Quellenzur Geschichte derMenschenrechte

Gladis Sepúlveda

Die Menschenrechtsverbrechen, die unter der argentinischen Militärjunta zwischen 1976 und 1983 begangen wurden, spielten in den Kampagnen der sich international formierenden Menschenrechtsbewegung der siebziger und achtziger Jahre eine wichtige Rolle. Gladis Sepúlveda (*1952) studierte zum Zeitpunkt des Militärputsches soziale Arbeit in der Provinzhauptstadt Neuquén und war politisch aktiv. Sie gehörte zu jenen Zehntausenden von Aktivisten, die nach dem Putsch verhaftet und gefoltert wurden. 1978 erhielt sie Asyl in der Bundesrepublik und konnte Argentinien verlassen. In Deutschland bemühten sich verschiedene Menschenrechtsgruppen um ihr Wohl und sie begann, sich in diesen Kreisen zu engagieren. Nach dem Ende der Militärdiktatur kehrte sie nach Neuquén zurück und begann zögerlich, sich gedenkpolitisch zu engagieren und in Gerichtsprozessen wegen Menschenrechts­verletzungen der Junta als Zeugin aufzutreten.

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Interview

Das Interview führte Dr. Daniel Stahl, Wissenschaftlicher Sekretär des Arbeitskreises Menschenrechte im 20. Jahrhundert, am 11. März in den Räumen der Universität Comahue in Neuquén, an der Gladis Sepúlveda arbeitet. Dem Interview, das auf Spanisch geführt wurde, war ein kurzes Kennenlernen am Tag zuvor vorausgegangen. Dabei hatte Frau Sepúlveda betont, dass es ihr wichtig, sei, über ihre Erfahrungen in Deutschland zu berichten. Die Begegnung mit Frau Sepúlveda fand im Rahmen der Arbeiten des Thematischen Netzwerkes zum Transnationalen Wandel am Beispiel Patagoniens statt. Das von der DAAD gefördert Projekt wird von Prof. Dr. Claudia Hammerschmidt, Professorin für Romanische Literaturwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, geleitet.

Daniel Stahl
Frau Sepúlveda, würden Sie mir zunächst etwas über Ihre Herkunft und Kindheit erzählen?

Gladis Sepúlveda
Ich bin Tochter von Arbeitern. Mein Vater hatte keine feste Arbeitsstelle, er war sozusagen ein Tagelöhner: Mal arbeitete er als Maurer, mal als Gärtner, mal im Obstbau. Meine Mutter ebenso. Ich bin 1952 geboren. Damals wurde in dieser Gegend, im Nordwesten Patagoniens, noch sehr viel mehr Obst angebaut als heute. Wunderschöne Landschaften waren das damals. Mittlerweile hat das Geschäft mit dem Öl hier alles verändert, rund um El Chocón zum Beispiel haben die Bauern ihr Land Stück für Stück verkauft, damit Wohngebiete entstehen konnten. Dadurch ging der Obstanbau zurück.[1]

Ich komme also aus einer Arbeiterfamilie und bin sehr stolz darauf. Von klein auf habe ich Arbeiterproteste miterlebt, unter anderem für höhere Löhne. Ich erinnere mich noch gut, wie in dem Jahr, in dem ich in die Schule kam, der erste Streik stattfand. Ich war davon schwer beeindruckt, weil Arbeiter, die sich dem Streik verweigerten, mit Ketten an Türen gefesselt wurden. Mein Vater erklärte mir damals einerseits, dass diese Aktionen eigentlich nicht notwendig seien, weil sie arme Arbeiter träfen, die die Dimension des Ganzen einfach nicht begriffen. Trotzdem beschimpfte er sie gleichzeitig als Streikbrecher. 

Stahl
Wie sah der Arbeitsalltag Ihrer Eltern aus?

Sepúlveda
Im Sommer arbeiteten meine Eltern immer in einer Lagerhalle, einer Art Sammelstelle für geerntete Äpfel. Meine Mutter sortierte das Obst gemeinsam mit anderen Frauen in die Kategorien »Export«, »unbrauchbar« oder »Verkauf im Inland« – die besten Früchte waren immer für den Export reserviert. Mein Vater verpackte die Äpfel im Anschluss mit den anderen Männern. Und im Winter arbeitete er als Maurer oder Gärtner. Wobei ich mitbekam, wie sich die Phase der Apfelernte mit der Verbreitung des Kühlschranks deutlich verlängerte und entspannte. Bevor es Kühlschränke gab war das eine sehr intensive Schichtarbeit. Meine Mutter musste täglich ungefähr von 7 Uhr morgens bis 12 Uhr mittags, von 15 Uhr bis 20 Uhr und von 22 Uhr bis 24 Uhr arbeiten. Meine Geschwister und ich waren damals ja noch Kinder und ich kümmerte mich in diesen Zeiten immer um meine jüngeren Brüder. Ich bin die älteste von drei Geschwistern, meine Brüder sind zwei beziehungsweise vier Jahre jünger als ich. Das waren zwei wilde Jungs (lacht)!

Stahl
Mal abgesehen von diesen familienfeindlichen Arbeitszeiten, wie waren die Bedingungen sonst, zu denen Ihre Eltern arbeiteten?

Sepúlveda
Sehr schlecht. Teilweise durften sie nicht einmal auf die Toilette gehen, es gab keine Pausen oder Schutzkleidung. Die Düngemittel verursachten bei den Arbeitern schlimme Krankheiten und die Löhne waren sehr niedrig. Als die Arbeiter anfingen, höhere Löhnen zu verlangen, war mein Vater ein Vertreter der Gewerkschaft Sindicato de la fruta.[2] Die Gewerkschaftler gingen als Verlierer aus dem ersten Streik hervor. Als sie am Tag darauf wieder demonstrieren gingen, wurde mein Vater von Militärs verhaftet und geschlagen. Das muss ungefähr 1959 gewesen sein. Die ganze Sache wurde noch komplizierter, als der Anwalt, der die Gewerkschaftler eigentlich vertreten sollte, stattdessen mit dem Honorar abhaute. Danach war es für meinen Vater schwieriger, Arbeit zu finden. Er musste schließlich in einem weit von zuhause entfernten Steinbruch arbeiten.

Mein Vater sagte immer zu mir, dass ich später unbedingt studieren solle. Das wäre das beste Erbe, das er mir hinterlassen könne. Er selbst war nur bis zur dritten Klasse in die Schule gegangen, dann musste er arbeiten gehen. Aber ich konnte immer zur Schule gehen. 1969 schloss ich die Secundaria[3] ab und konnte anfangen, selbst als Lehrerin zu arbeiten.

Stahl
Wenn Sie an Ihre Schulzeit denken: Erinnern Sie sich an bestimmte Lehrer, die Sie besonders geprägt haben? 

Sepúlveda
An einen besonderen Lehrer erinnere ich mich eigentlich nicht. Aber die christlichen Werte, die uns in der Schule vermittelt wurde, prägten mich sehr – das Konzept der Nächstenliebe zum Beispiel. Mein Vater sagte mir immer, dass es sehr wichtig sei, viel zu lesen und das tat ich dann auch. Ich las beispielsweise die Biographie Albert Schweitzers, Geschichte einer Nonne, oder Die Brüder Karamasow. In meiner Jugend habe ich fast alle russischen Autoren gelesen. Konkrete Erinnerungen an die Secundaria aber habe ich fast keine. Ich erinnere mich nur daran, dass meine Brüder dort immer mit mir verglichen wurden und die Lehrer gar nicht glauben wollten, dass wir Geschwister seien, weil sie einfach nicht so gut wie ich in der Schule waren. Ich merke erst jetzt, wie gemein das eigentlich war. Vielleicht gingen sie vor allem deshalb vorzeitig von der Schule ab. 

Stahl
Sie waren also eine gute Schülerin?

Sepúlveda
Ja, ich war eine gute Schülerin, wobei ich hin und wieder schon auch schlechtere Noten schrieb. Aber ich fing an, mich für modernere pädagogischen Theorien zum Beispiel von Piaget zu interessieren; Ideen, die das bestehende System und inklusive seiner Unterrichtsmethoden kritisch hinterfragten. Mein Vater war sehr autoritär. Was er sagte, war sozusagen Gesetz (lacht). Aber ich war als Jugendliche rebellisch und provozierte zu Hause gerne. An diese Geschichten, die ich hier nicht im Detail ausbreiten werde, erinnere ich mich noch sehr gut (lacht).

Stahl
Wie kam es dazu, dass Sie schließlich beschlossen, Soziale Arbeit in der Provinzhauptstadt Neuquén zu studieren?

Sepúlveda
Ich arbeitete ja bereits als Lehrerin. Mein Ziel dabei war es immer, bei den Schülern ein Bewusstsein für eine bessere Welt zu wecken und sie dazu zu bringen, sich dafür einzusetzen. Ich wollte verhindern, dass sie nur in ihren eigenen vier Wänden hocken. Seit meiner Schulzeit war es mir wichtig, durch das Christentum die Welt zu verändern. Ich ging in verschiedene Stadtviertel und versuchte, den Katechismus zu lehren. Allerdings blieb diese Arbeit ohne rechte Wirkung. An der Universität wurde ich für meine Überzeugungen heftig kritisiert (lacht). Das führte dazu, dass ich langsam zur Atheistin wurde. 

Als Sozialarbeiter wollten wir nicht mehr nur zu Bedürftigen gehen, um ihnen Hilfsgüter zu bringen. Wir wollten mit ihnen gemeinsam die Welt verbessern.

Ich entwickelte neue Ideen und auch unser Studiengang an sich veränderte sich in dieser Phase. Bis dahin waren die Sozialarbeiter zwar Leute mit Universitätsabschluss, aber im Grunde verteilten sie nur ein bisschen Geld. Ich suchte nach Methoden, wie man an Schulen wirksam soziale Arbeit leisten konnte. Dafür war ich schließlich an die Universität gegangen. Der Sozialdienst entwickelte sich damals langsam erst hin zur Sozialen Arbeit. Man wollte also nicht mehr nur zu Bedürftigen gehen, um ihnen Hilfsgüter zu bringen oder sie über gesunde Ernährung aufzuklären. Wir wollten mit ihnen gemeinsam die Welt verbessern. So lasen wir viel von Paulo Freire, dem brasilianischen Pädagogen. Er brach mit der bis dahin vorherrschenden Beziehung, in der sich Lehrer und Schüler begegneten, indem er sagte, dass der Lehrer auch immer vom Schüler lerne. In seiner Theorie war der Lehrer Lehrender und Schüler zugleich. Und andersherum: Der Schüler war Schüler und Lehrender. Dieser Bruch mit der bisherigen Lehrstruktur erschien mir spannend und richtig. Der Lehrer geht ja nicht zu seinen Schülern und drückt ihnen für sie neues Wissen ohne Weiteres auf.

Mich überzeugte dieser Ansatz also sehr, mein Anliegen war es schließlich, die Welt zu verändern. Ich wollte keine hungernden Schüler im Unterricht sitzen haben, die so schwach waren, dass sie mir einschliefen. Während der Ausbildung zur Lehrerin wird dir auch nicht konkret beigebracht, wie du mit Kindern, die mit solch essentiellen Problemen zu kämpfen haben, umzugehen hast. Aber wenn du als Lehrerin an eine Schule am Stadtrand geschickt wirst, ist das nun einmal die Realität. Ich konnte den Kindern vielleicht von meinem Gehalt, das auch nicht allzu groß war, ein paar Hefte kaufen. Aber sehr viel mehr konnte ich ihnen auch nicht helfen. Auf der anderen Seite hatte ich zuhause zumindest genug zu essen – mit dieser Situation klar zu kommen, war nicht einfach. Ich weiß noch, dass ich mir in den siebziger Jahren mit meinem ersten Gehalt eine Schreibmaschine kaufte, was heute vergleichbar wäre mit einem Computer oder einem Notebook. 

Stahl
Während Sie zur Universität gingen, arbeiteten Sie also parallel als Lehrerin?

Sepúlveda
Ja, genau. Zeitweise hatte ich sogar zwei Arbeitsstellen. Anfangs war ich Lehrerin in meiner Geburtsstadt Cipolletti. Die Arbeit dort war durch die vielen Elterngespräche sehr zeitintensiv und ich merkte, dass ich so mein Studium nicht würde abschließen können. Also begann ich 1974 an der Universität zu arbeiten, was im Nachhinein betrachtet gar nicht so gut war, weil 1976 bereits der Putsch stattfand (schmunzelt). 

