeit in Genf als Leiter der deutschen Delegation aufschlagen.
Dülffer
Das gab es in den achtziger Jahren noch nicht?
Baum
Nicht so intensiv.
Stahl
Welche Rolle spielte Ihr Menschenrechtsengagement mit Blick auf die deutsche Politik?
Baum
Natürlich hat das im Deutschen Bundestag, in den Parteien, in den Medien zu politischen Diskussionen geführt. Wir fanden mit unseren Argumenten und unseren Berichten eine aufnahmebereite Öffentlichkeit.
Dülffer
Sie haben Ihre Reisen als zwei Liberale gemacht. Es waren keine Sozialisten und keine Christdemokraten dabei. Ihre Reisegemeinschaft war sehr bewusst ausgewählt.
Baum
Wir waren zu zweit. Wir haben uns auch in den Gesprächen sehr gut ergänzt. Später war ich als UN-Berichterstatter für den Sudan immer alleine. Da habe ich es gemerkt, dass niemand da war, der den Ball aufgenommen oder der das Gespräch auf seine Weise weitergeführt hat.
Dülffer
Von 1992 bis 1998 waren sie Leiter der deutschen Delegation bei der UN-Menschenrechtskommission. Das war wieder ein Regierungsamt.
Baum
Ich war damals noch Abgeordneter. Genscher fragte mich, ob ich das machen wolle. Ich schloss einen Vertrag mit dem Auswärtigen Amt ab. Der Vertrag war natürlich auch darauf ausgerichtet, mich in das Gefüge des Auswärtigen Amtes einzubinden. Ich war kein Diplomat. Dort saßen in der Kommission fast nur Berufsdiplomaten und nur ganz wenige Nichtdiplomaten. Ich war praktisch Teil dieser diplomatischen Gruppierung und der Diplomaten in Genf, die sich untereinander kannten und die auch andere Aufgaben hatten als nur die Menschenrechtskommission. Ich kam da rein und mir war vollkommen klar, dass ich das Vertrauen der eigenen Leute gewinnen musste. Ich wollte dem deutschen Botschafter in Genf auch nicht die Rolle streitig machen. Er hatte ganz andere Kontakte als ich, der ich nur sechs Wochen im Jahr da war. Ich versuchte deshalb, ein gutes Klima zu schaffen, und so etwas wie ein Team herzustellen. Ganz wichtig war der spätere Leiter der Politischen Abteilung im Auswärtigen Amt und bis vor kurzem deutscher Botschafter in China, Michael Schäfer. Er war der politische Direktor und mit ihm habe ich die Menschenrechtskonferenzen bestritten. Er hat seine Arbeit mit großer Sachkunde, Kreativität und Mut gemacht. Wir schlugen Brücken zu anderen Staatengruppen und versuchten, uns zu verständigen und Kompromisse zu finden.
Gleichzeitig wollte ich politische Akzente setzen. Ich musste mich daran gewöhnen, dass man nicht so einfach reden konnte. Die Europäische Gemeinschaft hatte einen Sprecher, der für Europa sprach. Das wurde vorbereitet. Erst wenn das erschöpft war und keine Wortmeldungen mehr kamen, konnte man selber reden. Man musste natürlich eine Meinung bilden, die in Europa halbwegs eine Konsensmeinung war. Ich habe versucht, meinen Spielraum zu erweitern und in den Sitzungen mit den Diplomaten und Mitarbeitern Impulse zu setzen. Schäfer und ich versuchten, bei Abstimmungen Koalitionen herzustellen. Ich hatte Verbündete in anderen Ländern, Stéphane Hessel[36] zum Beispiel und eine kämpferische Amerikanerin als Delegationsleiterin. Die Bewegungsspielräume wurden allmählich größer und dann habe ich Folgendes gemacht: Ich stellte fest, dass die UN-Menschenrechtskommission in Deutschland vollkommen unbekannt war. Dabei handelte es sich um das zentrale Forum. Heute ist es ja der Menschenrechtsrat. Dort waren für den Zeitraum von sechs Wochen pro Jahr die Menschenrechtsleute aus der ganzen Welt versammelt. Die Indianer, die Unterdrückten aller Völker, Amnesty – sie spielten eine große Rolle. Es war ein richtiges Menschenrechtsforum mit einem regen Gedankenaustausch. Davon kam nur sehr wenig in Deutschland an. Ich versuchte deshalb das, was dort passierte, nach Deutschland zu vermitteln. Ich hatte beispielsweise einen Partner bei der FAZ, der regelmäßig berichtete. Es ging mir also darum, die Diskussion in Genf zu beleben und politisch anzureichern und hier in Deutschland mehr Bewusstsein für das Thema und für das Gremium zu schaffen.
