Ida Sepúlveda (*1950) gehörte einer Bewegung von Landarbeitern an, die während der Allende-Regierung Besetzungen von Großgrundbesitz durchführten. Nach dem Militärputsch 1973 wurde ihr Mann ermordet. Sepúlveda engagierte sich ab den achtziger Jahren in diversen Menschenrechtsgruppen, unter anderem der Agrupacion de Familiares Detenidos Desaparecidos y Ejecutados (Vereinigung der Familien Inhaftierter, Verschwundener und Ermordeter), deren Vorsitzende sie schließlich wurde. Im Zentrum ihres Engagements stand die Suche nach den Überresten der Verschwundenen sowie der Kampf für Wiedergutmachungsleistungen für Hinterbliebene und Folteropfer.
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Das Interview fand am 11. November 2019 in der Casa de los Derechos Humanos statt, dem ehemaligen Folterzentrum des chilenischen Geheimdienstes in Valdivia, das heute als Gedenkort dient. Die Fragen stellten Prof. Dr. Fabían Almonacid, Professor für Geschichte an der Universidad Austral de Chile, Valdivia, und Dr. Daniel Stahl, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Frau Sepúlveda, könnten Sie uns etwas über ihre Familie erzählen? Was machten Ihre Eltern, als was arbeiteten sie, waren sie politisch aktiv?
Ich wurde in einem Dorf namens Liquiñe geboren und wuchs dort auf. Mein Vater hieß Humberto Sepúlveda und meine Mutter Ernestina Miranda. Wir waren einfache Leute vom Land, mein Vater war Holzarbeiter für eine Firma namens Bagaro und in der Region rund um Panguipulli tätig. Bis ich 14 war, blieb ich in Liquiñe, war dort in der Schule, lebte mit meiner Familie zusammen, mit meinen Eltern und Großeltern. Mein Großvater väterlicherseits war in der Kommunistischen Partei, mein Vater ebenso. Solange ich ihn kannte, war er Gewerkschaftsführer.
War die Kommunistische Partei in dieser Region von Bedeutung?
Ich sah wenige Menschen, die in der Partei gewesen wären. Die Leute organisierten sich eher vor Ort unter den Landarbeitern, am Sägewerk. Was für mich aber das Relevante an der ganzen Sache war: Die Leute konnten zwar weder lesen noch schreiben, aber sie verstanden sehr wohl etwas von sozialen Forderungen. Das hat mich schon als Mädchen interessiert. Mein Großvater konnte ziemlich gut lesen und hat vermutlich alles auswendig gelernt. Er begann, mich für Martín Fierro1 und Karl Marx und all diesen Gestalten zu begeistern. Wir unterhielten uns über die Gewerkschaftsbewegung, über die dreißiger Jahre, über Geschichte... Mein Großvater hat mich also in meinem politischen Kampfgeist geprägt: Er hieß Exequiel Sepúlveda San Martín.
Wie alt waren Sie, als Sie begannen, sich für diese Themen zu interessieren?
Seit ich ziemlich klein war, sieben Jahre. Mein Großvater war derjenige, der mir lesen und rechnen beibrachte – und während er das tat, erzählte er davon, was die Arbeiterklasse sei, und mir wurde sehr klar, wer der Patrón sei und wer der Arbeiter war; was der Patrón tat und was die Arbeiter taten. Es waren Streitigkeiten mit den Vorarbeitern oder den Chefs, die dazu führten, dass Arbeiter ihre Arbeit verloren. Ich begriff diese Sachen. Sie waren einfach, schlicht, aber mir waren sie wichtig, denn da verstand ich, dass der Patrón den Arbeiter ausnutzte, betrog, weil sie so früh raus mussten und erst so spät nach Hause kamen.
Haben Sie konkrete Erinnerungen daran, wie Arbeiter damals schuften mussten? Wie lebten Sie? Wie war ihr Verhältnis zu Ihren Vorgesetzten?
Der Patrón setzte einen Verwalter ein und es gab Vorarbeiter. Die waren immer zu Pferd und überwachten die raue Arbeit der Landarbeiter, die das Holz herausholen mussten, mit Ochsengespannen. Mein Großvater mütterlicherseits hatte ein kleines Sägewerk, das mit der großen Holzfirma Bagaro, die in der ganzen Region rodete, einen Vertrag hatte. Mein Großvater hat sein Leben lang für Bagaro gearbeitet.
Haben diese Themen der Arbeitsbedingungen in der Schule auch eine Rolle gespielt?
Mich hat das sehr interessiert, denn es gab noch viel ärmere Leute als uns. Ich war Einzelkind und mein Vater großzügig, ich durfte auf die beste Schule gehen, die es in Liquiñe gab, eine Nonnenschule. Ich hatte Privilegien, die andere Kinder nicht hatten. Mein Vater ließ sich in Liquiñe nieder, er arbeitete im An- und Verkauf von Eisenbahnschwellen, er sortierte das Holz dafür. Wir hatten ein Haus in Liquiñe und eine Schusterei. Ich kannte meinen Alltag, den anderer Kinder in der Schule und es war nicht das Gleiche. Mit manchen Freundinnen denke ich bis heute darüber nach – mit Yolanda Ávila etwa, deren Vater Verwalter war und bei meinem Großvater arbeitete. Wir hatten Privilegien, die einfache Arbeiter nicht hatten. Wir hatten schönere Dinge, wir waren gebildeter. In der Gesellschaft grenzten wir uns immer ab. Als ich die Schule beendete, dachte mein Vater, es sei eine gute Idee, wenn ich in Valdivia studieren würde. Er hatte dort Familie. Aber ich kam immer wieder dahin zurück, wo ich geboren wurde und aufgewachsen war.
Ich wollte eine Schule gründen.
Aber Sie haben in Valdivia studiert?
Ja, ich studierte dort an der Philosophischen Fakultät. Im zweiten Jahr ging ich nach Enco, am Ufer des Sees von Panguipulli, zu meinen Eltern.
Das heißt, Sie haben Ihr Studium abgebrochen?
Ja, wegen der Erkrankung meiner Mutter musste ich zurückkehren. Ich wollte gerne Lehrerin werden, das gefiel mir. Ich wollte dort, in Enco, eine Schule gründen, denn es gab keine. Die Kinder wurden ausgebeutet.
Mussten sie arbeiten?
Ja, sie arbeiteten mit ihren Eltern. Die Kinderarbeit, das Landleben, die Ungleichheit. Das hat mich geprägt.
Wie alt waren sie, als sie zurückkehrten, um die Schule zu gründen?
Ich war 15. Um die Schule zu gründen, hatte ich nur meine Entschlusskraft, aber ich legte los. Mein Vater unterstützte mich, der Verwalter des Ortes auch. Ich weiß nicht so genau, wie ich das hingekriegt habe, aber die Idee war, dass diese Kinder lesen, schreiben und rechnen lernen sollten.
Wie war diese Rückkehr mit 15 Jahren?
Ich kehrte aus Valdivia zurück aufs Land, wo meine Eltern in einem Fundo, einer Farm beziehungsweise typischen Waldarbeitersiedlung namens Enco lebten. Meine Mutter lag damals rund drei Monate im Krankenhaus, sodass ich mich um den Haushalt kümmerte und dabei eben unterrichten wollte. Ich sprach mit den Bauern, den Landarbeitern. Sie wollten mich sogar bezahlen, ich wollte das aber ehrenamtlich machen. Ich immatrikulierte schließlich 30 Kinder. Mit einigen Eltern gab es ein paar Diskussionen, denn ab dem siebten Lebensjahr mussten die Kinder arbeiten – stellen Sie sich das mal vor, ich habe Enkel, die zehn sind und keine Ahnung haben, wie man dieses oder jenes tut, und diese Kinder gingen mit ihren Eltern raus, zogen die Ochsen. Mein Werdegang, wie soll ich es beschreiben ... es ist mir immer schon leichtgefallen, mich in andere hineinzuversetzen, die Nöte der anderen zu erkennen.