Allerdings hatte ich zu dieser Zeit noch einen weiteren Job… Die argentinische Geschichte ist ja geprägt von dem Wechsel zwischen demokratisch gewählten Regierungen und Militärputschs. 1973 kehrte Perón zurück.[4] Mein Vater war entschiedener Peronist – ich hingegen gehörte aus Rebellion und wegen meines Alters nicht zu seinen Anhängern (lacht). Damals kam es auch zu verschiedenen Studentenprotesten, wie dem Cordobazo.[5] Die Studentenproteste aus anderen Ländern – beispielsweise Deutschland – schwappten Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre nach Lateinamerika über. 

Nun gut, im Jahr 1973 übernahm also Campora[6] die Regierungsgeschäfte, um sie später Perón zu übertragen. Die politischen Gefangen kamen wieder auf freien Fuß. Bis dahin war es ja bereits zu verschiedenen Befreiungsaktionen gekommen, das Massaker von Trelew ist ein Beispiel dafür.[7] Ich hatte damals großes Verständnis für diese Befreiungsversuche, sympathisierte immer mehr mit Ché Guevara und Kuba. 

Wir konnten uns mit keiner der traditionellen politischen Parteien identifizieren.

Gleichzeitig aber geriet der Bereich der Sozialen Arbeit, der damals noch Sozialer Dienst genannt wurde, in eine Krise. Wir Studenten verstanden uns damals als agentes del cambio – als Akteure des Wandels. Wir änderten den Namen des Studiengangs und des akademischen Titels, weil wir damit einen anderen Arbeitsansatz ausdrücken und vermitteln wollten. Wir wollten eine gute Arbeit machen, aber uns wurde klar, dass das nicht reichen würde, um die Welt und ihre Strukturen zu verändern. Wir bemerkten, dass ein tiefgreifender Wandel nur mittels der Politik möglich sein würde. Aber wir konnten uns mit keiner der traditionellen politischen Parteien identifizieren. Und militante Organisationen wie die Montoneros und das Ejército Revolucionario del Pueblo (ERP) sagten mir nicht zu, weil ich den bewaffneten Kampf von Grund auf ablehne. Ich engagierte mich schließlich in der Arbeiterpartei Partido Revolucionario de los Trabajadores (PRT). Allerdings konnte ich das nicht lange machen, da ich schon nach kurzer Zeit festgenommen wurde. Das muss ungefähr im Jahr 1975/76 gewesen sein, kurz bevor ich mit dem Studium fertig wurde. 

Stahl
Wen genau meinen Sie, wenn Sie in Ihrer Studienphase von „wir“ und „uns“ sprechen?

Sepúlveda
Wenn ich von dieser Zeit erzähle, dann spreche ich stellvertretend für alle ehemaligen politischen Gefangenen der siebziger Jahre. Das machen wir eigentlich alle so, weil wir uns damals als gemeinsam handelndes Kollektiv empfanden. Mit dem »wir« beziehe ich letztendlich die Kommilitonen aus meinen Studiengang mit ein. 

Stahl
Zählten Sie sich bereits vor 1975 zu einer politischen Gruppe?

Sepúlveda
Nein, eigentlich nicht. Wir wussten zwar, dass es verschiedenen Gruppierungen gab. Wir Studenten der Sozialen Arbeit initiierten eine Studentenvertretung, aber das hatte ja eigentlich jeder Studiengang. Von dort aus leisteten wir Widerstand gegen die Rektoren, die ja »von oben« eingesetzt worden waren. Wir sahen uns im Kampf für die Nationalisierung des universitären Systems, das bis dahin auf regionaler Ebene geregelt wurde. Aber ein so regionales Universitätssystem stand immer unter einem großen Einfluss der lokal einflussreichen Politiker und Unternehmer. Und die Abschlüsse, die man an den Universitäten machen konnte, galten nicht landesweit, sondern nur in der Region, in der man sie erhalten hatte. Das waren zwei der zentralen Punkte, die wir verändern wollten. Außerdem waren wir der Überzeugung, dass die Universität im Dienste der Bevölkerung stehen sollte. Schließlich war es nur durch Steuergelder möglich, dass das Studieren nichts kostete. Eine weitere zentrale Forderung von uns zielte damals darauf ab, die freie Meinungsäußerung zu schützen.

Stahl
Wie wirkten sich die Studentenproteste im Jahr 1968 auf die Region aus, in der Sie studierten?

Sepúlveda
Ungefähr 1969 kam es hier in El Chocón vermehrt zu Arbeiterprotesten und Streiks für bessere Arbeitsbedingungen und Löhne. Wir als Studenten solidarisierten uns damals mit diesen Protesten. Sogar Monseñor Jaime de Nevares war damals sehr aktiv in diesem Rahmen.[8] Unser gemeinsames Motto hieß in etwa »Estudiantes y trabajadores, unidos y adelante! – Studenten und Arbeiter, vereint und vorwärts!« Dieser gemeinsame Kampf hatte damals eine große Bedeutung. Ich erinnere mich, dass die Kooperation sich selbst auf die Welt des Theaters auswirkte. Es gab Aufführungen, die ausschließlich von Studenten und Arbeitern gespielt wurden, wie zum Beispiel die Kantate Santa María de Iquique. Wir Studenten beteiligten uns an jedem der Arbeiterstreiks, was sehr wichtig war. Und wenn wir mal Hilfe brauchten, standen uns wiederum die Arbeiter bei. Nach und nach ebbte das aber ab und die Zusammenarbeit löste sich auf.

Hauptsächlich aber waren es die Studenten, die den Arbeitern beistanden, weil die meisten Studenten parallel zum Studium arbeiten gingen. Mittlerweile ist das ja viel schwieriger geworden, neben dem Studium zu arbeiten, weil die Stundenpläne sich sehr verändert haben. Heute ist das, wenn überhaupt, dann nur noch stundenweise oder am Wochenende möglich. 

Stahl
In Argentinien ist immer von militancia die Rede, wenn über eine bestimmte Art des sozialen und politischen Engagements gesprochen wird. Können Sie erklären, was genau man in Argentinien unter diesem Konzept versteht?

Sepúlveda
Das ist etwas schwierig (lacht). Ich glaube, dass die militancia für viele eine Art Freiwilligendienst in Armenvierteln ist. Sie verteilen Essen an die Armen, greifen den Bedürftigen dort wirtschaftlich und sozial etwas unter die Arme und gehen abends wieder nach Hause. Für mich persönlich aber ist die militancia ein umfassender Lebensentwurf. Es geht mir dabei nicht darum, ein gutbürgerliches Leben zu führen und ab und zu den Bedürftigen ein paar Stunden meiner Zeit zu schenken. Ich finde, dass man sich all die komplexen Problematiken, die in einem solchen Armenviertel aufkommen, bewusst machen und überall organisierte Hilfe und Unterstützung anbieten sollte, wo sie benötigt wird. Die militancia ist eine Art Lebenshilfe. Es geht nicht darum, dass man einem Viertel dies und jenes zukommen lässt, was es benötigt. Vielmehr geht es darum, einen Ideenwandel im weiteren und engeren Umfeld der militantes zu erreichen, Dinge zu hinterfragen, die einem aufgrund der eigenen Erziehung selbstverständlich erscheinen. Warum sollten Mädchen nur mit Puppen spielen können, wenn sie doch später auch Auto fahren werden? Bei uns in der Gruppe war es uns zum Beispiel immer wichtig, Dinge wie kochen oder den Tisch decken, gemeinsam zu machen. Da gab es niemanden, der den anderen bedient hat oder ähnliches.

Stahl
Wie sah bei Ihnen persönlich die militancia aus?

Sepúlveda
Ich bin in einem bescheidenen Haus und Viertel aufgewachsen. Mein Vater kaufte im Jahr 1965/66 mit hart erspartem Geld ein Grundstück und baute nach und nach unser Haus aus und wir halfen ihm dabei. Meine Kommilitonen und ich sagten damals immer, dass man sich »proletarisieren« müsse. Damit meinten wir, dass man bewusst in Armenviertel ziehen sollte. Ich lebte eine kurze Zeit auch in einem ziemlich heruntergekommenen Haus und Viertel. Allerdings wurde das schnell zu gefährlich, weil ich immer erst sehr spät abends aus der Universität nach Hause kam. Und letzten Endes musste ich mich in dem Sinne auch nicht proletarisieren, weil ich ja aus keiner reichen Familie kam, sondern aus einer Arbeiterfamilie. Meine Aufgabe wäre es eher gewesen, mich mit meiner Familie über unsere politischen Anliegen zu unterhalten. Aber so etwas gestaltet sich zwischen Kindern und Eltern ja oftmals nicht so einfach (schmunzelt).

Als ich im Gefängnis war, lernte ich junge Menschen kennen, die gemeinsam mit ihren Eltern für diese Anliegen eingetreten waren. Ich schaffte es aber nie, mit meinem Vater einen solchen Dialog herzustellen, weil er eben sehr autoritär und außerdem Peronist war. Wie stolz er wohl heute auf mich wäre, weil ich bei den letzten Wahlen Cristina Kirchner[9] unterstützt habe (lacht). Ich finde, dass sie es endlich geschafft hat, den Peronismus zu überwinden. Meine Eltern sind aber beide bereits gestorben.

Stahl
Sie lebten während Ihrer Zeit als militante bewusst in einem sehr armen Viertel?

Sepúlveda
Eigentlich nicht, nein. Ich habe mich dort lediglich eine kurze Zeit um eine Kommilitonin gekümmert, die sehr unter dem Tod ihres Bruders litt. Aber richtig gelebt habe ich dort nie. Ich bin allerdings recht früh wegen familiärer Probleme, die mich am Studieren hinderten, von zu Hause ausgezogen. Mein Studium beendete ich letztendlich trotzdem nicht (lacht).

Stahl
Trafen Sie sich mit Ihren Kommilitonen zu regelmäßigen Veranstaltungen?

Sepúlveda
Ja, in dieser kurzen Zeit der militancia gab es das auf jeden Fall. Wir nahmen beispielsweise regelmäßig an Streik- und Protestaktionen in verschiedenen ländlichen Regionen teil. Das war mir damals auch sehr wichtig. Unser Studienplan sah vor, dass wir praktische Erfahrung im ländlichen Bereich sammeln sollten. Und so gingen wir als Praktikanten in comisiones vecinales,[10] nahmen an deren Treffen und Aktionen teil und machten zugleich Vorschläge, um deren Arbeit zu professionalisieren.

Stahl
Was genau ist eine solche comisión vecinal?

Sepúlveda
Das sind Vertretungen der einzelnen Stadtviertel, die sich mit lokalen Problematiken auseinandersetzen. Beispielsweise kümmern sie sich darum, dass die Müllabfuhr richtig funktioniert, melden den städtischen Behörden, wenn die Wasser- oder Stromversorgung im Viertel nicht ausreichend ausgebaut ist oder organisieren die Kinderbetreuung für arbeitende Eltern. Vor allem die gewählten Vorsitzenden der einzelnen Nachbarschaftsausschüsse stehen im direkten Kontakt mit den städtischen Behörden und melden ihnen die aufkommenden Anliegen und Probleme. 

Als Studenten beteiligten wir uns an Streiks in einzelnen Firmen und Unternehmen, wenn die dortigen Arbeiter für bessere Arbeitsbedingungen protestierten.

Dort engagierten wir uns damals sehr, was heute kaum noch gemacht wird. Damals waren wir auch stark in die Protestaktionen auf der lokalen Ebene involviert. So beteiligten wir uns an Streiks in einzelnen Firmen und Unternehmen, wenn die dortigen Arbeiter für bessere Arbeitsbedingungen protestierten oder ähnliches. Ich persönlich nahm zwar nicht an solchen Aktionen teil, eigentlich gehörte das aber fest zu unserer damaligen militancia dazu. Wir verbanden immer unseren vorgegebenen Stundenplan damit, uns für die Anliegen und Belange der Armenviertel einzusetzen. 