Dülffer
Entstand so etwas wie eine Genfer Atmosphäre der Menschenrechtspraktiker?
Baum
Die Genfer Atmosphäre war natürlich sehr diplomatisch geprägt und manchmal war sie wirklich zum Kotzen. Man stand abends mit Häppchen und was der Teufel was mit den Vertretern von Staaten zusammen, in deren Hoheitsgebiet zur gleichen Zeit die Leute gefoltert und getötet wurden. Es war so eine diplomatische Wohlfühlgesellschaft. Das drückte sich auch darin aus, dass man mir sagte: »Wenn du dorthin kommst, dann musst du auch einen Empfang geben.« Ich stellte mich bei unseren Empfängen an die Tür und es kamen 150 Leute, denen ich die Hand gab und kaum hatten die etwas getrunken, gingen sie auch wieder weg. Dann musste ich sie auch wieder verabschieden. Dafür ging die Hälfte des Etats drauf. Das habe ich abgeschafft. Ich gab keinen Empfang mehr, weder am Anfang noch am Ende. Wir luden nur noch gezielt Leute ein, die ich zum Dialog brauchte.
Dülffer
Aber Sie wussten ja zum Teil, wem Sie die Hand drücken mussten, und Sie waren die Jahre davor frei gewesen, diesen Leuten Ihre Meinung zu sagen.
Baum
Ich konnte Ihnen natürlich die Meinung sagen, selbstverständlich. Man diskutierte schließlich nicht nur im Plenum miteinander. Unsere Regierung war beim Thema Menschenrechte durchaus meinungsstark, wir hatten ja Genscher und später Kinkel im Hintergrund.
Ich hatte bei der UN-Menschenrechtskommission enge Kontakte zu Kuba. Kuba ist bis heute einer der großen Player in der Menschenrechtsgesellschaft.
Stahl
Wen haben Sie gezielt eingeladen?
Baum
Ich brauchte zum Beispiel einen Kompromiss in Sachen Guatemala. Ich lud deshalb die Vertreter aus Indien und Ägypten ein, um mit ihnen über das Thema zu reden. Ich hatte auch einen engen Kontakt zu Kuba. Kuba ist bis heute einer der großen Player in der Menschenrechtsgesellschaft. Es hat die früheren Kolonialstaaten hinter sich versammelt. Wir haben auch sehr gut mit dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes zusammengearbeitet. Die hatten sehr gute Berichte über die Menschenrechtslage in der Welt. Ich bin immer zu ihnen gegangen und habe mich genau briefen lassen.
Stahl
Können Sie ein Beispiel geben, was sie in solchen Gespräche verhandelt haben?
Baum
Einmal haben wir verschiedene Modelle entwickelt, wie in Diktaturen Oppositionsgruppen mit der Regierung zusammenkommen könnten. Dann haben wir Vereinbarungen in die Wege geleitet, die sich auch in den Resolutionen der Menschenrechtskommission wiedergefunden haben. Im Übrigen war die Stimmung ja nicht schlecht. Die Sowjetunion war zusammengebrochen und arbeitete mit uns zusammen. Das muss man sich mal vorstellen.
Stahl
Können Sie diese Stimmung nach dem Ende des Kalten Krieges etwas genauer beschreiben?
Baum
Das ging los auf dem Balkan. Ich war der Kommissionsleiter bei der Menschenrechtsweltkonferenz von 1993 in Wien. Diese Konferenz war bereits überschattet von den ethnischen Säuberungen und den Menschenrechtsverletzungen auf dem Balkan.
Stahl
Und davor, als Sie nach Genf kamen und der Kalte Krieg überwunden war?
Baum
Die Kompromisse waren leichter.