Wie lange waren Sie Lehrerin?
Zwei Jahre. Die Leute kannten und mochten mich, mit den Kindern hatte ich ein gutes Verhältnis. Mich inspirierte die Geschichte von Che Guevara2 und Salvador Allende.3 Als Allende 1964 die Wahl verlor, war das sehr schmerzhaft, denn Erwachsene, die ich schätzte, waren auf der Seite Allendes.
Erinnern Sie sich an die Wahl?
Ja, ich erinnere mich, dass ich noch in Liquiñe war, in der Nonnenschule. Ich verließ die Schule, hüpfte auf die Straße und ging zur „Casa del Pueblo“ (Haus des Volkes), die ein sehr beliebter Compañero, Daniel Castro, verwaltete. Er wurde später, am 10. Oktober 1973 auf der Brücke über den Rio Toltén hingerichtet4 – nun, jedenfalls war dieser Herr auch Korrespondent des El Clarín5 und er bekam einen Schlaganfall, als Allende verlor. Niemand konnte mich je umstimmen. Ich kann das nicht akzeptieren, wenn jemand sagt, er sei eigentlich Sozialist, aber habe sich nun abgewendet. Ich akzeptiere das nicht. Man wird so geboren und stirbt so.
Wollten die Nonnen Sie umstimmen?
Ich war sechs Jahre lang in dieser Schule und die Nonnen haben es nicht geschafft, meine Einstellung zu verändern. Sie prangerten es an, aber mein Vater sah darüber hinweg. Mein Vater und mein Großvater unterstützten mich, niemals sagte mein Vater etwa „Tu dies nicht, tu das nicht“. Sondern er sagte: „Schau dich um, wo wir sind und mit wem Du Dich umgibst.“ Er gab Impulse, sagte „Ich denke, es wäre besser auf diese oder jene Weise“, statt „Das kannst Du nicht machen!“ oder „Das tut man nicht!“ oder gar: „Du bist eine Frau, misch Dich da nicht ein.“ Die Männer damals waren ja viel machohafter als die Männer heute.
Und in der Zeit als Lehrerin? Haben Sie versucht, Ihre gesellschaftliche Vision weiterzugeben?
Ja, dass eine gute Bildung wichtig ist, dass einem nichts geschenkt wird, aber der Staat einen Bildungsauftrag hat. Ich hatte immer im Hinterkopf, dass der Staat verantwortlich ist und ich habe mein Ziel erreicht, eine Schule aufzubauen und dafür zu sorgen, dass eine richtige Lehrerin eingestellt wurde. Ich wollte mich da nicht festsetzen, ich wollte studieren, vorwärtskommen. Und es kamen einige Lehrerinnen, Irma Belmar, Mitglied der Kommunistischen Partei, danach eine Schwester von ihr, eine Lehrerin aus Coñaripe. Die Schule hatte Bestand. Die Initiative hatte Bestand.
Und während Sie dort unterrichteten, sprachen Sie mit den Schülerinnen und Schülern über Sozialismus und Kommunismus?
Nein, nein. Worüber ich mit ihnen sprach, war, dass sie das Recht auf Bildung hätten, das Recht, einen Beruf zu ergreifen, und dass es nicht dem Patrón oder dem Chef vorbehalten sei, lesen und schreiben zu können. Dass sie genauso das Recht dazu hätten. Auch, dass es nicht gerecht sei, dass sie kleine Arbeiter seien, dass ihre Väter sie mitnähmen, dass ihre Eltern mit Erwachsenen arbeiten könnten, aber nicht mit ihnen, den Kindern.
Haben Sie mit ihnen über Menschenrechte gesprochen?
Ich weiß es nicht genau, aber das war mein Gedanke.
Hatten Sie zu dieser Zeit eine Vorstellung vom Begriff der Menschenrechte?
Nein, überhaupt nicht. Ich sage immer, was ich denke, und zur damaligen Zeit – woher. Zumal ich nur sehr einsame Gegenden kannte: Valdivia, Panguipulli und die kleinen Dörfer, aber nicht weiter. Ich mag nicht gerne beeinflusst, belehrt werden. Ich denke, dass alle Rechte, die alle Menschen haben, respektiert werden müssen. Und das tat ich zu jener Zeit, als ich nicht vorbereitet, aber gebildet genug war; um Ideologin zu sein, muss man nicht unbedingt Akademikerin sein. Es gibt gute Parteiführer, ich habe gute Leute kennengelernt, und Sie als Historiker dürften doch am besten wissen, dass es in all diesen sozialen Kämpfen Leute gab, die die Faust erhoben, sich reinhingen, wussten, wofür sie kämpften, weil die Arbeit so schlecht bezahlt ist. Stell Dir vor, als meine Familie an den Enco kam, ließen wir uns mit der kleinen Schule oberhalb des Flusses in Rucanahuel nieder. Wir waren sehr, sehr arm, zudem mit meiner krebskranken Mutter im Krankenhaus. Meine zwei Geschwister und ich mussten meinem Vater bei harter Arbeiten helfen: Es galt, Land zu pflügen, um Kartoffeln säen zu können. Brennholz zu sammeln. Zum Glück sind wir jeweils sieben Jahre auseinander.
Mein Großvater war schon älter und half wenig. Aber mein Vater musste ja arbeiten, er ging morgens aus dem Haus und kam erst um zehn Uhr abends wieder. Also blieben die Sonn- und Feiertage, um das Land zu bestellen und sich zu versorgen, noch dazu, da es die Patrones waren, die den Lebensmittelladen am Enco führten.
Ich kannte das alles also aus Erfahrung, es hat mich so tief geprägt, dass ich es bis heute nicht habe vergessen können. Das Heftigste, was wir damals erlebten, war, als mein Vater arbeitslos wurde und sehr viel Schnee lag, mein Großvater erkrankte und fast starb. Meine Mutter hatte ein paar Hühner und ich musste mit ein paar Eiern zum Büro des Patróns gehen und sie eintauschen für Zucker und Kräuter. Solche Sachen schmerzen mich. Ich sagte immer zu meinem Vater, dass ich dafür kämpfen würde, nicht in solchem Elend leben zu müssen. Ich fragte, weshalb der Patrón so viel für sich beanspruchen könne, um dann mit den Arbeitern zu verhandeln, die nicht genügend übrig hatten, um sich aus dem Krämerladen im Winter zu versorgen, wenn sie arbeitslos geworden waren. Während der Regierungszeit Alessandris6 lernte ich beides zusammen kennen, den Hunger und die Armut.
Und nach zwei Jahren als Lehrerin entschieden Sie sich dazu, an die Universität zurückzukehren?
Nein, ich konnte nicht. Es waren sehr schwierige Zeiten und Väter dachten damals auch anders. Wenn Du einen Freund hattest, einen Verehrer, was auch immer, dann ließ Dein Vater Dich nicht gehen. Ich lernte meinen Compañero, der in der Kommunistischen Partei war, über meinen Vater kennen.
Wo lernten Sie ihn kennen?
Dort, in Rucanahuel. Er kam dorthin und arbeitete mit meinem Vater zusammen, der stellte ihn mir vor und sagte, er sei ein guter Kerl, Arbeiter, mit einem Gewerkschaftshintergrund, der zur Kommunistischen Partei gehöre. Also fingen wir an, Bücher zu tauschen, uns zu schreiben, solche Sachen, wenn auch nur selten.