Man hätte diese Universitäts-Praktika auch hinter einem Schreibtisch machen können. Aber das war einfach nicht das Gleiche, wie selbst auf die Familien und Menschen zuzugehen, um mit ihnen direkt zu arbeiten. Ein großes Anliegen unseres Professors für die Geschichte der Sozialen Arbeit, Luis María, der später umgebracht wurde, war es immer, auch die ärmere Bevölkerung dazu zu bringen, an die Universität zu gehen. Das Ziel war also nicht bloß, dass eine intellektuelle Schicht in diese bedürftigen Viertel ging, um zu helfen. Es sollte einen gleichberechtigten Austausch geben. Das waren wirklich tolle Projekte, die wir damals anstießen. Wir wollten interdisziplinär und fachübegreifend arbeiten. Beispielsweise initiierten wir damals gemeinsam mit den Fakultäten für Agrarwissenschaften und für Ingenieurwesen ein Projekt, um den Wohnungsmangel zu bekämpfen. Unsere Idee dabei war eine Art Wohnungsgenossenschaft ins Leben zu rufen. Damals fuhren wir nach Tucumán, um uns dort vor Ort solche Wohnungsgenossenschaften anzusehen. 

Tolle Projekte gab es dort aus dem Jahr 1966. Damals übernahm Onganía[11] die Regierungsgeschäfte und schloss viele kleine landwirtschaftliche Betriebe. Das hatte zur Folge, dass die vielen dort angestellten Landarbeiter arbeitslos wurden. Auf Initiative eines Bauingenieurs gründeten dann rund 180 Familien jener arbeitslos gewordenen Landarbeiter eine solche Wohnungsgenossenschaft. Diese kinderreichen Familien lebten damals unter sehr schlechten Bedingungen. Als wir dort waren, schliefen wir unter einem Strohdach, das von vier einfachen Holzstäben gehalten wurde. Die Arbeit dieser Genossenschaft beeindruckte mich damals trotzdem sehr.

Ich erinnere mich vor allem an einen, der auf einer Versammlung der Genossenschaft erzählte, dass er ursprünglich ein Trinker gewesen war. Erst als er sich für etwas engagieren konnte, das seiner Familie und ihm selber zu Gute kam, habe er sein Alkoholproblem hinter sich lassen können, indem er sich in die Arbeit stürzte. Diese Geschichte verdeutlichte, wie wichtig persönliche Motivation und Ziele für die Menschen sind. Das langfristige Ziel dieser Menschen dort war es, sich würdige Häuser zu bauen und ihren Kindern in der Nähe eine Schule zu errichten. Sie organisierten sich untereinander, um sich ein besseres Leben zu ermöglichen. Das ging sogar so weit, dass sich die Frauen miteinander absprachen, um Klamotten für alle zu nähen. Sie kauften Stoff in Buenos Aires und nähten dann die Kleidung für alle Mitglieder. Schließlich stellten sie auch eine Lehrerin für die Kinder ein, später vergrößerte sich das Lehrangebot und es gab eine richtige Schule. 

Stahl
Wurde dieses Konzept der Wohnungsgenossenschaften an der Universität gelehrt?

Sepúlveda
Wir lernten es hauptsächlich bei einem Kongress der Genossenschaften kennen, an dem wir teilnahmen. Genossenschaften waren und sind ja letztlich auch nichts anderes als Unternehmen, deren ursprünglich höchster Wert der Solidarität in einem kapitalistischen System verloren geht. Wenn plötzlich Geld ins Spiel kommt, sind diese Konzepte schwer aufrechtzuerhalten (lacht). 

Viele dieser Genossenschaften hielten sich auch nicht lange. Solche Projekte brauchen ja eine gewisse Anlaufzeit, was aber den Mitgliedern, die in Not lebten, oft zu lange dauerte. Diese eine Genossenschaft, von der ich erzählte, aber etablierte sich letztlich als kleines Stadtviertel. Sie bauten eine Schule auf und schickten sogar einen der Söhne auf die Universität, damit er lernte, wie man guten Zucker abbaute, um so wiederum ihr Einkommen zu verbessern. Generell waren sie sehr darum bemüht, dass ihre Kinder studierten. 

Stahl
Wie genau setzte sich zu Ihrer Studienzeit die Studentenschaft zusammen? Sie kamen ja eher aus dem Arbeitermilieu – war das damals die Regel unter Ihren Kommilitonen? 

Sepúlveda
Nein, das war sehr gemischt sowohl unter den Studenten, als auch unter den militantes. Ché Guevara kam ja beispielsweise auch nicht aus einem einfachen Elternhaus, sondern hatte Akademikereltern, glaube ich. Das Gute und Prägende damals war, dass wir alle gleichzeitig studierten und arbeiteten. Ich sehe das jetzt im Vergleich mit der Studienzeit meiner Töchter. Mir war es immer wichtig, dass sie studierten und zwar ein Fach, dass sie auch wirklich interessierte. Die finanzielle Entschädigung, die ich für meine Jahre im Gefängnis erhalten habe, hob ich für das Studium meiner Töchter auf. Ich wollte es für keine großen Paläste ausgeben, sondern dafür, dass meine Töchter an einer staatlichen Universität studieren konnten. Und so mussten die beiden nie arbeiten gehen während ihres Studiums, obwohl ich eigentlich immer wollte, dass sie es trotzdem machten (lacht). Die eine beendet gerade ihr Studium der Genetik und die andere ist Theaterlehrerin. 

Die Zeit hat sich im Allgemeinen sehr verändert – auch in politischer Hinsicht. Zwischen 1970 und 1976 herrschte eine große Solidarität. Das Ambiente, in dem man lebte, war einfach ein ganz anderes. Erst mit der Regierung Cristina Kirchners kehrte diese Stimmung wieder ein wenig ins Land zurück. Was ich an mir selber kritisiere, ist, dass ich etwas zu beschützerisch meinen Töchtern gegenüber war und bin. Aber das ist etwas, das sich nicht so leicht abstellen lässt (schmunzelt).

Stahl
Wie war damals das Verhältnis zwischen den Studenten, die aus Arbeiterfamilien kamen und denen, die eher in einem akademischen Umfeld aufgewachsen waren?

Sepúlveda
Wir finanzierten uns unser Studium ja fast alle selber durch unsere Arbeit. Damals gab es viele Studenten an den Universitäten, die aus den niedrigeren Schichten kamen. Deren Rahmenbedingungen für das Studium waren teilweise sehr hart. Manche wohnten fünf Kilometer entfernt von der Universität und mussten jeden Tag diese Strecke zu Fuß hin- und zurückgehen. Immer wieder fielen Studenten wegen Unterernährung in Ohnmacht. Das war aber nicht der Durchschnitt unter den Studenten. Ich beziehe mich auf die Geisteswissenschaften, bei den anderen Studiengängen kenne ich mich nicht so aus. Ich weiß auch gar nicht so genau, ob heute viele Arbeiterkinder an die Universität gehen. Mir scheint, früher war das üblicher. 

In den siebziger Jahren war es aber eben noch möglich, parallel zu studieren und zu arbeiten. Und es war eine Zeit, in der die Revolution kurz bevorstand, wie wir glaubten. Ja, es schien uns greifbar, eine Revolution nicht zuletzt mit Waffen durchzuführen. Wobei ich mich nie dazu durchringen konnte, Waffen zu nutzen. Aber die Zeit war geprägt von Aufruhr. Die Geschehnisse in anderen Ländern motivierten uns. Die neuen Theorien des Christentums, des Marxismus, des Sozialismus erreichten uns und veränderten die Wissenschaften grundlegend. All das brachte uns zum nachdenken.

Stahl
Lehrten die Professoren an den Universitäten diese neuen Theorien?

Sepúlveda
Nicht alle, manche waren doch noch sehr traditionell. Manche diktierten uns beispielsweise ihre Vorträge und wir hatten sie dann auswendig zu lernen, was ja eigentlich ein absoluter Schwachsinn war (schmunzelt). Eine Sache ist es, ein Gedicht auswendig zu lernen. Aber ein Konzept über die Gemeinschaft auswendig lernen? In den siebziger Jahren hatten wir aber durchaus auch Professoren, die uns zum Nachdenken anregten und uns näherbrachten, vieles kritisch zu hinterfragen. Dafür war ich nach dem Studium am Dankbarsten. 

Stahl
Was waren Ihre ersten Gedanken und Reaktionen, als Sie vom Militärputsch erfuhren?

Sepúlveda
Das war ein schwieriger Moment, weil wir sahen, dass die Gunst der Stunde auf Seiten des Militärs war. Wir fragten uns, was wir machen sollten. Eine Menschenrechtsaktivistin, die wir kannten, organisierte Treffen, um Ideen zu sammeln, was die Jugend, die dem Putsch schutzlos ausgeliefert war, nun tun könne. Schließlich wurden sofort das Recht der freien Meinungsäußerung und die Versammlungsfreiheit stark eingeschränkt. Wie sollten sich die Jugendlichen also fortan beschäftigen und organisieren? In was für einer Welt würden sie von nun an aufwachsen? Das waren damals zentrale Fragen, die wir auf diesen Versammlungen besprachen. Ich wurde aber ziemlich schnell festgenommen, insofern kann ich dazu gar nicht allzu viel erzählen (schmunzelt).

Nach dem Militärputsch arbeiteten wir im Untergrund. Das war kein offener Widerstand oder Protest, den wir betrieben. Vielmehr luden wir dazu ein, verbotene, revolutionäre Presse zu lesen und darüber zu diskutieren.

Auf jeden Fall war die erste Reaktion, als wir vom Putsch hörten, dass es wichtig werden würde, weiter Widerstand zu leisten und unsere Programme weiter durchzuführen. Wir arbeiteten ja immer im Untergrund, im Verborgenen. Das war kein offener Widerstand oder Protest, den wir betrieben. Vielmehr luden wir dazu ein, verbotene, revolutionäre Presse zu lesen und darüber zu diskutieren. Das machten wir sowohl vor als auch nach dem Militärputsch. Allerdings wurde das nach dem Putsch schwieriger, weil wir jederzeit dafür verhaftet werden konnten – was ja schließlich auch geschah. 

Stahl
Welche Blätter lasen die bei diesen Treffen?

Sepúlveda
Wir lasen beispielsweise Estrella Roja oder El Combatiente, die zur PRT Revolutionäre Arbeiterpartei gehörten. Die Peronisten lasen El Descamizado. An mehr erinnere ich mich gerade nicht. Ich weiß noch, dass es später einige humoristische Satiremagazine gab, die sehr gut waren. Aber ich weiß gerade leider nicht mehr, wie die hießen.

Neben diesen Lesezirkeln organisierten wir auch weiterhin die Hilfe in den Stadtvierteln vor Ort und versuchten die verschiedenen Organisationen zu stärken, die für dieselbe Sache kämpften wie wir. Mir persönlich war es damals ein großes Anliegen, meinen Schülern, die mehrheitlich nach der Schulzeit nicht auf die Universität gingen, zu vermitteln, dass es wichtig sei, sich mit Arbeiterrechten vertraut zu machen. Ich erklärte ihnen, dass jeder Wirtschaftssektor seine eigenen spezifischen Arbeiterrechte hatte und dass es sehr wichtig sei, dass sie sich mit dem jeweiligen Recht gut auskannten, um gegebenenfalls in der Lage zu sein, diese Rechte auch einzufordern. Meine Schüler aber waren ja erst zehn bis vierzehn Jahre alt, ich weiß nicht, ob sie das damals wirklich schon verstanden. Die Situation damals war wirklich sehr traurig – genauso wie es die aktuelle Situation nun auch ist.

Stahl
Hatten sie im Vorfeld des Militärputsches in Argentinien auch die Geschehnissen in Chile beobachtet? Dort ereigneten sich diese Dinge ja bereits etwas früher.

Sepúlveda
Ja klar, wir lebten ja in Abhängigkeit von all unseren Nachbarländern. Ich erinnere mich daran, dass es im Jahr 1973 eine große Veranstaltung in der aula magna der Universität gab, in der darüber berichtet und diskutiert wurde, was in Chile passierte. Uns traf es damals sehr, dass sie Allende stürzten. Im Rahmen dieser Veranstaltung gaben wir der aula magna den Namen Salvador Allendes. Der Name führte immer wieder zu großen Problemen mit verschiedenen Regierungen, die ihn zu ändern versuchten. Geschafft hat es aber keine von ihnen, der Saal heißt bis heute so.

Zwischenzeitlich überlegte ich sogar, ob ich nicht nach Chile gehen sollte, um dort Soziale Arbeit zu studieren. In Concepción gab es dafür eine sehr revolutionäre Schule. Letztendlich blieb ich in Argentinien zum Studieren, weil ich für Chile kein Stipendium erhielt. 