Ridder
Anfang der neunziger Jahre herrschte eine Phase, in der zwischen Ost und West im Bereich der Menschenrechte auf einmal das gleiche Abstimmungsverhalten beobachtet werden konnte. Wie lange hat dieses Verhältnis nach Ihrer Wahrnehmung angehalten?
Baum
Das weiß ich nicht. Damals war es ganz klar: Die Russen haben sogar Kritik an ihnen in Resolutionen akzeptiert. Wie lange das gedauert hat, weiß ich nicht – jedenfalls solange ich da war.
Ridder
Wie haben Sie die Atmosphäre auf der Wiener Menschenrechtskonferenz wahrgenommen, die ja zum Einen ein gewisser Durchbruch im Bereich des Menschenrechtsschutz war, die aber auch – wie Sie ja erwähnten – vor dem Hintergrund der Verbrechen auf dem Balkan stattfand.
Baum
Das Verhältnis zu den postkommunistischen Staaten war entspannt. Alle waren betroffen von den Menschenrechtsverletzungen auf dem Balkan. Alle. Also die Christen, die Moslems – alle Lager fühlten sich da im Grunde verletzt. Ich bin überzeugt, dass dieser Hintergrund – es war ja auch geografisch ganz nah von Wien – dass der eine Rolle gespielt hat zugunsten der Ergebnisse. Es war eine gute Atmosphäre. Aus meiner Sicht war die Konferenz ein Erfolg. Wir würden sie heute nie wieder so hinkriegen. Und es wurde heftig gerungen über Themen wie die Universalität der Menschenrechte. Als Westen haben wir die Konzession gemacht, die sozialen und kulturellen Rechte ernst zu nehmen. Dabei gab es Schwierigkeiten mit der deutschen Regierung. Aber wir gaben auf diesem Feld nach und die andere Seite gab bei der Universalität nach. Das Schlussdokument ist aus meiner Sicht sehr in Ordnung. Außerdem sind einige Dinge in die Wege geleitet worden: Der Internationale Strafgerichtshof, der Hohe Kommissar für Menschenrechte. Die Stellung der NGOs wurde gestärkt, die Rolle der Frau und der Kinder bei Menschenrechtsverletzungen wurden besonders beachtet. Also es war eine ganz wichtige, entscheidende Konferenz.
Ridder
Wie gestaltete sich das Verhältnis zu den Staaten Asiens und Afrikas auf dieser Wiener Menschenrechtskonferenz und welche Rolle spielten beispielsweise die Asian Values?
Baum
Asiatische Werte? Da gab es vorbereitete Resolutionen der Regionen, die waren schrecklich. Wir haben darauf hingewiesen, dass beispielsweise die Afrikanische Union schon ganz früh ein wunderbares Menschenrechtsdokument verabschiedet hat. Es gab viel Widerstand gegen die Universalität der Menschenrechte. Es ist uns gelungen, diese durchzusetzen, und zwar in wirklich kräftezehrenden, ermüdenden Nachtsitzungen. Das war wirklich ein Ringen um die Sache. Meine Leute haben immer gesagt: »Herr Baum, jetzt ist genug, jetzt gehen Sie ins Bett, wir machen weiter. Sie kommen morgen früh um 9 Uhr wieder, damit Sie ausgeschlafen sind.« Die Europäer waren ja auch nicht einer Meinung, auch nicht beim Menschenrechtsgerichtshof. Da gab es Widerstände. Aber die Gegner haben sich letztlich nicht durchgesetzt.
Dülffer
Wie war die Zusammenarbeit mit den Menschenrechts-NGOs?
Baum
Besonders eng. Die hatten ihre Länderberichte. Ich fuhr beispielsweise nach London in die Zentrale von Amnesty International, um mich briefen zu lassen. Auch andere Organisationen spielten eine Rolle. Human Rights Watch war damals noch nicht so stark. Die wurden dann stärker und hatten einen noch politischeren Ansatz als Amnesty. Amnesty war mehr personenbezogen und konzentrierte sich auf Verfolgte. Human Rights Watch versuchte, Regierungshandeln zu beeinflussen.
Stahl
War der Menschenrechtsgerichtshof damals ein zentrales Thema für Deutschland?