Von welchem Zeitraum sprechen wir? Mitte der sechziger Jahre?
Ich habe 1967 geheiratet. Wie würde das weitergehen? Würde ich weiter arbeiten...?
Sie haben just in dem Jahr geheiratet, in dem die Agrarreformen7 begannen, mehr Kraft zu gewinnen. Könnten Sie erzählen, wie das für Sie war, zu heiraten? Wie erinnern Sie diese Zeit als verheiratete Frau inmitten all der Ereignisse, als in der Gegend immer mehr Land besetzt wurde?
Ich habe am 1. Oktober 1967 geheiratet. Das war mir sehr wichtig. So konnten wir die Leute zusammen überzeugen, Ideen austauschen. Mir kam nicht groß etwas anderes in den Sinn, weshalb ich sonst schon so jung hätte heiraten sollen, mit 17. Mein Compañero, Rudemir Saavedra Bahamondes, war 24 Jahre alt. Also, all dieser Ideenaustausch... klar, schon damals waren wir Wandervögel, hatten keinen festen Aufenthaltsort. Ging es uns irgendwo schlecht, zogen wir weiter. Es war für mich kein Problem, meine Tochter zu nehmen und aufzubrechen. Wir besaßen nur das Nötigste.
Weshalb mussten Sie so leben?
Weil die Arbeit schlecht war. Unser Leben war sehr rastlos.
Könnten Sie diese Arbeit ein wenig beschreiben?
Die Arbeit im Gebirge, auf dem Land, besteht darin, das Holz zu fällen, zu stückeln, zu bearbeiten, Wege zu ebnen. All diese Dinge. Ich erlebte eben die Epoche der Ausbeutung und wir fragten uns, wie man davon wegkommen könnte.
Wie lebten Sie damals?
Wenn wir an einem Flecken Land ankamen, schlugen wir einen „Ruco“ auf, wie man so sagt, eine Hütte. Und dort lebten wir so lange, wie wir Lust hatten zu bleiben.
Wie lange ungefähr?
Das kann ich Ihnen nicht genau sagen. Als wir gerade geheiratet hatten, sind wir wirklich viel rumgekommen. Ich wollte auch nicht bei meiner Mutter bleiben. Also nahmen wir, was wir hatten, und zogen los.
Und jenseits dessen, dass Sie mit ihrer Tochter und Ihrem Ehemann lebten, gingen Sie damals einer politischen Aktivität nach?
Ich unterstützte meinen Compañero. Wir hatten Pläne und tauschten Ideen aus.
Wenn Sie vom „Compañero“ sprechen, meinen Sie damit Ihren Ehemann?
Ja, für mich war er „Compañero Saavedra“ und ich für ihn „Compañera Ida“. Nie war von „meiner Frau, meiner Ehefrau“ die Rede.
Warum nannten Sie sich „Compañeros“? Was bedeutete es Ihnen damals, sich untereinander so anzusprechen?
„Compañero“ war ein Wort voller Respekt und Vertrauen. Es sprach daraus ein Geheimnis, eine Gemeinschaft. Ich lernte auf diese Weise Leute kennen. Heute kostet es mich Überwindung, zu jemandem „Compañero“ oder „Compañera“ zu sagen, denn in einen Compañero setzt man Vertrauen, Loyalität. Das war es, was uns verband, Compañero Saavedra und mich. Ich glaube, dass wir darauf mehr Wert legten als auf unsere Liebesbeziehung, darauf Kinder zu haben. Es ging um Loyalität.
Verband Sie als Ehepaar auch eine politische Loyalität?
Auch eine politische Loyalität, ja, denn ich respektierte ihn sehr, aber er konnte mich nie dazu bringen, dass ich einer Partei beitrat. Er war in der kommunistischen Jugend gewesen als ich ihn kennenlernte, und später, in den Siebzigern, wechselte er zur MIR.8
Sie wollten nicht...?
Nein, nein. Ich bin sehr analytisch, hinterfrage mich selbst sehr und leide, wenn ich etwas falsch mache. Ich habe vieles gesehen, in den Parteien gab es immer dieses „Weil ich von der Kommunistischen Partei bin, bin ich glaubwürdiger“; „Weil ich von der Sozialistischen Partei bin, bin ich kämpferischer.“ Ich lernte die Kommunistische Partei als Schülerin kennen. Das waren Frömmler, Heuchler. Denn ich sah Sachen in der Nonnenschule, von Priestern, den Umgang, den Priester mit Nonnen hatten. All diese Dinge haben mich geformt. Mein Großvater väterlicherseits sagte immer, ich würde einmal Revolutionärin, er sagte: „Mit dem Kurs, den Du einschlägst, wirst Du vielleicht einmal besser dastehen.“ Wegen meiner Art, sagte er, würde ich nicht Revolutionsführerin auf der Straße, sondern auf eine andere Weise führend: „Weil Dir der Wohlstand gefällt, wirst Du weder bloß Mutter noch bloß Ehefrau sein.“ Und so war es.
Wir kamen zu den Büros des Forstunternehmens, hissten die Fahnen, sangen die Nationalhymne, und von diesem Tag an war der Fundo besetzt.
Als Ihr Mann von der Kommunistischen Partei zur MIR übertrat, dürfte das ein Wechsel von großer Tragweite gewesen sein, denn die MIR war ja im Begriff, eine bedeutende Rolle in der Region zu spielen, in der Sie lebten.
Dass mein Compañero zur MIR übertrat, war eine Verbesserung für ihn und für mich. Ich spielte dort eine größere Rolle, dort hatte man eine andere Gesellschaftsvision, soll heißen: Ich war nicht länger die Einzige, die dachte, dass man nicht arm sein müsse, um links zu sein. Ich lernte den Kommandanten Pepe9 kennen, Fernando Krauss10 – sämtliche Kommandanten der Zeit. Unser Haus wurde eine Art Refugium für sie alle und wir sprachen über die Arbeiter. Sie sagten, dass die ganze Landbevölkerung ein Recht darauf habe, ein gutes Olivenöl kennenzulernen, das Recht darauf, einen Joghurt zu essen – das kannten die Leute nicht, weil die Ernährung eine andere war: Kuhmilch, selbstangebautes Getreide, und dann das, was einem aus dem Krämerladen des Patróns zustand, das musste man sich mit kleinen Beuteln abholen: Beutelchen für Yerba-Tee, für Zucker, für alles eben. Die Arbeiter mussten das Feld bestellen, sich Tiere halten, um überhaupt Fleisch zu essen. Sonst gab es nur zwei Mal im Jahr Fleisch, wenn die Reichen es ausgaben.
Erinnern Sie sich an die Gründung des „Complejo Forestal y Madero Panguipulli“11?
Das war das Wichtigste in meinem Leben. Als Allende an die Macht kam, erfüllte sich für mich ein Traum, da ich mir vorstellte, es würde gute Schulen und eine gute Gesundheitsversorgung geben, was man auf dem Land nicht kannte. Ich lernte damals mehr und mehr junge Leute kennen, die so dachten wie ich und mit denen wir viel Musik machten – Lieder der mexikanischen Revolution. Bei den Festen war es typisch, dass mein Compañero Gitarre spielte und ein anderer das Akkordeon. Damals schmissen wir tolle Feste. Mein Leben war wie ein Kampf zwischen der Armut, den schlechten Zeiten, die ich angesichts der sozialen Ungleichheiten hatte, und Momenten voller Freude, die es auch gab. Wir organisierten die Feste, sei es eine Hochzeit, ein Geburtstag – was immer.