Ich erinnere mich daran, dass viele Chilenen nach Cipolletti auswanderten, um Arbeit zu finden und sich einen höheren Lebensstandard zu ermöglichen. Meinem Vater gefiel das gar nicht. Er sagte immer, dass die Chilenen für weniges Geld schlecht arbeiteten und dass er hinterher für genauso wenig Geld deren schlechte Arbeit ausbessern musste. Nun ja, deshalb aber leben bis heute sehr viele Chilenen in dieser Region. Die Umstände, unter denen sie die Gebirgskette zwischen Chile und Argentinien überqueren mussten, waren furchtbar. Sie flohen ja damals vor der chilenischen Militärregierung und ich erinnere mich daran, dass einige von ihnen bis nach Cipolletti verfolgt wurden. Aus Solidarität mit den verfolgten Chilenen organisierte sich damals auch eine Gruppe, der Noemí Labrune vorstand. Sie war Mitglied der Asamblea de los Derechos Humanos[12] und setzte sich auch bei meiner Rückkehr aus dem Gefängnis dafür ein, dass die verantwortlichen Militärs vor Gericht gestellt wurden.

Stahl
Spielte das Konzept der Menschenrechte damals bereits eine wichtige Rolle?

Sepúlveda
Anfangs nutzte man hauptsächlich die Vokabeln des Rechtes des Kindes oder Rechtes des menschlichen Wesens. Der konkrete Begriff der Menschenrechte etablierte sich erst während oder nach der Zeit der Diktatur. In dieser Periode verankerte sich das Konzept und man begann damit zu arbeiten.

Stahl
Wie kam es zu Ihrer Verhaftung?

Sepúlveda
Wir agierten damals ja im Untergrund und ich möchte mich eigentlich bis heute nicht konkret dazu äußern. Andere haben sich mittlerweile öffentlich in dem Zusammenhang geäußert, ich ziehe es aber vor, das nicht zu tun. Auch wenn ich letztendlich nicht mal ein Graffiti an eine Häuserwand gemalt oder Flugblätter verteilt habe. Wir haben uns nie offensiv als Mitglieder der Revolutionären Arbeiterpartei gezeigt.

Zwei Männer aus unserer Universität schlossen sich damals der Guerilla an. Manche sagen, dass es mehr waren. Ich wusste von einem Literaturstudent aus Paraguay, Adrián oder Adriano Ramírez, und Tito Campos aus Chos Malal, der auch Soziale Arbeit studierte. Sie gingen nach Tucumán zur Guerilla und starben, als sie in einen Hinterhalt gerieten. Wir verteilten damals Flugblätter zu ihrem Gedenken. Und ich glaube, dass diese Aktion die Geheimdienste, die damals schon in der Universität infiltriert waren, hellhörig gemacht hatte. Mir war damals in den siebziger Jahren noch gar nicht bewusst, dass die Geheimdienste und der Sicherheitsapparat auch in der Universität aktiv waren. Heute glaube ich, dass wir als Studenten damals sehr genau beobachtet wurden. Es gab eine große Protestbewegung und die Studentenbewegung war ein fester Bestandteil davon. Die Universitätsgruppe der Revolutionären Arbeiterpartei wurde schließlich komplett verhaftet. Die Professorin Susana Mujica ist bis heute verschwunden, ihre Mutter war eine der Initiatorinnen der Madres de la Plaza de Mayo hier in Neuquén. 

Meine Mutter gehörte ihnen ebenfalls an, vor allem aber war sie gemeinsam mit Don Jaime und dem Ehepaar Labrune Mitglied der Asamblea de los Derechos Humanos. Diese Gruppe organisierte im Jahr 1980, als ich noch in Deutschland war, eine Petition mit 300 Unterschriften, um sich für die Sicherung der freien Meinungsäußerung und Informationen über die Verschwundenen einzusetzen. Sie hatten damals große Angst, Demonstrationen und Proteste waren ja streng verboten.

Die Militärs drohten damit, meinen Vater, meine Mutter, meine Großmutter väterlicherseits und meine Brüder ins Gefängnis zu bringen, sollte ich mich nicht stellen.

Aber zurück zu meiner Verhaftung: Ich wusste damals noch nicht, dass bei uns in der Region Leute verhaftet wurden. Gemeinsam mit einer weiteren Person war ich damals in ein nahe gelegenes Dorf gefahren, um die geheime Presse zu lesen. Als wir dort ankamen, sagte mir der Freund meiner Begleiterin, dass ich nicht alleine würde nach Hause zurückkehren können, weil sie dabei seien, Kollegen zu verhaften. Und so musste ich dort über Nacht bleiben. Genau an dem Tag hatten sie bereits bei meinen Eltern nach mir gesucht, aber ich wohnte ja nicht bei ihnen und sie sagten den Leuten, dass ich in der Schule sei. So gingen sie in die Schule, in der ich arbeitete, und ich weiß bis heute nicht genau, was sie dort machten. Weil sie mich aber nicht fanden, hielten sie schließlich meine Familie zu Hause fest. Sie drohten damit, meinen Vater, meine Mutter, meine Großmutter väterlicherseits und meine Brüder ins Gefängnis zu bringen, sollte ich mich nicht stellen. Eine Gruppe Polizisten bewachte also am Freitag, den 11. Juni 1976 in meinem Elternhaus meine Familie. Am 12. Juni ging ich nicht in die Schule, als meine Eltern mir erzählten, dass ich mich stellen müsse, weil sie sonst alle ins Gefängnis gehen müssten. Ich wusste schließlich nicht mehr, wo ich hingehen sollte. Kontakte die mir hätten weiterhelfen können, hatte ich nicht. Die Polizisten, die meine Familie bewachten, wurden zwischenzeitlich von Nachbarn mit Steinwürfen vertrieben. Trotzdem wusste ich, dass sie zurückkehren würden, um meine Familie mitzunehmen, wenn ich mich nicht selbst der Polizei auslieferte. Meine Schuldgefühle, die anerzogen waren und sind, waren so groß, dass ich mich schließlich stellte. Meine Mutter und der Priester aus unserem Viertel begleiteten mich, was ich im Rückblick etwas amüsant finde (schmunzelt). Die Polizei erklärte uns damals, dass ich durchaus eine gute Bürgerin sei, dass mich aber eben das Militär suche. Außerdem fragten sie mich dort nach meinen Kommilitoninnen aus dem Studiengang.

So wurde ich dort festgehalten. Es sei nicht die Polizei, die mich suche, sondern der quinto cuerpo[13] und die Polizei unterstünde der Armee. Das war deren Erklärung, die eigentlich nicht unbedingt gut war. Am nächsten Tag brachten sie mich von Cipolletti nach Neuquén ins Gefängnis, wo noch andere junge Leute inhaftiert waren. Von dort aus wurden wir in einem Gefangenentransport verladen ohne zu wissen, wo sie uns hinbrachten. Als sie uns rausließen, waren wir am Flughafen, aber das wussten wir anfangs nicht. 

Dort wurden wir dann in den Gepäckraum eines Flugzeuges geschubst, das nach Bahía Blanca flog – was wir aber auch nicht wussten. Uns wurde gesagt, dass wir im Dschungel von Tucumán ausgesetzt werden würden, was in mir große Panik auslöste, weil ich an all die Tiere denken musste, die dort herumlaufen würden. Ich habe große Angst vor Spinnen. Der Gedanke in einer Wüste mit all diesen Tieren ausgesetzt zu werden, war für mich Horror (lacht). Heute lache ich darüber, damals aber litt ich sehr unter diesem Gedanken. Als wir landeten, schmissen sie uns vom Flugzeug aus auf einen Haufen als wären wir nasse Säcke und brachten uns an einen anderen Ort.

Dort fragten sie mich nach den Informationen, die ich hatte. Ich sagte aber nichts, was ich nicht wusste. Ich erzählte nur, dass ich mit den anderen studierte. Sie versuchten mir damals zu vermitteln, dass sie mir nur einen guten Rat geben wollten indem sie mir nahe legten, meine Informationen weiterzugeben. Weil sie bei mir aber in dieser Richtung nichts erreichten, brachten sie mich in die Folterkammer. 

Dort ziehen sie dich aus, legen dich auf eine Liege, binden dich an Füßen und Händen fest und geben dir Elektroschocks.[14] Schrecklich. Danach mussten wir eine Erklärung unterzeichnen, von der ich nicht weiß, was drin stand. Als ich mich erst weigerte, meine Unterschrift drunter zu setzen, sagten sie mir, dass sie mich dann umbringen würden. Mir ging es zu dem Zeitpunkt schon so schlecht, dass ich schließlich unterschrieb. 

Daraufhin brachten sie uns wieder an einen anderen Ort, an dem ich die Stimme einer meiner Kommilitoninnen hörte und erkannte. Im Rahmen der Gerichtsverhandlungen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die in den letzten Jahren geführt wurden, fungierte ich heute auch als Zeugin für sie. Damals im Gefängnis flüsterten wir uns ganz leise unsere Namen gegenseitig zu. Unsere Augen waren ja mit einem Tuch verbunden, von daher war unser Gehörsinn zu dem Zeitpunkt umso stärker ausgeprägt. Ich hörte die Namen von Mirta Tronelli, Susana Mujica, die Soziale Arbeit an unserer Universität lehrte, Alicia Pifarré und Elida Sifuentes, die eine der Überlebenden ist. An diesem Ort verbrachten wir zehn Tage. Sie banden mich mit Ketten an die Liege, auf die sich mich gelegt hatten. Wir konnten nicht auf die Toilette gehen, wir wussten nicht, was sie zu uns zu essen gaben. Zum Essen konnten wir uns hinsetzen, aber die ganze Zeit waren uns die Augen mit schmutzigen Tüchern verbunden. Manche von den Wärtern erlaubten es uns, ein ganz kleines bisschen zu sprechen. Sie hatten uns irgendetwas an die Stirn geklebt und wir wollten wissen, was es war. Einer erklärte uns, dass manche von uns eine schwarze Markierung und manche eine weiße Markierung auf die Stirn geklebt bekommen hatten. Die mit dem schwarzen Stoff würden umgebracht werden, die mit dem weißen würden überleben. Als wir wissen wollten, wer welche Farbe aufgeklebt bekommen hatte, sagten sie es uns aber nicht. Dort brachten sie später noch eine weitere Kommilitonin hin, die ich an ihrer Stimme erkannte. Sie war es, die uns sagte, dass wir in Bahía waren und uns den Hinweis gab, dass man in der Ferne die Schiffshupen hören konnte. Und ja, sie hatten Recht, es war Bahía. Sie nahm man später auch mit. 

Als ich nach zehn Tagen in das Frauengefängnis von Bahía Blanca kam, las ich in der Zeitung, dass eben jene Kommilitonin im Kampf gefallen sei. Was eine Lüge ist. Schrecklich, sehr viel barbarischer geht es kaum. In dem Moment wurde mir bewusst, dass ich mich tatsächlich in den Händen des blanken Terrors befand. Die Kommilitonin wurde offensichtlich im Bad der Escuelita umgebracht, wie man das Haftzentrum nannte. Ihren Körper brachten sie dann hinterher an einen Ort, an dem sie behaupten konnten, dass sie im Gefecht gestorben war. Was eine Lüge ist. Das machten sie mit vielen Kollegen an vielen verschiedenen Orten im Land. Sie begründeten den Tod auch oft mit einem vermeintlichen Versuch, zu fliehen, was auch gelogen war, weil es ein Ding der Unmöglichkeit war, zu fliehen. Auch wenn wir im Gefängnis immer davon träumten zu fliehen, dass vielleicht Arafat[15] oder jemand von der spanischen PSOE[16] kommen würde, um uns zu befreien (lacht). Wir hofften immer, in Freiheit zu gelangen. Es war das, was wir am meisten herbeisehnten (lacht).

Von dem Ort, wo wir gefoltert wurden, verteilte man uns schließlich mit einem Auto an verschiedene Orte. Ich wurde in das Gefängnis von Bahía Blanca gebracht und auf diese Weise sozusagen legalisiert. Dort kam ich mit Elida Sifuentes an, die auch Soziale Arbeit studierte. Die anderen kamen nie. Wir warteten auf sie, aber wir hörten nie wieder etwas von ihnen.

Von Juni bis Dezember 1976 war ich also in Bahía. Von dort wurde ich wieder unter Schlägen und Tritten nach Devoto in Buenos Aires gebracht, nachdem sie uns alles gestohlen hatten, was wir uns im Gefängnis von Bahía selber gemacht hatten. Dort hatte man uns nämlich ein wenig arbeiten lassen. In Devoto waren wir mit anderen weiblichen Häftlingen interniert.