Baum
Ja. Das hatte Genscher vorbereitet. Der hat ihn in jeder Rede in der Generalversammlung gefordert. Und dann kam Kinkel, als ich in Wien war. Seine Haltung war auch eindeutig. Man konnte mit seiner Unterstützung rechnen.
Stahl
Gab es Reibungspunkte zwischen Ihnen und der deutschen Regierung?
Baum
Kleinere wahrscheinlich, keine großen.
Ridder
Wie würden Sie die Zusammenarbeit mit dem Menschenrechtszentrum in Genf, beschreiben? Ich habe immer wieder Aussagen gehört, dass es dort große Probleme gab, zum einen in der personellen und finanziellen Ausstattung des Menschenrechtsbereichs, aber auch der politischen Einflussnahme auf den bürokratischen Apparat hinter den Kulissen.
Baum
Das Zentrum war unterfinanziert. Dagegen haben wir uns gewehrt. Im Übrigen war ich auch beteiligt bei der Suche nach dem ersten Hochkommissar. In New York haben wir in der Residenz des deutschen Botschafters andere Ländervertreter zu Gesprächen getroffen. Es gab viel Misstrauen bei den nicht-menschenrechtsaffinen Staaten im Hinblick auf die zu bestimmende Person des Menschenrechtskommissars. Und dann sind wir einen aus meiner Sicht klugen Weg gegangen: Wir haben uns auf einen Diplomaten geeinigt, der dem diplomatischen Kreis angehörte, der mit der Entscheidung beauftragt war. Er war einer von ihnen; der Botschafter von Ecuador.[37] Die Entscheidungsträger kannten ihn. Wir haben also niemanden von außen genommen, der unbekannt war. Das hätte nur Angst und Schrecken verbreitet. Wir verließen uns darauf, dass das Amt die Person verändern würde, die es wahrnimmt. Er war ganz ordentlich. Dann kamen Frau Mary Robinson[38]und andere Personen, die kämpferischer waren.
Dülffer
Welche Unterschiede gab es zwischen Genf und New York, wenn es um die Rolle der Menschenrechte ging?
Baum
Das Menschenrechtsthema hatte überall einen Stellenwert, insbesondere für Kofi Annan. Er hat es zum Querschnittsthema gemacht – auch in den anderen Bereichen. Er hat die anderen Agenturen der UN verpflichtet, Berichte über die Menschenrechte in ihrem Bereich abzugeben. Dieses Thema hat er aufgewertet, erheblich aufgewertet. Ich habe in New York jegliche Unterstützung erfahren. Auch später als Sonderberichterstatter war ich auf die UN angewiesen. Ich habe hohen Respekt vor der Tätigkeit der Vereinten Nationen weltweit – ob in Nairobi oder in Khartum, wo auch immer ihre Vertreter mit ihren verschiedenen Aufgabenbereichen sitzen. Die Welt sähe anders aus ohne die Vereinten Nationen.
Stahl
Was war Ihr bedeutendster Beitrag als deutscher Delegationsleiter bei der Menschenrechtskommission?
Baum
Das war die Deklaration zum Schutz der Menschenrechtsverteidiger.[39]Es war ein Konstrukt von Schäfer. Wir setzten uns dafür ein, dass drei Staaten den Text ausarbeiten sollten, um alle Einflüsse fernzuhalten. Südafrika, Polen und Deutschland. Deutschland befreit von einem Unrechtsregime, Polen und Südafrika befreit von Unrechtsregimen. Wir strickten das Verfahren so, dass die anderen – vor allem die Kuba-Gruppe – uns nicht in die Suppe spucken konnten. Der umstrittenste Punkt war die Finanzierung der Menschenrechtsverteidiger von Außen. Die Russen verhalten sich im Verhältnis zu ausländischen NGOs momentan gegen diese Deklaration. Damals haben sie mitgestimmt. Solche Dinge konnte man damals noch machen. Das war unsere Initiative zusammen mit einigen Freunden in der Kommission.
Dülffer
Wie wurden Sie zum UN-Sonderberichterstatter für Sudan?