Als sie den Forst-Komplex mitgründeten, welchen Effekt hatte das auf Ihr Leben?
Wir sprachen immer darüber, was sich im Fundo Carranco ereignet hatte.12 Mein Vater und mein Großvater erzählten mir von der Tragödie, die sie 1956 erlebt hatten, als sie sich als Siedler dort niederlassen wollten: Sie wurden wieder vertrieben, die Häuser niedergebrannt. Also sagte ich: „Weißt du was, Compañero Saavedra, ich wäre begeistert, wenn der erste Fundo, der enteignet würde, der Fundo Carranco wäre!“ Mein Compañero war also mein Held, als er dort mitmachte, um den ersten Schlag zu setzen.13
Ihr Ehemann war bei den Besetzungen dabei?
Ja, er war bei allen Enteignungen. Ich war nur bei einigen, im Fundo Enco, Pilmaiquén, denn dort lebten wir.
Waren diese Besetzungen friedlich?
Die Arbeiter kamen zum Sägewerk, zu den zentralen Büros des Fundos und hissten die Fahnen, sangen die Nationalhymne, und von diesem Tag an war der Fundo besetzt.
Gab es keinen Widerstand?
Nein, als schon alle Fundos enteignet waren, griff Rodrigo Undurraga14 ein und formulierte aus dem Geschehen ein Programm, das er Salvador Allende übergab, als der in Neltume war. Dort war ich damals auch dabei, ich habe sogar ein Foto von Rodrigo Undurraga, wie er den Bericht übergab.15 Die Regierung sagte nicht: „Wenn der Herr Soundso Besitzer soundso vieler Hektar war, hat er sie den Mapuche weggenommen.“ Nein, der chilenische Staat, der Präsident, bezahlte ihm die Flächen, die er hatte. Es war keine Enteignung im Sinne eines Raubes und dann musst Du mit Deiner Habe gehen, nein, der Staat entschädigte.
Welche Rolle spielten damals die Kommunistische Partei und die MIR, um sich zu organisieren?
Was den Komplex betrifft, erinnere ich mich weder an die Kommunistische noch an die Sozialistische Partei. Ich hatte Kontakte zu Leuten von der MIR, sie waren die Ideologen, Impulsgeber und Organisatoren. Als das Land besetzt war, gab es die Arbeiterschaft, die organisiert war, und dann erst kamen, wie immer, die Kommunistische und Sozialistische Partei dazu.
Und der Movimiento de Campesinos Revolucionarios16 war auch mit von der Partie?
Die Leute waren nicht wirklich reif für die Revolution, nicht zu jener Zeit. Als die Agrarreformen eingeläutet wurden, war das eben die Revolution: das Land bearbeiten, die Möglichkeiten haben, um es zu bearbeiten. Aber es gab keine Partei-Einheit, die dort war. Jedenfalls erinnere ich mich nicht daran.
Ihr Mann arbeitete für den Komplex. Haben Sie in jenen Jahren auch bei Aktivitäten mitgemacht?
Wir machten mit. In jener kurzen Zeit wurden wir sesshafter. Wir besetzten den Fundo Pilmaiquén und lebten dort. Rudemir war ein guter Landwirt, also sprachen wir eines Tages miteinander, und ich sagte: „Schau mal, ich denke, es wäre gut für uns, wenn wir uns stabilisieren würden.“ Wir hatten bereits zwei Kinder, also mussten wir unser Leben normalisieren. Wir zogen in die Gegend der Quebrada Honda, auf die andere Seite des bereits entwässerten Pirehueico-Sees. Aber die Zeit war kurz. Es wurde so vieles in so kurzer Zeit getan, dass ich wirklich nicht verstehe, wie das geschehen konnte. Rudemir wurde schnell Gewerkschaftsführer, dann Leiter der Arbeitersektion der Quebrada Honda – von den Arbeitern gewählt, nicht von der Partei ernannt. Also ließen wir uns dort nieder, um ein etwas ruhigeres Leben zu leben.
Wie lange waren Sie dort?
Kurz, es kommt mir rückblickend wie ein Traum vor: Es gelang uns, uns in einem Haus niederzulassen, ein großes Haus, das zugleich das Hauptquartier der Genossen war. Nun, dort wurde Rudemir verhaftet, und an diesem Ort blieb ich allein zurück.
Alle politischen Aktivisten, Gewerkschaftsführer, Verwaltungsleute des Forstkomplexes – alle verschwunden.
Das war wenige Tage vor dem Putsch?17
Der Putsch fiel auf den 11. September – und am 12. September um 13 Uhr verhafteten sie Rudemir.
Das Militär?
Nein, Carabineros. Hubschrauber begannen, über dem Haus zu kreisen.
Warum haben sie ihn mitgenommen?
Sie haben die führenden Köpfe unter den Gewerkschaftern verhaftet. Das ist die Wahrheit. Sie wollten die Denker eliminieren, diejenigen, die die Arbeiter revolutionierten, alle, die sehr aktiv waren. Sein Verbrechen war, ein Aktivist der MIR, ein Gewerkschaftsführer zu sein. Das war das Verbrechen, denn er wurde am 12. September 1973 verhaftet und am 4. Oktober 1973 hingerichtet. Er schaffte es nicht mal, einen Monat am Leben gelassen zu werden.
Wurde er nach Valdivia überstellt? Und wussten Sie damals, wo er war?
Ja, nach Valdivia. Ich trat in die Fußstapfen meiner Compañeros. Von klein auf kannten mich die Leute, und Verbündete gaben mir Informationen. Sie sagten: „Wir haben den Compañero an diesem oder jenem Ort gesehen, sie haben ihn da und da hingebracht.“ Ich ging dann ich auf die Wache in Neltume, um nachzufragen, und dort war jemand, mit dem wir in Liquiñe zur Schule gegangen waren. Also fragte ich ihn selbstbewusster und der Polizist sagte mir: „Sie haben all diese Leute nach Valdivia gebracht. Rudemir zuerst, und dann die Leute aus Neltume, aus der ganzen Gegend hier, in Lastwagen.“
Für den Komplex war das ein gewaltiger Schlag, nach dem 12. September waren die Menschen wie vom Erdboden verschluckt: Die Häuser leer, die Frauen allein, die verbliebenen Männer alt. Die ließen sich auf nichts mehr ein. Alle politischen Aktivisten, Gewerkschaftsführer, Verwaltungsleute des Komplexes – alle verschwunden. Der Einzige, den ich danach nochmal sah und um einen Wagen bat, um zu verschwinden, war Enrico Bittner, ein junger Buchhalter, von dem ich nicht weiß, ob er heute noch am Leben ist. Später lebte er in Las Ánimas, er war Unternehmer in Collico.
War Ihr Ehemann damals an jenem Angriff auf das Kommissariat in Neltume beteiligt?
Das war kein Angriff. Die Polizisten verfassten nur einen Bericht, dass es einen Angriff auf die Wache gegeben habe. Ich erinnere mich sehr gut daran, denn das Treffen fand in meinem Haus statt, und Rudemir sagte mir: „Wir werden versuchen, mit den Mistkerlen auf der Wache zu sprechen, damit sie uns bei der Verteidigung des Komplexes helfen“, und ich sagte: „Schau, Rudemir, ich hoffe, es gibt nicht so viele Tote.“
War Rudemir Saavedra der Meinung, dass man gegen den Putsch Widerstand leisten müsse?
Er war der Meinung, dass man sich wehren müsse, aber nur, solange die Polizisten18 auf ihrer Seite wären.