Als der Gefängniswärter uns damals sagte, dass wir das Gefängnis entweder als Tote oder als Verrückte verlassen würden, begannen wir unseren Widerstand. Damals beschlossen wir, uns zu vereinen und Widerstand zu leisten. Uns war es damals verboten, Dinge miteinander zu teilen, was im Gefängnis ja eigentlich sehr wichtig war. Wir aber teilten trotzdem untereinander. Eine Mitgefangene übernahm die Buchführung und gab Bestellungen in Auftrag. Wir waren damals eine Zelle von vier Personen und sie wusste immer, wie viel Geld wir gemeinsam zur Verfügung hatten, um yerba für den Mate-Tee, Zucker, Milch, Käse und Zigaretten zu kaufen. Das waren die einzigen Sachen, die wir vom Gefängnis aus kaufen durften. Die Dinge teilten wir innerhalb der Zelle miteinander. Diejenigen, die Probleme mit dem Zucker hatten, bekamen immer etwas mehr von dem Käse. Das war das Leckerste, was wir damals zu essen bekamen. Und so führten wir unser gemeinsames Leben.

Die Gefängniswärter schmissen den Zucker und die Milch und so weiter aber regelmäßig durcheinander, um alles für uns unbrauchbar zu machen. Das Essen, das wir von ihnen bekamen, war grausam. Man konnte es eigentlich nicht essen. Die Nudeln, die sie uns gaben, hatten eine so sonderbare Konsistenz, dass die anderen Frauen es zu anderen Gerichten weiterverwerteten. Ich staune bis heute, was manch eine aus diesem Essen machen konnte. Damals konnte ich fast gar nicht kochen. 

Im Allgemeinen war uns alles verboten: tanzen, singen, Sport machen, lernen, Theater spielen, im Chor singen, sticken, nähen. Wir aber schafften es, uns so zu organisieren, dass wir all diese verbotenen Dinge trotzdem machen konnten (lacht). Und wir redeten viel miteinander, was sehr wichtig war. Wir lehrten uns gegenseitig in den Dingen, die wir jeweils gelernt und studiert hatten. Wir hatten auch Schriften, die wir immer am Körper versteckten. Schriften von Lenin und so Ähnliches (lacht). 

Die medizinische Versorgung war sehr schlecht. Wir spielten Theater, feierten Weihnachten und die anderen Feiertage, organisierten Chöre und Kontra-Chöre für diejenigen, die es nicht in den richtigen Chor schafften. In diesem Kontra-Chor war ich, weil meine Stimme wohl nicht gut genug für den richtigen Chor war. Dass wir diesen Kontra-Chor damals wirklich gründeten, finde ich heute ziemlich witzig (lacht). Wenn die Gefängniswärter fragten, wer in diesem Chor sei, der gerade gesungen hätte, leugneten wir einfach, dass es einen solchen Chor gab. Als Strafe verboten sie uns fünfzehn Tage lang Besuch zu empfangen, was sehr problematisch war, weil der Besuch, der seine lange Anreise ja bereits im Voraus geplant und gebucht hatte, dann vor verschlossenen Türen stand. 

Meine Mutter ging dann stattdessen in Buenos Aires zu verschiedenen Botschaften, um politisches Exil für mich zu beantragen. Sie ging auch zu anderen offiziellen Stellen und bat um meine Freilassung. Meine Mutter hörte nie auf, für mich zu kämpfen. Sie war allgemein eine beeindruckende Kämpferin. Auch als Menschenrechtsbeauftragte ihrer Arbeitsstelle setzte sie sich immerzu für Arbeitsrechte und bessere Arbeitsbedingungen ein. 

Stahl
Gehörte Ihre Mutter damals schon zu den Madres de la Plaza de Mayo?

Sepúlveda
Ich weiß nicht ganz genau, wann sie dort das erste Mal hinging. Ich glaube aber, dass sie damals schon sowohl Mitglied der Asamblea als auch der Madres war. Erst als sie mich aus dem Land auswiesen und nach Deutschland schickten, hörte sie mit dieser Arbeit auf, was die Madres verärgerte. Anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft wurde eine große Solidaritätskampagne gestartet. Ich weiß nicht mehr genau, ob Deutschland bei der WM nicht aus Solidarität abgesagt hatte?

Und so bekam ich Asyl in Deutschland.

Stahl
Nein, sie nahmen daran teil und wurden dafür kritisiert. 

Sepúlveda
Ich weiß nur noch, dass damals gefordert wurde, nicht nur politische Häftlinge aus dem Ostblock aufzunehmen, sondern auch aus Lateinamerika. Und so bekam ich Asyl in Deutschland, weil gegen mich keine Anklage erhoben worden war und gegen mich somit kein Verfahren lief. Offiziell war ich als gefährlich für das Land eingestuft. Und so ging ich in die Deutsche Botschaft, wo man meine Daten aufnahm. Dort wurde ich gefragt, ob jemand aus meiner Familie mitkommen würde. Meine Mutter wollte eigentlich, aber ich war dagegen, weil ich dachte, dass sie dadurch einem Häftling den Platz wegnehmen würde. Mir war es lieber, dass jemand aus dem Gefängnis entlassen wurde. Die Bundesrepublik organisierte also alles, inklusive der Ausreise.

Stahl
Beteiligten sich noch andere Länder an dieser Aktion?

Sepúlveda
Ja, aber die waren schon so ausgelastet, dass mich sonst niemand nehmen wollte. Die anderen Botschaften nahmen niemanden mehr auf. Deutschland aber nahm mich und noch weitere auf. Als ich in Frankfurt ankam, wartete schon jemand auf mich, da gab es also keine Probleme. Als ich weiter nach Stuttgart fuhr, wurde ich von einem Mitarbeiter von Amnesty International, dem Schriftsteller Urs Fiechtner, von einer Lehrerin in der Erwachsenenbildung, Marta Huber, und von ihrer Hündin in Empfang genommen. Die Lehrerin war später auch Trauzeugin bei meiner Hochzeit. Die beiden sprachen nur Deutsch, aber über Urs konnten wir uns gut verständigen. Sein Spanisch war mir sehr vertraut, er nutzte und kannte viele Wörter, die sehr typisch für diese Region hier sind (lacht).

Als mir Urs beim Verlassen des Flugzeuges erklärte, dass er von Amnesty sei, berichtete ich ihm sofort von den restlichen Häftlingen, die noch immer im Gefängnis saßen. Urs sagte, dass er das alles bereits wisse (lacht). Er ließ mich gar nicht richtig weiterreden und ließ mich dann mit dieser Deutschen, die kein Wort Spanisch sprach und deren Hund mich immerzu anbellte, alleine (lacht). Und so fuhren wir von Stuttgart nach Ulm.

Auf dem Flughafen in Stuttgart ließ mich das Flugzeug praktisch mitten auf der Landebahn aussteigen, ich wusste nicht, dass ich noch warten musste bis diese Shuttle-Busse kommen. Ich weiß noch, wie die Flughafenmitarbeiter versuchten, mit mir auf Englisch zu sprechen, und als sie mitbekamen, dass ich aus Argentinien kam, riefen sie mir »Maradonna, Maradonna!« zu (lacht).

In Ulm erwartete mich neben Marta Huber eine Gruppe Deutscher von den Grünen, der SPD, den Lutheranern, Amnesty International und ein paar Vertreter einer Lehrervereinigung, der Justiz und einige Anarchisten. Sie warteten im Dritte Welt-Laden auf mich, um meine Geschichte zu hören. Das war im August 1979 und ich hatte unglaublich große Angst. Eine Ärztin war auch dort, die meinte, sie könne Latein und dass sie mich verstehen würde, wenn ich redete. Ich kannte damals nur zwei Wörter auf Deutsch, die ich von einer Kollegin mit deutscher Abstammung gelernt hatte: Wasser und Entschuldigung (lacht). Das waren die einzigen Wörter, die ich mir merken konnte. Die Situation in Ulm war also schwierig. Als ich ankam, ließen sie mich erstmal bei Marta schlafen und mich etwas erholen. Später zog ich dann in eine Wohnung, die sie mir organisiert hatten.

Bevor ich nach Ulm kam, hatte man in Deutschland eine Kampagne für mich gestartet, um zu verhindern, dass ich in ein Flüchtlingslager kam. In solchen Einrichtungen war es bereits mit chilenischen Kollegen zu Problemen gekommen, als sie die Internationale gesungen hatten und daraufhin von antikommunistischen Flüchtlingen aus dem Ostblock verprügelt worden waren. Außerdem entwickelten sie psychische Störungen, wie Verfolgungswahn und Ähnliches. Deshalb begann man auf kommunaler Ebene nach Aufnahmekapazitäten für politische Flüchtlinge zu fragen. Ulm nahm ein paar auf, unter anderem eben mich.

Ich misstraute zu dem Zeitpunkt all diesen Menschen sehr, als ich in Ulm diese Gruppe kennenlernte, die eigentlich so leckeres Essen und einen schönen Empfang vorbereitet hatten.

Ich kam als erster politischer Flüchtling in Ulm an und hatte große Angst, als ich von dieser Gruppe empfangen wurde, weil ich nicht wirklich wusste, wer sie waren. Meine größte Sorge war damals das Ziel der argentinischen Militärs, dass wir unsere Überzeugungen zu ändern hätten. Im Gefängnis wollten sie uns immerzu dazu bringen, dass wir ein Dokument unterschrieben, in dem stand, dass wir unser früheres politisches Leben bereuten. Wir widersetzten uns dem. Das ging sogar so weit, dass ich mich bei meiner Ausreise aus Argentinien weigerte, auch nur irgendein Papier zu unterschreiben, weil ich befürchtete, dass im Kleingedruckten eine solche Passage stand. Aber Zeit, das alles ganz genau durchzulesen, hatte ich damals nicht. Ich konnte mich ja nicht einmal richtig von meiner Familie und meinem Freund Antonio verabschieden, die extra alle für meine Abreise gekommen waren. Von den drei Stunden, die ich dafür eigentlich hätte bekommen sollen, blieb mir am Ende nur ein kurzer Moment, um mich zu verabschieden, weil sie mich mit Verspätung zum Flughafen gebracht hatten. 

Ich misstraute zu dem Zeitpunkt all diesen Menschen sehr, als ich in Ulm diese Gruppe kennenlernte, die eigentlich so leckeres Essen und einen schönen Empfang vorbereitet hatten. Die ganze Reise über hatte ich geweint. Ich vermisste meine Freunde aus dem Gefängnis, die ich nie wieder sehen würde. Es ist sehr hart, sich daran zu erinnern (weint). Dieser viele Stress und die große Anspannung verbanden uns sehr stark miteinander. Hinterher sahen wir uns hin wieder und bis heute geben wir aufeinander Acht. Es ist immer eine große Freude jemanden zu treffen, der dasselbe durchgemacht hat, wie man selber. Es war wirklich sehr, sehr hart für mich, aus dem Land geworfen zu werden (weint). 

Später wurde Deutschland aber meine zweite Heimat. Als ich ankam, dachte ich, dass alle Deutschen so ernst und streng sein würden, wie der eine Deutsche, den ich aus unserem Viertel kannte. Dass alles in Deutschland ordentlich und streng reguliert wäre. Das Ehepaar aber, das mich in Empfang nahm, war ganz anders. Werner machte gerade seinen Facharzt in der Gynäkologie und Uschi war Kinderkrankenschwester. Sie hatten in ihrer WG ein Zimmer, das sie mir bis zu meiner Ankunft für mich, la argentina, reserviert hatten (lacht). Ihre Mitbewohnerin Gudrun musste ausziehen, als ich ankam (lacht). Sie sagten mir von Anfang an, dass das nun meine Wohnung sei. Für mich war das sehr beeindruckend, ich kam ja aus sehr einfachen Verhältnissen, wie ich schon erzählt habe. In der Wohnung gab es einen Kühlschrank und sogar eine Musikanlage. Und was für tolle Musik sie hörten: Quilapayun, Victor Jara, Inti Illimani, Mercedes Sosa, Falú. Das war die beste revolutionäre Musik, die ich je gehört habe. Und dass sie so ohne weiteres sagten und betonten, dass das nun meine Wohnung sei, dass ich mich zu Hause fühlen solle, war eine so unglaublich große Veränderung für mich. Ich dachte mir, die wollen mich bestimmt einer Gehirnwäsche unterziehen (lacht).