Baum
Es gab eine neue Koalition in Deutschland. Mein Vertrag wurde nicht verlängert. Es gab nun einen Menschenrechtsbeauftragten im Auswärtigen Amt. Das war bis dahin faktisch ich. Aber diese Position wurde ausgebaut mit einem Büro. Das hatte ich alles nicht. So fragte die deutsche Delegation, ob man meine Erfahrung als Berichterstatter nicht nutzen solle. Es gab zwei Staaten, die in Frage kamen: Myanmar und Sudan. Man hat sich dann für den Sudan entschieden. Natürlich musste mein Mandat jedes Jahr neu von der Kommission beschlossen werden. Die Sudanesen waren erstaunlicherweise zunächst für mich. Ich hatte mich zuvor öffentlich dagegen gewandt, dass die Amerikaner im Sudan in einem völkerrechtswidrigen Akt eine Munitionsfabrik bombardierten. Das habe ich öffentlich kritisiert. Daraufhin sind die Sudanesen auf mich zugekommen. Ich hatte also am Anfang ihr Vertrauen. Die wussten nicht, was sie sich mit mir einhandelten. Meine Berichte waren außerordentlich kritisch. Später haben sich die Sudanesen immer weiter von mir entfernt, bis hin zu der Verleumdung, ich hätte die Scharia beleidigt. Die haben die ganzen religiösen Gefühle der arabischen Staaten mobilisiert. Die Situation war am Schluss sehr feindselig. Wenn ich nach Khartum kam, wurden meine Gesprächspartner zum Beispiel durch Straßensperren daran gehindert, zu mir zu kommen. Das war nur über Umwege und Hinterhöfe möglich.
Dülffer
Sie haben also versucht, auch zivilgesellschaftliche Kontakte zu knüpfen.
Baum
Hauptsächlich.
Ich war ein Mann der UN.
Dülffer
Aber die Regierung hat Sie ins Land reingelassen.
Baum
Es gibt andere Fälle, wo die Regierung das nicht getan hat. Mich hat sie reingelassen. Der deutsche Botschafter war sehr hilfreich. Ich sprach auch mit den anderen Botschaftern aus europäischen und nicht-europäischen Ländern, die sich um die Menschenrechte gekümmert haben. Ich führte von früh bis abends intensive Gespräche mit Journalisten, Politikern und Frauenorganisationen – alles auf dem UNO-Gelände, wo wir gegen Abhören sicher waren. Man hat uns behindert, natürlich auch die Regierung. Ich verbrachte stundenlang mit den Regierungsvertretern in großer Hitze, die mir ihre Widersprüche dargelegt haben. Ich erklärte ihnen die Grundzüge meines Berichts und gab ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme. Das alles kulminierte jedes Mal im dritten Ausschuss in New York. Dort mobilisierten sie ihre ganzen Freunde, die mir polemische Fragen stellten. Ich saß da oben auf dem Podium und sie schossen alle möglichen Fragen auf mich ab. Aber das war eine andere Situation als in Genf. Ich war in einer anderen Rolle, ich war ein Mann der UN.
Stahl
Können Sie etwas näher beschreiben, wie diese Berichte zustande kamen?
Baum
Das war sehr aufwändig, weil ich auch viele einzelne Menschenrechtsübergriffe einzeln in Anhängen dokumentierte. Ich hatte eine Mitarbeiterin der VN in New York, die das für mich machte. Sie begleitete mich auf den Reisen, führte das Protokoll und organisierte die Reisen – beispielsweise die Flugzeuge. Wir hatten im Sudan eigene UN-Flugzeuge. Das Land ist ja riesengroß. Die Berichte waren das Kernstück meiner Tätigkeit. Damals gab es schon das Internet, sodass die Leute Zugriff auf die Berichte hatten; auch die Opposition im Sudan. So wurden die Berichte in den immer wieder verbotenen Oppositionszeitungen thematisiert. Das führte dazu, dass die Sudanesen alles daran gesetzt haben, mich als Berichterstatter zu loszuwerden. Ich glaube, die letzte Resolution ist nach drei Jahren gescheitert und fand keine Mehrheit mehr; mein Mandat wurde nicht verlängert. Was ich nicht realisiert hatte, war, dass es bis heute eine starke Solidarisierung der kolonialisierten Völker gegen uns gibt. Ich hatte immer naiver Weise angenommen, dass man mit Indien und seinen klaren demokratischen Strukturen in Menschenrechtsfragen reden kann. Das ging auch bei dem ein oder anderen Punkt. Aber die Vorstellung, dass die alten Kolonialmächte sie mit ihren Meinungen dominieren wollten, stand stets im Vordergrund. Das war verführerisch für eine ganze Reihe von Staaten. Auf diesem Klavier haben zum Beispiel die Kubaner gespielt.