Und das hoffte man?
Ja, das hoffte man. Man hatte eigentlich eine ganz gute Verbindung gehabt, die Polizisten waren diejenigen, die sozusagen als Autoritäten des Komplexes auftraten. Doch als sie an jenem Morgen zur Wache gingen, um mit den Polizisten zu reden, verbarrikadierten sie sich und fingen an zu schießen und die Frauen mit den Kindern riefen „Extremisten! Miristas!“ 2005 klagte ich, um den Fall zu rekonstruieren, denn die Aktivisten griffen die Wache in Neltume nicht an, sie wollten mit der Polizei sprechen.
Ihrem Mann gelang es, nochmal nach Hause zu kommen?
Ja, er kam nochmal nach Hause – deswegen haben sie ihn ja auch dort verhaftet.
Und dort erzählte er Ihnen, dass die Sache misslungen war?
Dass er und die anderen gescheitert seien, weil die Frauen und Kinder zu schreien angefangen hätten und die Morgendämmerung angebrochen sei. Jeder ging wieder nach Hause.
Und haben Sie Ihren Mann nochmal wiedergesehen?
Ja, aber ich war noch nie in meinem Leben so wütend auf ihn gewesen, ich sagte ihm: „Weißt Du, sie werden euer Leben nicht verschonen!“
Das haben Sie ihm damals gesagt?
Ja, ein Freund, Juan Reyes, wollte ihn zuvor drei Mal zur Abreise bewegen. Der Freund überquerte die Berge und wurde gerettet.
Und Ihr Ehemann?
Er wollte nicht gehen. Ich war so wütend, ohnmächtig. Ich machte damals die Erfahrung, dass man mehr als zehnmal nachdenken muss, bevor man handelt.
Dachte Ihr Mann, ihm würde schon nichts passieren?
Ja, das dachte er wohl. Ja, er sagte: „Was wird mir schon geschehen, wenn ich doch nie etwas getan habe! Wir schießen nicht, wir haben keine Waffen, wir gingen nur zu den Polizisten, um mit ihnen zu reden, damit sie auf unserer Seite sind.“ Und ich sagte: „Aber so wird es nicht sein. Die Miristas haben die Reichen enteignet, das Huhn getötet, das die goldenen Eier der Reichen legte. Also werden die Miristas das jetzt mit ihrem Leben bezahlen.“ So war es auch.
Er wurde am 4. Oktober ermordet.
Ja. Ich kam sofort nach Valdivia, nachdem sie ihn verhaftet hatten – und bin nie wieder zurückgekehrt.
Wurden Sie über seinen Tod informiert?
Nein. Wir erfuhren es aus den Nachrichten, aus der Tageszeitung El Correo und dem Radiosender Camilo Henríquez. Ein paar Tage nach der Verhaftung Rudemirs – ich weiß nicht mehr, ob es drei oder vier Tage waren – kam eine Patrouille vorbei, ein Konvoi von Soldaten mit schwarzen Baretts. Die Nachbarn dachten, sie würden auch mich mitnehmen. Unter dem Vorwand, Brot zu kaufen, fragten sie mich, ob Saavedra dort lebte, und ich sagte ja. „Bist du seine Frau?“ Ich sagte wieder ja und fragte, ob ich ihn sehen könne, und er sagte nein. Ich frage ihn, ob er wisse, wo er sei, und er sagt, er sei in Valdivia. Ich besorgte ihm Brot. Der Soldat gab meiner ältesten Tochter ein paar Münzen und sagt: „Weißt du, ich gebe dir den Rat, so schnell wie möglich zu verschwinden.“
Das war eine so bedrohliche Warnung, dass ich zu Enrico ins Hauptquartier ging, um den Wagen bat und alles packte, was ging, und zu meinen Eltern aufbrach. Von dort ging ich nach Valdivia. Nachbarn erzählten, dass wenige Tage später eine weitere Patrouille vorbeikam und von links und rechts ins Haus geballert haben.
Wie beginnt man damit, sich nach so einem Vorfall ein neues Leben aufzubauen?
Ich weinte, ich weinte auf herzzerreißende Weise, denn es war, als wäre ich in einen Abgrund gestürzt worden, einen Ort, an dem ich niemanden kannte, eine andere Welt. Ich war so wütend auf alle in Uniformen, so empört über die Machthaber. Aber, was ich eines Tages auf dem Friedhof versprochen hatte, habe ich gehalten. Ich habe versprochen, dass ich in alle Himmelsrichtungen schreien, dass ich die Wahrheit sagen und dafür kämpfen würde, den Tod der Genossen aufzuklären und zu bestrafen. Nun, noch gibt es keine Strafen, keine Gerechtigkeit, aber zumindest habe ich einklagen können, dass die Szene rekonstruiert, die Opfer exhumiert und identifiziert wurden (Schluchzen). Ich war auf alle Welt wütend, weil aller Kampf, alle Arbeit vergebens war: Die Reichen blieben reich, die Armen arm. Das ist die Wahrheit.
Und hier in Valdivia, wer hat Sie unterstützt?
Ich danke einer Schwester meines Vaters, meiner Tante. Sie lebte – sie lebt immer noch – in Valdivia. Bei ihr durften wir wohnen, während ich weiter nach den anderen suchte. Ich fühlte – und fühle bis heute – so viel Wut. Das hat mich geprägt. Aber bevor ich etwas mache, wie jetzt bei diesen Märschen,19 an denen ich mich beteiligte, wäge ich stark ab und informiere mich intensiv.
Und warum sind Sie so vorsichtig?
Ich kenne die Menschen, und ich kenne ihre Bestrebungen... Die Erfahrung aus dem Jahr 1973 und alles, was ich durchlebt habe, hat mir geholfen, in dem, was ich tue, entschlossene Schritte zu unternehmen. Aber ich denke eben nicht nur einmal, sondern mehr als zehnmal über die Dinge nach, ich betrachte alle Standpunkte, was passieren kann, was ich tun werde, und das hat mich als heutige Führungspersönlichkeit bekannter, anerkannter im Kampf gemacht. Aber das hat mich auch viel gekostet, familiär zum Beispiel, ich hatte vier Kinder großzuziehen. Heute sind sie alle fest im Beruf.
Das Leben war ein einziger Rettungsversuch.
Wie alt waren sie damals?
1973 war meine älteste Tochter fünf Jahre alt, die zweite zwei, die dritte ein Jahr alt. Und ich war im dritten Monat schwanger.
Sie wurden 1974 Jahre erneut Mutter.
Ja, am 21. März. Mit all den Schwierigkeiten zog ich vier Kinder groß.
Als was haben Sie in jenen Jahren gearbeitet?
Ich habe vieles getan. Aber vor allem arbeitete ich als Hausangestellte.
Hier in Valdivia?
Hier in Valdivia. Ich musste lernen, gut Geschirr zu spülen, ich musste lernen, Häuser zu putzen, lernen, mich um Menschen zu kümmern. Schauen Sie, von 1973 bis 1977 wurde ich gesucht, und sie fanden mich in einer Notsiedlung aus den sechziger Jahren, dort, wo heute das Schwimmbad namens Aqua ist, wohnte ich in Gang B. Es gab Hilfe vom Internationalen Roten Kreuz, die einige Sozialarbeiter schickten, die mir und anderen halfen. Ich überlebte nur mit der Unterstützung dieser Menschen und auch dank meiner Tante, die evangelisch war und der Kirche angehörte, die sich in Carlos Hilker befindet. Diese Kirche hat mich unterstützt. 1977 fanden sie mich in der Wohnung, die mir von der Sozialarbeiterin, Luisa Toledo hieß sie, zugewiesen worden war. Am 17. Mai zogen wir ein. Eines Morgens im Juni oder Juli kam die Polizei und suchte mich dort in jener Wohnung.