Die beiden arbeiteten und so war ich tagsüber oft alleine in der Wohnung. Sie organisierten aber immer wieder Leute, die sich in der Zeit um mich kümmerten, weil sie sahen, dass ich sehr traurig war. Und so klingelten ständig Leute an der Türe, die mit mir Ausflüge und Unternehmungen machen wollten. Ich litt aber sehr darunter, dass ich kein Deutsch sprach. Mir war es sehr wichtig, möglichst schnell die Sprache zu lernen. Gemeinsam mit Uschi ging ich damals oft an den Hauptbahnhof, um spanischsprachige Presse, also die spanische El País, zu kaufen. Auf dem Weg dorthin brachte sie mir einzelne Wörter wie »Straßenbahn«, »Fenster« oder »Hauptbahnhof« bei, was immer sehr lustig für uns beide war (lacht). Uschi war ein sehr lustiger und fröhlicher Mensch, mit dem man sehr viel lachen konnte. Sie und ihr Mann kümmerten sich immer sehr um mich, mobilisierten all ihre Freunde und ihre Familie, damit ich möglichst wenig alleine und traurig war. Das war toll. 

Ich war also sehr darum bemüht, Deutsch zu lernen, um möglichst bald wieder als Lehrerin arbeiten zu können. Sie bemühten sich sehr, informierten sich über verschiedenste Möglichkeiten und Optionen. Dass ich als Lehrerin wieder arbeiten würde, stellte sich aber als ziemlich schwierig und kompliziert heraus, weil man die deutsche Staatsbürgerschaft oder einen deutschen Ehepartner dafür hätte haben müssen. An Angeboten für Scheinehen fehlte es mir eigentlich nicht (lacht). Ich aber wollte das auf keinen Fall machen, weil ich ja meinen Freund in Argentinien heiraten wollte. Damals kamen noch weitere Flüchtlinge aus Argentinien in Ulm an: eine Familie, eine Kollegin aus Santa Fé, die Mathematik-Lehrerin war, eine andere Frau der Ligas Agrarias.[17]

Mit der Zeit wollten wir Argentinier schließlich eine WG gründen, nicht zuletzt um unsere Gastgeber nicht mehr allzu sehr mit unserem Zigarettenrauch und unseren Treffen zu stören. Ich rauchte damals sehr viel – dreißig Zigaretten am Tag. Das war schon ziemlich viel (lacht). Und wir hatten einfach sehr oft das Bedürfnis, Gleichgesinnte aus Argentinien zu treffen, die dieselbe Sprache sprachen und dieselben Dinge erlebt hatten. Und so suchten sie uns ein Haus, wir renovierten und strichen es, richteten es für uns ein.

Sie fragten mich, ob die Folter in Argentinien systematisch sei. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Situation, als man mir genau diese Frage stellte und ich nur noch weg wollte. Ich hatte große Angst davor zu reden.

Gleichzeitig machte ich einen Deutschkurs am Goethe-Institut, um an der bestmöglichen Einrichtung die Sprache zu lernen. Der Staat bezahlte mir den Kurs, der in Blaubeuren stattfand. Die Frage war natürlich, wie ich dort hinkommen sollte. Und so kam es, dass ich in Ulm lebte und morgens von einem Arzt nach Blaubeuren mitgenommen wurde. Ein wundervoller Ort ist das, mit einem Benediktinerkloster direkt an einem kleinen See. Dort gibt es viele Höhlen, von denen man nicht genau weiß, wo sie hinführen. Auf dem Berg dieses kleinen Ortes war das Goethe-Institut gelegen. Eine tolle Aussicht hatte man von dort oben, die Landschaft war sehr ähnlich zu der in Bariloche. Der Kurs fand im Oktober statt und nach und nach hüllten sich die Bäume in diese herbstlichen Farben. Und von den Rosen perlte früh morgens der Tau. Die Aussicht aus dem Fenster des Unterrichtssaales war ein wahres Gedicht – das werde ich nie vergessen (lacht). Ich ließ mich immer wieder von dieser Schönheit ablenken. Und immer wieder erinnerte ich mich an meine Kolleginnen, die immer noch im Gefängnis saßen, weshalb ich sehr oft weinen musste.

An dem Kurs nahmen viele Ärzte aus Lateinamerika, aus Guatemala und Paraguay, teil. Ich stand noch so sehr unter Schock, war so angespannt, dass ich nicht mal verstand, wenn sie mir eine Frage stellten. Sie fragten mich, ob die Folter in Argentinien systematisch war, also einem bestimmten System folgte. Ich hörte nur irgendetwas von systematisch und konnte mich nicht dazu durchringen, etwas zu sagen. Das wurde ich zum Beispiel von einem Freund gefragt, der Deutsch lernte, weil er Botschafter in Nicaragua werden sollte. Alle Kursteilnehmer waren sehr belesen, hatten in ihrer Heimat etwas studiert. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Situation, als er mir genau diese Frage stellte und ich nur noch weg wollte (lacht). Ich hatte große Angst davor zu reden. 

Anfangs konnte ich das noch gut mit der Ausrede umgehen, dass ich ja kein Deutsch sprach. Meine Freunde aber suchten mir bald Leute, die Spanisch sprachen, wie zum Beispiel eine Ärztefamilie aus Paraguay. Und – oh mein Gott – dieser Arzt äußerte sich immerzu abfällig über die Guerillas und ich als Unterstützerin der Guerilla wusste überhaupt nicht, wohin mit mir (lacht). Hinterher stellten sie mir noch ein paar Spanier und so vor – jede Menge Leute. 

Meine Freunde gehörten alle zum Dritte-Welt-Laden in Ulm. Sie kauften Produkte aus Entwicklungsländern und verkauften sie in Deutschland. Mit dem Gewinn unterstützten sie dann Hilfsorganisationen, die in den jeweiligen Ländern Entwicklungsarbeit leisteten. An dem Tag, an dem ich ankam, besprachen sie ein Projekt aus Tansania. Sie wollten erreichen, dass die Kinder Milch zum Trinken bekamen (lacht). Heute würde das gar nicht mehr dem aktuellen Forschungsstand entsprechen, aber damals erschien es ihnen eine sehr gute Idee (lacht). Sie wollten damals einen Weg finden, dass vor Ort Kühe gehalten würden. Sie sahen sich damals aber vor dem Hauptproblem, dass in Tansania der Großteil der Bevölkerung einer Religion angehörte, die die Kühe verehrte (lacht). Die Gruppe nahm das alles aber durchaus auch mit Humor. Eine sehr sympathische Gruppe war das mit tollen und sehr herzlichen Menschen. Sie wurden eigentlich gemeinsam mit Walter und Uschi zu meiner zweiten Familie. Sie halfen mir, wo sie nur konnten.

Das Geld beispielsweise, das sie vom Staat als meine Miete bekamen, behielten sie nicht für sich, sondern spendeten es an einen Fonds, der Argentinier finanziell unterstützte, wenn sie ihre im Exil lebenden Angehörigen besuchen wollten. Urs Fiechtner, der uns regelmäßig besuchte, erklärte mir schließlich, dass ich das Recht hatte, Antonio als meinen Freund nach Deutschland zu holen. Er organisierte schließlich all die notwendigen Papiere, damit Antonio Asyl in Deutschland bekam. Wir heirateten, damit wir später bei unserer Rückkehr nach Argentinien keine Probleme mehr bekämen. Als ich nämlich im Gefängnis saß, durften wir keinen Briefkontakt haben. Trotzdem hielten wir in der Zeit Kontakt, weil ich über einen meiner Cousins seine Briefe empfing. Im Jahr 2006 veröffentlichten wir als Ex-Gefangene zusammen das Buch Nosotras presas políticas – wir, die politisch Gefangeninnen – in dem 113 Ex-Inhaftierte über das Leben im Gefängnis berichteten. In dem Buch erscheinen auch ein paar der Briefe, die Antonio und ich uns geschrieben haben. Allerdings hatte ich vergessen, die Information einzufügen, dass nicht mein Cousin mir diese Briefe geschrieben hatte, sondern mein späterer Ehemann. Was zu einer witzigen Situation mit einer Professorin führte, die auch Antonio gut kannte und die dachte, dass ich zwischenzeitlich möglicherweise etwas mit meinem Cousin am Laufen gehabt hätte (lacht). 

Als Antonio nach Deutschland kam, arbeitete er in einem kleinen Handwerkerunternehmen, das einem aus der Gruppe des Dritte Welt-Ladens gehörte. Dort war man sehr zufrieden mit seiner Arbeit und er war glücklich, nicht in einen Deutschkurs gehen zu müssen, sondern die Sprache während der Arbeit lernen zu können. Das lustige damals war, dass wir im Vorfeld seiner Anstellung im Wörterbuch all die Wörter rausgesucht hatten, die er in der Arbeit brauchen würde. An seinem ersten Arbeitstag verstand er trotzdem kein Wort und wusste nicht, was sie von ihm wollten (lacht). Schwäbisch ist einfach sehr anders als Hochdeutsch. Uschi und Werner lebten später in Mönchengladbach und erzählten uns, dass sie dort wiederum kein Wort verstanden. Jede Gegend hat nun mal so ihre Eigenheiten (lacht).

Ich wollte schon in Argentinien gerne als Kindergarten-Erzieherin arbeiten, allerdings gab es das Schulfach damals nicht. Es stellte sich irgendwann heraus, dass mein Zertifikat als Lehrerin in Deutschland äquivalent mit dem eines Gymnasiallehrers war. Mir fiel es aber aufgrund der Sprache sehr schwer, die notwendigen Prüfungen zu bestehen, obwohl ich sehr viel dafür lernte. Sie wollten damals zum Beispiel, dass ich die Redewendung „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“ erklärte. Ich verstand kein Wort. 

Schließlich begann ich in einem Kindergarten zu arbeiten. Ich liebe Kinder und so fiel mir die Arbeit dort sehr leicht. Als Antonio nach Deutschland kam, wollten wir selber Kinder bekommen. Allerdings hatten wir große Probleme damit und so unterzogen wir uns verschiedenen Behandlungen. Eine Homöopathin sagte uns damals: »Entschuldigen Sie den Vergleich, aber Elefanten in Gefangenschaft bekommen keine Kinder. Wie fühlen sie sich?« Und klar, ich war einfach nicht in meiner Heimat, lebte in einer anderen Kultur. Ich hatte mir in Argentinien zwar schon oft den Reichtum der deutschen Erde und Landschaft ausgemalt und ich wollte auch immer mal den so wundervollen Schwarzwald kennenlernen. Aber ich hatte nie vor, auszuwandern. Trotzdem war die Zeit in Deutschland toll. Und auch wenn wir damals noch keine eigenen Kinder bekommen konnten, so kümmerte ich mich um die Kinder einer Familie, die bis heute sehr geschichtsinteressiert sind und gerne essen (lacht). Leider schaffte ich es nicht, den Kontakt aufrecht zu erhalten, als ich zurück nach Argentinien ging. Die Familie bemühte sich sehr darum, aber für mich war plötzlich alles so anders und überwältigend, dass ich es einfach nicht schaffte. Wir hatten damals große familiäre Probleme. Ich wollte nicht zurück nach Neuquén, weil so viele Kolleginnen verschwunden waren. 

Wir berichteten hier in Deutschland im Rahmen dieser Solidaritätsgruppe über die Verletzungen der Menschenrechte in unseren Heimatländern.

Stahl

Wann kehrten Sie nach Argentinien zurück?

Sepúlveda
Im Januar 1985 ging ich zurück nach Argentinien, nachdem ich ein Jahr lang beobachtet hatte, was mit der demokratisch gewählten Regierung unter Alfonsín passierte. Wir gingen eigentlich davon aus, dass es wieder einen Putsch geben würde. Für uns war es nach all dem Erlebten sehr schwierig die politische Situation einzuschätzen. Ich wollte von Deutschland aus eigentlich erst in ein anderes lateinamerikanisches Land gehen, in dem Spanisch gesprochen wurde. Antonio aber wollte das nicht, weil er meinte, dass es uns dort wahrscheinlich nicht sehr gut ergehen würde, wenn wir offiziell kein politisches Asyl mehr hätten. Ich hatte mich eigentlich schon an den Gedanken gewöhnt, nach Nicaragua zu gehen, obwohl die Kultur dort ganz anders ist als in Argentinien. 

Stahl
War Kuba eine Option?