Dülffer
Auch gegenüber den Deutschen, die ja nun seit 1919 aus der afrikanischen Kolonialpolitik draußen waren?
Baum
Wir waren ja nicht alleine, wir hatten ja nur eine Stimme. Die haben immer gesagt: »Ihr Deutschen seid Teil der Festung Europa.« Die Festung Europa war ein Kampfbegriff. »Ihr kommt ja immer nur geschlossen mit einer Meinung!« Schäfer und ich haben versucht, uns aus dieser Festung heraus zu bewegen. Wir haben beispielsweise konspirative Treffen mit anderen Staaten gehabt, um eine Resolution zu besprechen, die dann am nächsten Tag von Ägypten oder Mexiko eingebracht worden ist; aber es war unsere Resolution.
Dülffer
Der Gegensatz zwischen der Festung Europa und den dekolonisierten Staaten – war das eine Konstellation, die Sie durchgängig beobachtet haben?
Baum
Die habe ich durchgängig beobachtet, ja.
Dülffer
Liegt das auch daran, dass Sie in vielen Fällen erst einmal versucht haben, eine gemeinsame europäische Position zu erarbeiten, die eine gewisse Geschlossenheit hatte?
Baum
Ja.
Dülffer
Inwiefern gab es dann eigentlich eine bundesdeutsche Menschenrechtspolitik?
Baum
Es gab eine europäische Menschenrechtsposition in den internationalen Gremien, die erarbeitet wurde. Sie ließ gewisse Spielräume, die man auch beeinflussen konnte. Ich erinnere mich aber noch, dass die damalige Militärdiktatur in der Türkei etwas milder angesehen wurde als andere Unterdrückerstaaten wie der Iran. Man hat die Türkei geschont in den Resolutionen. Es gab auch in der europäischen Position politische Opportunitäten – also Ungleichbehandlungen gleicher Tatbestände.
Dülffer
Wie schätzen Sie die heutige Situation der Menschenrechte ein? Wo sehen Sie die Fortschritte, Rückschritte und Gefährdungen?
Baum
Ich gehe zunächst auf das Positive ein. Im Laufe der letzten Jahrzehnte, überhaupt nach dem Kriege, sind die Menschenrechte stärker geworden. Sie sind auch als internationales Querschnittsthema der Politik stärker geworden. Sie sind nicht mehr wegzudenken aus den Beziehungen der Staaten untereinander. Dass Frau Merkel nach China fährt und keine Rede von Menschenrechten ist, das geht aus unserer Sicht einfach nicht; auch nicht aus Sicht anderer Staaten. Auch unser Instrumentarium ist stärker geworden, ich habe das schon erwähnt. Insbesondere wäre die Anklagebehörde in Den Haag zu nennen. Der Internationale Strafgerichtshof funktioniert sehr gut, es wird vieles gesammelt und bewertet. Die Straffreiheit ist eingedämmt. Das sind alles nur Ansätze, aber man kann eine positive Entwicklung beobachten. Habermas schreibt, dass der Mensch als Schutzobjekt im Völkerrecht immer stärker geworden ist. Auch der Mensch auf der Täterseite ist stärker im Fokus, beispielsweise des Internationalen Strafgerichtshofes.
Dülffer
Ist Den Haag nicht auch Teil dieses Gegensatzes zwischen kolonialisierten Ländern und der Festung Europa?