Warum?
Sie suchten nach mir, weil ich die Frau eines Extremisten war und man vermutete, ich wüsste, wo sich andere Leute aufhielten. Sie hofften, ich sei ein Schlüssel, um andere auszuliefern.
Es waren Geheimdienstler der Carabineros?
Klar, dann kommen sie um sieben Uhr morgens dorthin, wo ich mit meinen Kindern lebte.
Bis dahin wussten sie nicht, wo Sie sich aufhielten?
Nein, weil ich im Untergrund lebte. Wir lebten mal da, mal dort.
Und wurden Sie verhaftet?
Nein, selbst in diesen Gruppen gibt es immer gute Menschen. Nach einer Weile fragte mich der Leutnant: „Wissen Sie, warum Sie gesucht werden?“ „Vermutlich nicht, weil ich vier Kinder habe.“ Es war noch so früh, dass ich die Kinder noch nicht in den Kindergarten gebracht hatte. Nachdem sie die ganze Wohnung auf den Kopf gestellt hatten, sagte der Leutnant: „Ab heute können Sie ein normales Leben führen.“ Ich war wie gelähmt, denn ich dachte, das sei mein Ende, dass sie mich mitsamt der Kinder verhaften würden, weil ich meine Kinder nicht weggeben wollte, zu niemandem. Die Polizisten sagten: „Was sollen wir tun? Wir werden sie mitnehmen, wir werden sie verhaften.“ Aber der Leutnant sagte: „Nein, hier gibt es nichts zu tun.“ Währenddessen springt mein Sohn aus seinem Bett und fragt: „Mama, werden sie dich auch umbringen?“ Und er umarmt mich, der Leutnant sagt ihm, dass er ins Bett gehen soll und dass nichts passieren wird, und er umarmt mich weiter und weicht nicht von meiner Seite.
Sie hatten Ihren Kindern erzählt, unter welchen Umständen ihr Vater starb?
Sie wussten, warum ich sie auf den Friedhof mitnahm, und ich erklärte ihnen von klein auf, warum wir allein waren, warum das alles passiert war. Ich war damals wie gelähmt, weil ich dachte, das wäre mein Ende. 1977 wurden viele Leute verhaftet und in die Turnhalle Gil de Castro gebracht. Dorthin verschleppten sie viele Leute.
Also, die Polizisten verschwanden, ich blieb zuhause. Ich hatte mich mit einer Nachbarin von gegenüber angefreundet, die Brennholz verkaufte und nach meinen Kleinen schaute, wenn ich mal wegmusste. Am Tag danach war ich wie gelähmt – und gleichzeitig voller Wut. In diesen Momenten kam all das araukanische20 Blut in mir hoch, und meine Nachbarin sagt zu mir: „Was wirst du tun?“, und ich sage: „Morgen gehe ich zur Stadtverwaltung.“
Am nächsten Tag bin ich früh aufgestanden und habe das jüngste Kind bei ihr gelassen, die anderen in den Kindergarten gebracht und ich sagte ihr: „Wenn die Sozialarbeiterin oder das Rote Kreuz kommt, sagen Sie ihnen, ich bin in der Stadtverwaltung.“ Ich war entschlossen, mit dem Bürgermeister zu sprechen, also sprach ich mit der Sekretärin. Sie sagte mir, dass er gerade in Puerto Montt unterwegs sei. „Aber ich muss mit jemandem sprechen“, sagte ich, und sie ging in ein anderes Büro und sagte mir, dass ich mit dem persönlichen Sekretär des Bürgermeisters sprechen könne. Ich war so verzweifelt und gleichzeitig ruhig, und begann ihm alles zu erzählen, was geschehen war. Und der Mann schrieb nichts mit, das einzige, was er zu mir sagte, war: „In denselben Tagen, in denen sie Comandante Pepe getötet haben?21 Waren Sie Freunde?“
Ich erzählte ihm die ganze Lebensgeschichte bis zu dem Tag, an dem die Nationalpolizei zu uns nach Hause kam, und da schwieg ich. Wie schon gesagt, er erklärte: „Ab heute haben Sie Ihr eigenes Haus.“ Ich hatte kein Sparbuch, keine Beziehungen zu Nachbarschaftsvereinigungen, absolut nichts. Ich sagte ihm: „An einem Tag bin ich hier, an einem anderen Tag bin ich dort, aber immer mit meinen Kindern an meiner Seite.“ Und er sagte zu mir: „Ab heute haben Sie Ihr Haus.“ Ich konnte es nicht glauben. „Sie können bleiben, wo Sie gerade sind, ich werde einen Sozialarbeiter schicken, damit er ein Gutachten schreibt“, sagte er. Und um acht Uhr am nächsten Morgen traf die Sozialarbeiterin ein, um mir den Bericht zu geben. Drei Tage später hatte ich mein Haus, in dem ich bis heute wohne.
Und Sie mussten nichts für das Haus bezahlen?
Es wurde ein Arrangement getroffen, das ich nie verstanden habe. Aber die Sache ist: Ich habe ein paar Raten bezahlt, mehr nicht.
Erinnern Sie sich an den Namen des Sekretärs?
Es war Oberst Carlos Ponce. Als ich wegen der zwölf ermordeten Miristen, darunter mein Mann, Klage eingereicht hatte, hatte er wohl auch damit zu tun.
Glauben Sie, er wollte seine Schuld wiedergutmachen?
Ich wusste nichts davon, bis Richter Guzmán es mir erzählte.
Derselbe Mann, der Ihnen half, war in die Ermordung Ihres Ehemannes verstrickt.
Ich wusste davon nichts, er aber schon.
Und deswegen hat er Ihnen das Haus gegeben?
Das habe ich so nie interpretiert.
Ab wann sind Sie mit anderen Menschen in Kontakt getreten, die Ähnliches durchgemacht haben?
Ich blieb mit Freunden und Compañeros von damals irgendwie in Kontakt, ich kannte ja alle Menschen im Forst-Komplex. Es war nur schwierig, mit ihnen zu kommunizieren. Aber so fand ich nach und nach heraus, dass sie in Chihuio, Maiquillahue und Liquiñe auch viele Menschen verhaftet hatten, dass in jenem Oktober 1973 die sogenannte Karawane des Todes22 vorbeizog und es zu sehr vielen Mordfällen kam.
Als Sie mit Ihren Kindern Ihr eigenes Haus bewohnen konnten, wie war ihr Leben damals?
Voller Arbeit. Ich habe so vieles gemacht und 1980 auch ein zweites Mal geheiratet. Aus dieser Ehe stammt ein Sohn, der heute Lehrer in Coyhaique ist. Das Leben war ein einziger Rettungsversuch, aber diese Ehe hat nicht funktioniert, weil es nicht das war, was ich suchte.
War es jemand, der auch in der politischen Linken aktiv war?
Nein, überhaupt nicht. Er kam aus einer anderen Welt. Das einzige, was ich dank dieser Ehe herausfand, war, dass die Särge der hingerichteten 12 Miristen23 zum Imprägnieren geschickt wurden, und zwar dorthin, wo er arbeitete: bei der Firma Laminadora de Madera in Chumpullo. Man suchte überall nach Informationen. Diese Ehe hat nicht geklappt; weil ich viel ausging, ich ging zu meinen seltsamen Treffen. Ich schob die Kirche vor, die Schulversammlungen, alles.