Sepúlveda
Es war immer ein großer Traum, eines Tages Kuba zu besuchen. Aber als Ort zum Leben kam es für mich nie in Frage. Darüber habe ich eigentlich nicht eine Sekunde nachgedacht, weil dort die Dinge ja schon geregelt waren. Für mich war es wichtig dort hinzugehen, wo etwas geändert und verbessert werden konnte (lacht). Schließlich gingen wir nach Tucumán, weil Antonio dort bereits eine Arbeitsstelle in Aussicht gestellt bekommen hatte, was natürlich sehr wichtig war. Als wir zurückkehrten, ließen wir all unsere Sachen in Deutschland, weil es sehr teuer gewesen wäre, sie in einem Container hinterherzuschicken, obwohl es zuerst hieß, dass uns das bezahlt werden würde. Wir nahmen bloß einen Tisch, ein Nachtkästchen, einen Kühlschrank mit Gefrierfach, einen Geschirrspüler, von dem ich schon immer geträumt hatte, und einen alten Schwarz-weiß-Fernseher mit. Das war uns sehr wichtig, weil wir nicht Teil der Konsumgesellschaft werden wollten. Andere unserer früheren Mitstreiter war das bis dahin egal geworden. Uns aber nicht – wir lebten praktisch wie Mönche.

Ich erinnere mich gerade daran, dass Antonio und ich in Deutschland sogar versuchten, ein Kind zu adoptieren. Uns wurde in Aussicht gestellt, dass wir möglicherweise ein fünfjähriges Kind adoptieren könnten. Allerdings war das alles sehr unsicher, weil wir keine deutschen Staatsbürger waren. 

Stahl
Waren Sie denn in Deutschland auf irgendeine Art und Weise politisch aktiv?

Sepúlveda
Oh ja, das war mir sehr wichtig. Ich weiß nicht mehr genau, wie das zustande kam, aber wir wurden eines Tages von einer Gruppe junger Leute dazu eingeladen, uns für Lateinamerika zu engagieren. Ich erinnere mich nicht mehr, ob sie von der SPD oder von den Grünen oder so waren. Auf jeden Fall luden sie uns ein, mitzumachen, und so wurden wir Teil dieser Gruppe. Wir lernten vieles über El Salvador, Peru und die Umstände in anderen Ländern. Oft kamen Leute, die vor Ort Entwicklungshilfe geleistet hatten, um uns von ihren Erlebnissen berichteten. Wir organisierten auch politische Aktionen und Versammlungen im Rathaus, zu denen wir zum Beispiel Inti Illimani einluden, Empanadas und Wein verkauften. Die Gewinne spendeten wir dann an verschiedene Organisationen, die sich in Lateinamerika engagierten. 

Wir gründeten also eine Solidaritätsgruppe mit Lateinamerika und Argentinien, wobei wir gar nicht sehr viel Kontakt zu Argentinien hatten. Bei den politischen Veranstaltungen gab es verschiedene Info-Stände, die zum Beispiel über die Geschichte und Situation in Nicaragua berichteten, an denen Brigadisten über ihre Erfahrungen erzählten. Später dann trat die Gruppe Inti Illimani auf. Wir hingen Plakate in der Stadt auf, um die Veranstaltungen zu bewerben und es kamen immer etliche Leute. Das waren tolle Abende. Ich habe immer noch ein Fotoalbum von dieser Zeit, das wir zum Abschied geschenkt bekamen. 

Die Arbeit in dieser Solidaritätsgruppe war eigentlich das Wichtigste, das wir in politischer Hinsicht während unserer Zeit in Deutschland machten. 

Stahl
Hatten Sie während ihrer Zeit in Deutschland Kontakte zu früheren Weggefährten?

Sepúlveda
Wir bekamen keinen Besuch in Deutschland von Mitstreitern. Wir stellten uns immer die Frage, was wir tun sollten, wenn wir zurück nach Argentinien gingen. Wir waren schließlich besiegt und zerschlagen. Es blieb ja nichts von unserer früheren Arbeit übrig, außer ein paar Überlebende, denen es nicht unbedingt gut ging. Das einzige, was wir in Deutschland mitbekamen, war, dass jeder an seine persönliche Basis zurückkehren solle, um sich erneut der Bürgerbewegung anzuschließen.

Stahl
Spielte der Begriff der Menschenrechte während Ihrer Zeit in Deutschland eine wichtige Rolle für Sie?

Sepúlveda
Ja, der Begriff war sehr wichtig. Schließlich berichteten wir hier in Deutschland im Rahmen dieser Solidaritätsgruppe über die Verletzungen der Menschenrechte in unseren Heimatländern. Das war eines unserer Hauptanliegen. Jemand aus unserer Familie warf uns einmal vor, dass wir schlecht über Argentinien und die Argentinier sprechen würden. Aber das stimmte nicht: Wir sprachen schlecht über die Militärregierung Argentiniens. 

Eine andere der Hauptaufgaben lag darin, uns für die desaparecidos, die Verschwundenen, einzusetzen. Und so setzte ich mich hin und schrieb alles auf, was ich erlebt und gesehen hatte. Ich war nach wir vor sehr schockiert darüber, dass sie in den Zeitungen geschrieben hatten, dass Monica Morán im Gefecht gefallen sei, obwohl sie sie ermordet hatten. Und das war ja nicht der einzige Fall, in dem sie Massaker und Kindesentführungen verschleierten und mit Lügen deckten. In Bahía Blanca beispielsweise ließen sie die Neugeborenen einiger Gefangener verschwinden. Von der Familie Metz sind die Eltern und ein Kind verschwunden. Das Kind kam aber zur Welt, eine Ex-Gefangene, die heute Professorin in den USA ist, war bei der Geburt dabei und weiß, dass es ein Junge war.[18] Dieser Junge wird bis heute gesucht. Wie schrecklich all diese Erlebnisse für die kleine Tochter der Familie gewesen sein müssen: Als sie ihre schwangere Mutter und ihren Vater mitnahmen, war sie zwei Jahre alt. Sie ließen sie einfach alleine auf der Straße zurück. Diese Menschen werden bis heute gesucht. Wir hoffen, dass die Militärs ihren Pakt des Schweigens eines Tages vor Gericht doch noch brechen und sagen, wo diese verschwundenen Kinder sind und wo sie die verschwundenen Kollegen begraben haben. 

Stahl
Über die desaparecidos und die Kindesentführungen berichteten Sie bereits während Ihrer Zeit in Deutschland?

Sepúlveda
Ich erzählte damals Allgemeineres. Von den Kindesentführungen und diesen Einzelfällen wusste ich damals noch nichts. Ein anderes Mitglied der Solidaritätsgruppe war bei der IG Metall, Dieter Beirich hieß er. Er lud uns dazu ein, an einem 1. Mai auf einer Kundgebung aufzutreten, was letztendlich aus irgendeinem Grund doch nicht klappte. Bei einer anderen Veranstaltung von feministischen Gruppierungen aber konnten wir sprechen und so berichtete ich dort mit der Hilfe einer Übersetzerin von den Madres. Ein anderes Mal nahmen wir an einer Gedenkveranstaltung für die deutsche desaparecida Elisabeth Käsemann teil.[19]

Stahl
Wie setzten Sie Ihr Engagement fort, als Sie nach Argentinien zurückkehrten?

Sepúlveda
Als wir zurückkehrten, war es schwierig, sich wieder in die Bewegung einzufügen. Innerhalb der Bewegung war man sich nicht einig, was man als nächstes tun sollte. Wir hatten ja eine Niederlage erlitten. Wir wollten erst einmal sehen, was genau passiert war. Die Konsequenzen der Geschehnisse waren wirklich furchtbar. Es war schrecklich, die Auswirkungen des Staatsterrorismus und der Verfolgung zu sehen. 

Am wichtigsten war uns erst einmal, in Tucumán Arbeit zu finden. Mein Mann fand erst nach einem halben Jahr einen Job, bis dahin lebten wir von unserem Ersparten. Wir wollten ein neues Leben beginnen, kauften ein Stück Land. Und dann kam auch schon unsere erste Tochter zur Welt, was mein Leben von Grund auf veränderte. In Tucumán konnte ich nicht mehr als Lehrerin arbeiten, weil ich dafür in eine kleine Schule in die Berge hätte gehen und dort die Woche über bleiben müssen. 

Nach und nach aber organisierten wir uns, um die Aufarbeitung der Verbrechen voranzutreiben, das Andenken an die Opfer hochzuhalten und von unseren Erlebnissen als Zeitzeugen zu berichten. Im Jahr 1986 forderte ich meinen ehemaligen Arbeitsplatz an der Universität in Neuquén zurück und so kamen wir hier in die Gegend. Im Oktober fing ich wieder an zu arbeiten und gleichzeitig nahm ich Kontakt zu einer lokalen Menschenrechtsorganisation auf, um bei ihnen mitzuarbeiten. Allerdings gingen mir dort einige Leute zu schematisch vor. Als wir beispielsweise ein Pamphlet verfassen wollten, musste man darüber diskutieren, ob es um obreros oder trabajadores ging.[20] Das war nicht das, wofür ich mich stark machen wollte (lacht). Die Diskussionen, die wir damals in den siebziger Jahren als Jugendliche geführt hatten, wollte ich nicht noch einmal führen müssen. »Wenn wir jedes Wort zehn Mal ausdiskutieren müssen, dann ist das nichts für mich«, dachte ich mir damals. Und so widmete ich mich vordergründig meiner Familie. Meine zweite Tochter kam zur Welt, ich arbeitete als Lehrerin und kümmerte mich dort um die Leute in meinem Umfeld. Das füllt einen zeitlich ja durchaus aus (lacht).

Trotzdem hatte man die politischen Entwicklungen natürlich im Auge. Zu der Zeit fanden ja auch die juicios de la verdad[21] statt. Dort wurde die sehr gute Idee umgesetzt, die wahren Geschehnisse zu berichten und zu untersuchen, ohne sie vor einem regulären Gericht zu verhandeln. Ziel dabei war, dass die Bevölkerung von diesen Geschichten erfuhr.

Stahl
Diese Prozesse fanden auch hier in Neuquén statt?

Sepúlveda
Nein, das war in Bahía Blanca. Ich nahm nicht daran teil. Dort fand man aber heraus, dass einer der Folterer in Mendoza lebte. Man lud mich damals ein, um ihn zu identifizieren. Ich wollte meine Erlebnisse eigentlich immer vergessen, aber das war einfach unmöglich. Wenn ich heute durch die Universität gehe, muss ich an meine Kommilitoninnen denken (weint). All diese Erlebnisse treffen mich bis heute sehr hart.

Als sie mich dazu einluden, diesen Folterer zu identifizieren, wusste ich nicht, was ich tun sollte. Ich hatte mir ein Leben aufgebaut. In Neuquén wurde ich nach meiner Rückkehr von einigen Arbeitskollegen schief angesehen, weil es hieß, dass ich am bewaffneten Kampf teilgenommen und Geld aus Deutschland mitgebracht hätte. Ich reagierte auf diese Anschuldigungen einfach nicht, innerlich aber schmerzten sie sehr. Das war wirklich nicht schön. Andere aber empfingen mich mit offenen Armen und freuten sich, dass ich wieder da war. Einer der Dekane hatte im Exil in Mexiko gelebt und er war es, der mich schließlich überzeugte, wieder an der Uni zu lehren. Politisch war ich aber nicht mehr allzu aktiv. Ich erinnere mich noch an eine Demonstration, zu der mein Mann und ich von der Universität aus unsere beiden noch sehr kleinen Töchter mitnahmen. Ich weiß nicht mehr genau, worum es ging, es war aber zu der Zeit der Regierung Alfonsíns.[22]

Als mich aber Noemí Labrune von der Asamblea de los Derechos Humanos einlud, nach Mendoza zu fahren, um diesen Folterer zu identifizieren, fuhr ich hin. Mich traf fast der Schlag, ich hatte das Gefühl, alles noch einmal zu erleben. Ich sprach mit einigen Kolleginnen von damals, weil ich Angst hatte, dass sie meine Töchter für meine Aussage bestrafen würden. Gleichzeitig aber war ich mir meiner moralischen Pflicht bewusst, auch wenn es sehr viel Kraft kosten würde, die Wahrheit ans Licht zu bringen, damit meine verschwundenen und verstorbenen Mitstreiter nicht in Vergessenheit gerieten. Auch Antonio riet mir, nach Mendoza zu fahren und bot an, sich in der Zeit, in der ich nicht zu Hause sein würde, um unsere Töchter zu kümmern. Es war wirklich sehr bewegend und aufwühlend (weint). Entschuldigung, ich werde immer sehr emotional, wenn sich der 24. März nähert.[23] Als wir aus Mendoza zurückkehrten, bat das Uni-Radio darum, uns interviewen zu dürfen. An dem Tag, an dem ich nach Hause kam, weinte ich ununterbrochen (weint). Es war sehr, sehr hart all das Erlebte… Es ist mir sehr unangenehm zu weinen (lacht). Aber mich überkommen all diese Emotionen einfach. Es war sehr hart. 