Baum
Nicht unbedingt – auch wenn zur Ziet vor allem gegen Afrikaner ermittelt wird. In Den Haag ist gerade ein Söldnerführer aus dem Ost-Kongo inhaftiert.[40]Dort sind schreckliche Sachen passiert. Ich habe auch mit Powell[41]darüber gesprochen, dass die Afrikaner jetzt im Fokus stehen. Aber ich weiß nicht, wen man dazu nehmen kann. In Südamerika haben sich die Verhältnisse im Laufe der Jahrzehnte eher verbessert. Das Positive ist, dass weltweit die Menschenrechte viel stärker zum Thema geworden sind. Das Instrumentarium hat sich verbessert. Das eigentliche Problem ist die Anwendung des Instrumentariums. Diese Entwicklung hat stattgefunden, obwohl die menschenrechtsverletzenden oder die menschenrechtsgleichgültigen Staaten bei den Vereinten Nationalen in der Mehrheit sind und im Sicherheitsrat mit Russland und China beispielsweise eine Veto- Stellung haben. Trotzdem: wenn man sich die Geschichte des Sicherheitsrats genau ansieht, gibt es erstaunliche Entscheidungen. Wir haben, glaube ich, 60 UN-Friedensmissionen und auch robuste Mandate, wie jetzt im Ost-Kongo. Auch der Sicherheitsrat hat sich der Dynamik des Themas nicht entziehen können. Zum Beispiel ist die Freigabe des Weges für Ermittlungen gegen den Sudan ein Sicherheitsratsbeschluss. Und zu Libyen wurde mittlerweile auch ein Entschluss gefasst.
Dülffer
Sie haben sich immer für die responsibilty to protect eingesetzt. Sehen Sie dieses Thema in der Gegenwart kritischer?
Baum
Nein. Ich sehe es als Zielvorstellung nicht kritischer. Diese ganze Konzeption der responsibility to protect besteht ja aus vielen Schichten und Phasen. Es geht ja nicht nur um Eingriffe wie die Bombardierung von Libyen, sondern es sind einige Phasen vorgeschaltet, bevor Gewalt angewendet werden kann. Es ist ein kompliziertes Gebilde. Im Grunde ist dieses Instrument aus meiner Sicht ein wichtiger Fortschritt in der Menschenrechtspolitik. Es geht darum, Menschen ganz sichtbar gegen die Übergriffe ihres eigenen Staates zu schützen. Der Mensch ist ein Bezugspunkt für die Menschenrechtspolitik. Der Täter kann sich nicht mehr hinter der Anonymität seiner Regierungsverantwortung verstecken. Das ist die eine Seite, die Lichtseite sozusagen.
Wenn man das so vorträgt, auch vor jungen Leuten, dann sagen die immer: »Aber Herr Baum, sehen Sie sich doch einmal um, was in der Welt alles passiert.« Das ist bedrückend. Das ist sehr bedrückend. Gerade momentan diese sich auflösenden Staaten, die überhaupt nicht mehr adressiert werden können, wo man sehr schwer noch Verantwortliche sieht, auf die man Einfluss nehmen könnte. Das ist eine Neuentwicklung, die ich mit großer Sorge sehe. In Nigeria, in Somalia – diese Völkergruppen überall. Die sind überhaupt nicht mehr erreichbar, auch nicht durch Verhandlungen. Das hat sich geändert. Und ich finde, ein gewisser Rückschlag ist in Russland zu sehen. Auch in anderen Staaten, die früher zur Sowjetunion gehörten. Da gibt es sehr starke autokratische Elemente. Es gibt unglaublich korrupte Elemente, die früher meines Erachtens nicht in dem Maße da waren. Bedrückend ist für mich, dass der neue Staat Süd Sudan, den wir aus der Taufe gehoben haben, in ein gegenseitiges Abschlachten hineingeraten ist. Mit unglaublicher Korruption haben die sich an internationalen Mitteln bereichert. Und dann der Wille, die Macht unbedingt zu behalten, um damit Geld zu verdienen und alle Mittel einzusetzen, die Menschen zu unterdrücken, um einen Regierungswechsel zu vermeiden! Regierungswechsel zu vermeiden ist eines der Hauptmotive, Menschenrechte zu verletzen.
Schließlich gibt es das Internet. Es ist insofern positiv, weil es Informationen transportiert und Menschen in die Lage versetzt, miteinander zu kommunizieren, Meinungen zu bilden, sich zu treffen. Es ist insofern negativ, weil es die Diktatoren in die Lage versetzt, Menschenrechtsverteidiger zu verfolgen. Ich habe jetzt in der Zeitung gelesen, dass diese Technologie in Deutschland endlich als Kriegswaffe eingestuft worden ist, weil sie dazu in der Lage ist, auch die Menschenrechtsunterdrückung zu forcieren.