Haben Sie mit Ihrem Mann darüber gesprochen, was passiert ist?
Er wusste, was mir widerfahren war, aber später, als er mich öfter bei den Protesten sah, sagte er mir, dass ich Kommunistin sei und dass ich wolle, dass sie ihn umbrächten, und damit hat er die Beziehung noch mehr verdorben.
Wir haben die Leichen nicht gesehen, wir haben keine Totenwache halten dürfen. Ich glaube, das ist es, was am meisten schmerzt.
1983 begannen die Proteste gegen die Diktatur. Da haben Sie sich beteiligt?
Ja, ich habe gefastet, ich war auch dabei, als sich hier in Valdivia eine Oppositionsgruppe bildete. So habe ich alle Sorten Menschen kennengelernt, und deshalb hege ich den Menschen gegenüber sehr viel Misstrauen.
Können Sie uns etwas darüber erzählen, wie Sie damit begonnen haben, sich bei der Vicaría de la Solidaridad24 einzubringen?
Nun, es begann damit, dass ich Zeugnis über alles ablegte, was mir widerfahren war. Dort lernte ich auch Roberto Arroyo25 kennen.
Erinnern Sie sich, in welchem Jahr das war?
Das war in dem Jahr, in dem sie die Compañeros in Puente Estancilla ermordeten, 1984.26
Sie wandten sich an Vicaría, weil die Organisation Informationen gesammelt hat. Können Sie uns etwas aus dieser Zeit erzählen?
Meine Beweggründe, mich an die Vicaría zu wenden, waren folgende: Ich habe mehr als zehn Jahre lang meinen Compañero unter den Leuten gesucht, weil ich seine Leiche nie zu Gesicht bekommen hatte. Am 5. Oktober, als die Soldaten ihn begruben, waren die Särge versiegelt, wer worin lag, entnahm man einem Papier. Wir haben die Leichen nicht gesehen, wir haben keine Totenwache halten dürfen. Ich glaube, das ist es, was am meisten schmerzt. Oder, weh tut alles, aber das ist das Schrecklichste. Sie haben sie getötet, sie haben sie am 4. Oktober ermordet und am 5. Oktober um fünf Uhr nachmittags haben sie sie umgeben von Soldaten und ein paar anderen Leuten, unter ihnen die Witwe des Comandante Pepe, begraben. Ich war nach La Unión gereist, um die Eltern meines Compañeros zu warnen, ihnen zu sagen, dass man ihren Sohn gefangen halte und wir nicht wüssten, was passieren würde. Dort vernahm ich die Nachricht, dass sie am 4. Oktober um sechs Uhr nachmittags hingerichtet worden waren. Daraufhin kamen wir hierher.
Ich kam am 6. Oktober an und wollte sein Grab aufsuchen, im Abschnitt Nummer 12 des Allgemeinen Städtischen Friedhofs Nr. 1. Dort hatten sie sie gelassen, die Compañeros, wenn man zum Friedhof reinkommt, links. Ich musste dorthin, um glauben zu können, was geschehen war, denn akzeptieren wollte ich es nicht. Bis heute bewahre ich die Sterbeurkunde auf.
Und weshalb gingen Sie 1986 zur Vicaría?
Ich wollte Gewissheit, dass es wirklich die Compañeros waren, die damals starben. Wir begannen damals damit, die Leichen zu exhumieren, die im Hof Nr. 12 erschossen worden waren. Wir mussten die Reste exhumieren, damit sie nicht verschwänden; ein Zuvorkommen des Friedhofs, dass man uns erlaubte, auf eigene Rechnung die Überreste zu verlegen.
`Wir´ bedeutet Sie und die Vicaría?
Klar.
Gab es noch andere Witwen?
Nein, nein. Yolanda Ávila und die Angehörigen von Purísimo Barría waren diejenigen, die sich um die Abwicklung kümmerten. Ich war die einzige, die sich für die Compañeros verantwortlich machte, denn die Witwen der anderen Opfer waren an andere Orte gezogen. Die Einzige, die übrig blieb und grübelte, war ich.
Aber Sie hielten den Kontakt zu den anderen Witwen?
Nein, wir verloren uns aus den Augen.
Erfuhren sie von der Exhumierung?
Nein, nur einige Angehörige. Die Überreste von José René Barrientos Warner27 haben wir noch nicht exhumiert. Wir haben die Unterlagen und alles, aber ich konnte es damals nicht erledigen, weil die Zustimmung eines Familienmitgliedes fehlte und dann müsste ich wieder mit der Menschenrechtsanwältin zusammen klagen. Es sind so viele Sachen zusammengekommen! Jetzt müsste man wieder zum Minister, damit er die Exhumierung anordnet. Das Grab von René wurde verkauft und da sind sie, die Überreste.
Haben Sie in der Vicaría daran gearbeitet?
Nein, die Vicaría begann, Berichte über alle Fälle in der Region zusammenzutragen.
Und Sie haben Ihren Fall auch in der Vicaría geschildert?
Ja, wobei sich die Katholische Kirche in der Sache gespalten zeigte. Der mittlerweile verstorbene Bischof Jiménez28 stellte sich auf unsere Seite und nahm die Anklagen entgegen, unterstützte uns.
Was haben Sie damals erreicht?
Das Einzige, was wir wissen wollten, war, wo sich die sterblichen Überreste der Hinrichtungsopfer befänden.
Aber Sie haben keine juristische Anklage erwartet?
Nein, nichts dergleichen, wir lebten schließlich mitten in einer Diktatur.
Haben Sie gehofft, dass Sie eines Tages würden Anklage erheben können?
Das hätten wir so nie gedacht. Für uns war es wichtig, Zeugnis abzulegen und herauszufinden, wo die Ermordeten begraben lagen, und so für etwas Gerechtigkeit zu sorgen.
Und nachdem Sie die Leiche gefunden und exhumiert hatten, was war der Grund, sich weiter zu engagieren?
Um weiter Zeugnis abzulegen. Über den Schmerz, die Wut, die Hilflosigkeit, alles, was eine Diktatur auslöst. In meinem Fall die Ohnmacht, die Wut, und wenn das Volk nicht aufschreit, haben sie nichts, wenn die Leute sich nicht organisieren, haben sie nichts. Wir sahen uns dazu verpflichtet, uns als Angehörige der Verschwundenen, der aus politischen Gründen Hingerichteten zu organisieren, um voranzukommen, und uns auch mit anderen Gruppen in anderen Regionen zu vernetzen und auch mit der Gruppe aus Santiago de Chile zusammenzuarbeiten.
Sprach man offen darüber, was passiert war? Und hörten die Leute zu?
Das ist das andere, das besonders schrecklich war: Die Leute glaubten uns nicht. Sie blieben bei der Ansicht, dass es Extremisten waren. Extremisten töteten, Extremisten machten sowas und das rechtfertigte die Exekutionen. Wir hatten keine Unterstützung, wir mussten unter Leute und die Unterstützung suchen, andere Fälle, Angehörige ausfindig machen, eine Organisation gründen, um glaubwürdig zu sein.
Ich widmete mich der Dokumentation, um herauszufinden, wie viele gestorben waren.
Und wann haben Sie angefangen, sich zu organisieren?
Als die letzte Hinrichtung hier in Valdivia stattfand. 1984 wurden noch drei Compañeros ermordet: Rogelio Tapia de la Puente, Raúl Barrientos Matamala und Juan José Boncompte.
Waren sie auch bei der MIR?
Ja, einer war ein Rückkehrer.
Rückkehrer aus Argentinien?