Wir sind drei Überlebende aus Neuquén. Nachdem wir aus Mendoza zurückgekommen waren, schlug Nora Rivera vor, eine Gruppe der Erinnerung ins Leben zu rufen. Und so erzählten wir fortan im Radio von unseren Erlebnissen mit diesem Folterer. Ein wahres Monster war das, er ist letztens gestorben, ohne verurteilt worden zu sein. Er arbeitete als Spitzel in fortschrittlich ausgerichteten, christlichen Organisationen in Bahía Blanca, hatte verschiedene Namen und zwei Familien. Mit einer ehemaligen Gefangenen hat er außerdem ein Kind, sie klagte ihn später auch an. 

Naja, wir schlossen uns auf jeden Fall mit den ehemaligen Studenten der Sozialen Arbeit hier zusammen und organisierten verschiedene Treffen unter anderem mit unseren ehemaligen Professoren, was wirklich sehr emotional war. Allerdings stellte sich unsere Arbeit als sehr schwer heraus. Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass wir die falschen Ansatzpunkte und Methoden wählten, oder ob es die Leute einfach nicht interessierte. Wir bewirkten zwar nicht viel, arbeiteten aber trotzdem immer weiter. Etwas, das wir durchsetzen konnten, ist beispielsweise, dass wir, wenn wir hier an der Universität einen Studiengang vorstellen, immer auch von den desaparecidos aus dem jeweiligen Studiengang erzählen. Und im Juni veranstalten wir jedes Jahr eine Woche der Erinnerung, in der wir im Rahmen verschiedener Gedenkveranstaltungen an unsere Kollegen und Kommilitonen erinnern. Jahr für Jahr führten wir verschiedene Aktionen durch und mittlerweile haben das die heutigen Studenten übernommen. Wir nehmen an den Veranstaltungen als Zeitzeugen teil, die Organisation der Gedenkaktionen machen mittlerweile die Studenten. Wir gehen auch viel in Schulen, unter anderem nach Cipoletti, um den Schülern von der Zeit damals zu erzählen.

Stahl
Wieso war es Ihnen so wichtig, eine solche Gruppe der Erinnerung zu gründen?

Sepúlveda
Ich glaube, dass sich die Geschehnisse nicht wiederholen, wenn wir uns an sie erinnern. Um eine Zukunft aufbauen zu können, müssen wir uns an Vergangenes, an die Geschichte erinnern. Es ist wichtig zu wissen, wo wir herkommen. Die Geschichte ist sehr wichtig – und das sage ich nicht nur, weil ich an der geisteswissenschaftlichen Fakultät lehre (lacht). Ich weiß noch, dass wir damals als Studenten den Stundenplan so modifizieren ließen, dass die sozialen Bewegungen anderer Länder auch darin vorkamen. Das war uns sehr wichtig. Heute beschweren sich die Studenten darüber, dass der Stundenplan so voll ist (lacht). Aber damals war es uns einfach sehr wichtig, darüber etwas zu erfahren – das mag auch an unseren damaligen Dozenten gelegen haben. 

Außerdem ist es mir sehr wichtig an meine Kolleginnen und Kommilitoninnen zu erinnern, weil ich sie so wenigstens ein bisschen zurück ins Leben holen beziehungsweise verhindern kann, dass sie in Vergessenheit geraten. 

Stahl
Wie bewerten Sie die aktuelle Situation in Argentinien?

Sepúlveda
Das ist sehr schwierig. Ehrlich gesagt, bereitet mir die aktuelle Situation große Bauchschmerzen. Auch wenn die aktuelle Regierung vom Volk, beziehungsweise von einem Teil des Volkes gewählt wurde, so richtet sie sich lediglich nach den internationalen Märkten. Insofern kann sie sich gar nicht der Bevölkerung widmen. Es stehen sehr traurige und harte Jahre bevor. Schlimmere als wir sie bereits erlebt haben. Wenn ich so darüber nachdenke, dann besteht die aktuelle Regierung aus Leuten, die damals im Jahr 1976 die Militärdiktatur unterstützt haben. Ich bin, was die Zukunft betrifft, sehr besorgt. 

Manch einer hat mir bereits geraten, wieder nach Europa zu gehen. Aber das möchte ich nicht. Ich habe sehr schöne Erinnerungen an meine deutschen Freunde, die mir immer wieder geschrieben und finanziell unter die Arme gegriffen haben. Oftmals habe ich mich, glaube ich, gar nicht richtig für all das bedankt. Das Leben ging manchmal so schnell an mir vorüber und hatte so viele schwierige Momente. Meine Eltern starben, ich kümmerte mich um meine Töchter. 

Und dann ist da noch dieser ständige Schmerz, länger gelebt zu haben als andere Menschen (weint). All diese Gerichtsverfahren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit befassen sich mit dem Gestern, mit dem was gewesen ist. Aber es ist wichtig immer wieder zu betonen, dass diese Geschehnisse aus der Vergangenheit einen großen Einfluss auf das Hier und Jetzt haben. Es leben Menschen unter uns, die in ihrer Kindheit ihre Eltern verloren haben und um die sich niemand kümmerte. Damals war das Motto »Rette sich wer kann«. Die Zurückgebliebenen betrauerten alleine den Verlust ihrer gesamten Familie, das brachte schwere physische und psychische Probleme mit sich. Die Lebenserwartung der ehemaligen Gefangenen liegt in etwa bei sechzig bis siebzig Jahren, sie ist deutlich niedriger als bei anderen. 

Wie gesagt, ich bin sehr besorgt, was die aktuelle Situation und Politik in Argentinien angeht. Dieser Monat war sehr heftig.[24] Es wäre sehr wichtig, dass die heutige Jugend wieder ein politisches Bewusstsein entwickelt und sich frohen Mutes und voller Hoffnung für ihre Überzeugungen einsetzt. Eigentlich leben wir ja heute durch die Computer und das Internet in einer freieren Welt. Jedes Kind in Argentinien, das zur Mittelschule geht, hat dazu Zugang. Das öffnet Welten und das Denken. Man erhält dadurch ja einen Zugang zu anderen neuen Informationen. Letztens habe ich gelesen, dass sie darüber nachdenken, die Stenografie wieder einzuführen (lacht). Das muss man sich mal vorstellen, das wäre ja ein Rückschritt um Lichtjahre. Schrecklich. Darüber bin ich sehr besorgt. Die Regierung arbeitet auf Kosten der gesamten Bevölkerung für das Wohl einer sehr kleinen, exklusiven Bevölkerungsgruppe. Und das ist sehr schlimm.

Übersetzt aus dem Spanischen von Laura Krauss.
Redigiert von Louisa Reichstetter.

Zitation

Lebensgeschichtliches Interview mit Gladis Sepúlveda, 11.03.2016, in: Quellen zur Geschichte der Menschenrechte, herausgegeben vom Arbeitskreis Menschenrechte im 20. Jahrhundert, URL: www.geschichte-menschenrechte.de/gladis-sepulveda

  1. Seit im Norden Patagoniens Öl- und Erdgasfelder entdeckt wurden, ist die Bedeutung der Landwirtschaft in der Region gesunken. Die Bevölkerung wuchs hingegen stetig: In Neuquén beispielsweise von rund 17.000 Einwohnern um 1960 auf heute über 250.000 Einwohner.
  2. Gewerkschaft des Obstes 
  3. Weiterführende Schule
  4. Juan Perón (1895-1974) ist der wohl einflussreichste Politiker der argentinischen Geschichte. Als Präsident prägte der ausgebildete Militär ab 1946 einen autoritär-nationalistischen Regierungsstil, war jedoch nicht zuletzt wegen seiner Sozialpolitik im sehr populär. Nach einem Militärputsch im September 1955 lebte Perón 18 Jahre im Exil. 1973 kehrte er aus Spanien zurück und wurde erneut Präsident, verstarb aber wenige Monate darauf.
  5. In Córdoba, der zweitgrößten Stadt Argentiniens, erhoben sich im Mai 1969 von Studenten und Gewerkschaften initiierte Proteste gegen die 1966 installierte Militärdiktatur. Der Aufstand wurde vom Militär unterdrückt, mindestens vier Demonstranten kamen ums Leben.
  6. Héctor José Campora (1909-1980) war ein peronistischer Politiker. 1973 wurde er zum Präsidenten gewählt. Er übergab dieses Amt aber an Juan Perón, als dieser kurz darauf aus seinem spanischen Exil zurückkehrte.
  7. Bereits während der Militärherrschaft 1966-1973 wurden überall Oppositionelle verhaftet. 1972 gelang 25 Marxisten die Flucht aus dem Gefängnis in Rawson, einer Küstenstadt in Patagonien. Im nahegelegenen Trelew wurden sie gestellt und 16 von ihnen kurzerhand erschossen.
  8. Jaime de Nevares (1915-1995) war ab 1961 Bischof von Neuquén.
  9. Cristina Fernández de Kirchner (*1953), argentinische Politikerin des linken Flügels der peronistischen Partei, 2007 bis 2015 Präsidentin Argentiniens.
  10. Ausschuss für Nachbarschaftshilfe
  11. Juan Carlos Onganía (1914-1995), war ein hochrangiger argentinischer Militär, der das Land nach einem Staatsstreich von 1966 bis1970 regierte.
  12. Die Asamblea Por Los Derechos Humanos war im Dezember 1975 in Buenos Aires in Reaktion auf die Terrorakte gegründet worden, die von der sogenannten Antikommunistischen Allianz Argentiniens an linken Aktivisten begangen wurden. Ein halbes Jahr später gründete Bischof Jaime de Nevares eine Zweigstelle in Neuquén. Er reagierte damit auf die zunehmende Repression staatlicher Sicherheitsorgane in Form willkürlicher Verhaftungen, Entführungen und Folter. Unter dem Dach der Asamblea formierten sich weitere Gruppen: die Comisión de Familiares de detenidos-desaparecidos y detenidos por razones políticas y gremiales (1977) und die Madres de la Plaza de Mayo (1978).
  13. Das Quinto Cuerpo, fünfte Corps, ist eine Einheit des argentinischen Militärs. Während der Militärdiktatur agierte es von Bahía Blanca aus, einer Küstenstadt südlich von Buenos Aires. Dort befand sich das berüchtigte Haft- und Folterzentrum La Escuelita (Die kleine Schule).
  14. Unpersönliche Rede im Original: "Te sacan la ropa, te ponen sobre una canilla, te atan las piernas, las manos y te ponen la picana."
  15. Jassir Arafat (1929-2004), 1964-2004 Vorsitzender der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO.
  16. Partido Socialista Obrero Español (Sozialistische Arbeiterpartei Spaniens)
  17. Bauernverbände; die Mitglieder waren meist nicht nur christlich sondern auch politisch links orientiert und somit ebenfalls unter den von der Militärjunta Verfolgten.
  18. Es handelt sich um Alicia Partnoy, die ihre Haft im Folterzentrum La Escuelita im Exil literarisch verarbeitete.
  19. Die Deutsche Elisabeth Käsemann (1947-1977) lebte und arbeitete seit 1970 in Buenos Aires. 1977 wurde sie von der Militärjunta entführt. Die Versuche von Eltern und Freunden, ihre Freilassung durch öffentliche Appelle an die deutsche und argentinische Regierung zu erwirken, schlugen fehl. Einige Wochen nach ihrer Entführung wurde sie ermordet.
  20. Beides würde man mit „Arbeiter“ übersetzen.
  21. Die sogenannten Wahrheitsprozesse fanden Ende der neunziger Jahre statt, als die meisten Verbrechen aufgrund einiger Amnestiegesetze nicht mehr strafrechtlich verfolgbar waren. Vor diesem Hintergrund führten einige Richter in Zusammenarbeit mit Menschenrechtsorganisationen Schauprozesse durch, die zwar nicht in rechtskräftigen Schuldsprüchen mündeten, dennoch dazu dienten, vergangenes Unrecht aufzuklären.
  22. Raúl Alfonsín (1927-2009), 1983-1989 argentinischer Präsident.
  23. Am 24. März 1976 putschte das Militär unter Führung des Oberbefehlshabers Jorge Videla (1927 – 2013).
  24. Im März 2016 fand in Neuquén ein Gerichtsprozess gegen einige Täter der Junta-Zeit statt. Gladis Sepúlveda sagte in diesem Zusammenhang als Zeugin aus.