Dülffer
Sehen Sie eine spezielle Rolle Deutschlands, die jetzt verstärkt werden müsste?
Baum
Auch in dieser Hinsicht macht Frau Merkel das nicht schlecht. Sie hat bei ihrem ersten Besuch in Amerika Guantanamo angesprochen. Sie hat Obama bei ihrem letzten Besuch auf der Pressekonferenz im Rosengarten vor der Öffentlichkeit deutlich auf die Meinungsverschiedenheiten beim Thema NSA hingewiesen. Sie hat Herrn Putin immer wieder konfrontiert mit Menschenrechtsverletzungen, zum Beispiel als diese Pussy-Riot-Frauen verurteilt worden sind. Sie hat Menschenrechte in China zum Thema gemacht, ohne dass sie damit ihre Wirkungsmöglichkeiten beschränkt hätte. Was ich immer gesagt habe: Diese Staaten oder diese Menschen, die man kritisiert, – die wären meines Erachtens ganz erstaunt, wenn man das nicht täte. Die Überlegung, dass Wirtschaftsaufträge davon abhängen, ist viel zu kurz gesprungen. Wenn die Leute wirklich ein wirtschaftliches Interesse haben, ein Produkt zu kaufen, dann lassen die sich durch eine Menschenrechtsposition von Daimler nicht beeinflussen. Außerdem wäre es würdelos, in Tauschgeschäften das Schweigen zum Thema Menschenrechte gegen Produkte einzutauschen. Das wäre verheerend. Für mich ist die KSZE-Schlussakte nach wie vor eine Richtschnur: Man kann über Beziehungen die Situationen verbessern. Man kann sowohl mit Wirtschaftsbeziehungen als auch mit Menschenrechten den Frieden erhalten oder herstellen. Man darf nicht vergessen, dass das zusammengehört. Menschenrechte sind ein Thema in den internationalen Beziehungen, das nicht untergeordnet werden kann, das aber auch andere Themen nicht dominiert, es sei denn, es gibt bestimmte Situationen. Diese Grundphilosophie der KSZE-Schlussakte, an der habe ich mich immer orientiert.
Stahl
Und wie beurteilen Sie die aktuelle Außenpolitik mit Blick auf die Reden von Gauck, Steinmeier und von der Leyen, die eine stärkere internationale Rolle Deutschlands fordern?
Baum
Das ist ja nicht neu. Man erinnere sich an frühere außenpolitische Engagements. Wir waren doch jahrzehntelang nicht untätig. Das ist nun auch responsibility to protect. Ich fand die Libyen-Entscheidung der deutschen Regierung fatal. Das ist wahrscheinlich das einzige, was von der Amtszeit des Herrn Westerwelle in Erinnerung bleiben wird. Er hätte merken müssen, dass die Amerikaner ihre Position verändern. Ich habe mich mit einem deutschen Diplomaten unterhalten, der dabei war. Er sagte, die Amerikaner hätten ihre Position sehr schnell geändert. Die Deutschen haben nicht reagiert. Das Kanzleramt war auf der gleichen Linie wie der Außenminister. Es hat sich aber schön hinter Westerwelle versteckt. Kein Mensch nennt in diesem Zusammenhang das Kanzleramt, sondern nur Herrn Westerwelle. Das eigentlich Fatale war, dass wir uns aus der Gemeinschaft der westlichen Staaten herausbewegt haben. Und das war unklug, ganz abgesehen von der Frage, ob es nun berechtigt war oder nicht. Es war ein diplomatischer Fehler aus einer falschen Doktrin heraus: Politik der militärischen Zurückhaltung. Wer will das nicht, aber es geht eben nicht immer.
Dülffer
Herr Baum, wir sind am Ende. Wir können uns nur bedanken für Ihre Konzentriertheit und Anschaulichkeit.
Lebensgeschichtliches Interview mit Gerhart Baum, 27.11.2014, in: Quellen zur Geschichte der Menschenrechte, herausgegeben vom Arbeitskreis Menschenrechte im 20. Jahrhundert, URL: www.geschichte-menschenrechte.de/gerhart-baum/