Nein, er war in einem anderen Land, ich glaube in Schweden gewesen. Rogelio Tapia de la Puente war verheiratet und hatte Kinder, und Raúl Barrientos war Student. Damals bestand die Diktatur noch, aber die Unterdrückung war nicht mehr so schlimm wie bis 1980. Danach geschahen noch ein paar Morde, es gab die Ermordung der Rückkehrer in Neltume 1981. Und nach den Morden von 1984 fingen wir an, uns zu treffen. Das erste Treffen fand im Haus von Compañera Luisa Hernández statt. Die Agrupación de Familiares de Detenidos Desaparecidos29 gründete sich im August 1985. Wir machten es uns zur Aufgabe, die anderen Fälle in der Region und die Angehörigen der Opfer ausfindig zu machen. Da fingen wir also an, uns zu treffen. Wir sahen, dass wir nicht allein waren, denn seit 1973 fühlte ich mich allein gelassen, hatte niemanden, mit dem ich über das Erlebte reden konnte. Ich war leider selten dabei, weil ich arbeiten, die Kinder hüten musste, so viele Sachen. Mit vollen Kräften begann ich 1991 mitzuarbeiten.
Nach der Transition.30
Später, weil ich zunächst einfach nur als eine Person mehr teilnahm, indem ich Meinungen äußerte, zuhörte und dazulernte, erfuhr, was anderen Familien an anderen Orten widerfuhr. Zunächst widmete ich mich eher der Dokumentation, um herauszufinden, wie viele in Chihuio gestorben sind, wie viele in Liquiñe und ich begann, eine Art Rückblick auf die Agrupación de Familiares de Detenidos Desaparecidos zu schreiben. Meine Arbeit bestand vor allem darin, Daten zu sammeln. Parallel zur Gruppe in Santiago arbeiteten wir damals an unserem eigenen Wiedergutmachungsgesetz, nämlich das Gesetz Nr. 19.123.31
Wurde das in den achtziger Jahren gemacht?
Wir begannen noch während der Diktatur, an diesem Gesetz zu arbeiten. Das war ein Vorschlag aus der Gruppe. Wir baten Leute mit Fachwissen um Unterstützung bei dieser wichtigen Sache, Soziologen, Wirtschaftswissenschaftler, Juristen, Sozialarbeiter. Und natürlich arbeiteten wir daran, Pinochet32 abzusetzen. Es betrübte uns, dass er ständig die Plebiszite für sich entschied und die Leute seine Herrschaft nicht durch ein Nein-Votum beendeten.33
Sie haben uns gesagt, dass Sie persönlich eine Distanz zu politischen Parteien haben. Welches Verhältnis hatte die Agrupación in dieser Zeit zu den politischen Parteien, zum Beispiel bei der Volksabstimmung 1988?
Keine, oder ich erinnere mich nicht. Ich glaube den Leuten in dieser Hinsicht gar nichts. Ich war außerdem sehr enttäuscht von den Leuten der MIR.
Warum?
Nun, sie mögen ihre Gründe gehabt haben, uns nicht zu unterstützen, weil die Witwen uns nicht unterstützt haben. Wir haben unsere Familien aus eigener Kraft befreit.
Aber wie hätte die MIR, die damals weiterhin verfolgt wurde, Ihnen helfen können.
Es gab einen Weg. Wer es wollte, der tat es.
Hat Ihnen nie jemand angeboten, das Land zu verlassen und ins Exil zu gehen?
Nein, beziehungsweise: Ich hatte solche Angebote von Externen. Zu dieser Zeit kannte ich Dr. Moraleda, ich lernte ihn kennen, als ich meinen Sohn bekam. Es gab eine Hebamme, die mit ihrem Mann nach Kanada ging, und sie meinte, wir könnten auch dorthin.
Sie hatten angefangen, über die Agrupación in Santiago zu sprechen. Wie haben Sie mit ihnen zusammengearbeitet?
Bis heute gibt es eine Koordination aller Gruppierungen von Familienangehörigen der Diktaturopfer in Chile. Bereits vor 1980 wurde an einem Vorschlag zu Menschenrechten gearbeitet, lange ging das schleppend. Wir haben uns getroffen, um uns selbst zu organisieren, um unsere Forderungen abzustimmen. Diese Treffen waren wichtig, um unser Gesetz der Wiedergutmachung auszuarbeiten.34 Jeder sollte eine Idee beitragen. Als die Übergangsregierung gebildet wurde, war dies der Gesetzentwurf, der Präsident Aylwin35 vorgelegt wurde. Wir haben seither jeder neuen Regierung unsere Forderungen vorgelegt.
Was für Forderungen waren das?
Unser Forderungskatalog umfasste 19 Punkte. Beispielsweise sollte die Verfassung geändert werden. Es gibt darin Artikel, die uns in Bezug auf Gerechtigkeit nicht gerade begünstigen, sondern eher dafür sorgen, dass Menschenrechtsverletzungen ungestraft bleiben.
Wie viele dieser Punkte sind noch offen?
Viele. Geleistet wurden Wiedergutmachungszahlungen und wir konnten darauf hinwirken, dass das Gesetz 19.123 verändert wurde.36 Mit der Änderung forderten wir Richter und Anwälte, die ausschließlich für unsere Fälle zuständig sein sollten. Entsprechend wurde im Rahmen des Menschenrechtsprogramms, das vom Innenministerium abhängig war und heute unter der Schirmherrschaft des Justizministeriums arbeitet, ein komplettes Team gebildet.
In Europa und den Vereinigten Staaten, an vielen Orten im Westen aber auch im Osten, hatten sich in den siebziger Jahren Chile-Solidaritätsgruppen gebildet. Hatten Sie Kontakt zu diesen internationalen Netzwerken?
Tatsache ist, dass diese ausländische Solidarität immer nur bis nach Santiago reicht. Die anderen Regionen erreichten sie nicht, und wie die Vicaría de la Solidaridad haben sich in jenen Jahren mehrere Menschenrechtsorganisationen gebildet. Man erreichte also die Organisationen, nicht direkt die Agrupación.
Hat das zu Ungleichheit zwischen den Gruppen geführt?
Ja, aber es führte auch dazu, dass wir uns in unseren Gruppen besser organisierten, einen rechtlichen Status bekamen und unsere Unabhängigkeit verteidigten. 18 Jahre lang hatte die Agrupación keinen Rechtsstatus; er war uns von der Gemeindeverwaltung immer verweigert worden, weil wir unseren Namen hätten ändern, einen kulturellen Verein gründen müssen. Ich war damals entschieden der Meinung, dass wir den Namen nicht ändern könnten, und sie sagten dann immer: „Das passt uns aber nicht“ und ich erwiderte: „Wir können den Namen unserer Gruppe nicht ändern, denn wir sind de facto ja schon eine Gruppe und wollen keinen Kulturverein gründen, sondern eine Menschenrechtsgruppe bilden, wir wollen unsere Arbeit in unserem Sinne gestalten.“
Wenn Sie an das Ende der Diktatur und die Zeit zu Beginn der Aylwin-Regierung zurückdenken: Welche Erwartungen hatten Sie als Organisation an die demokratischen Regierungen? Und was ist aus diesen Erwartungen geworden?
Schon beim Zuhören fiel uns während des Regierungsantritts die Kinnlade herunter, als Aylwin in seiner Rede im Nationalstadion „so viel Gerechtigkeit wie möglich“ verkündete. Wir wollten uns für die Wahrheit einsetzen, wir wollten uns für Gerechtigkeit einsetzen. Auf Wiedergutmachungszahlungen legten wir es nicht an. Was aber passierte, war, dass der chilenische Staat uns mit Wiedergutmachung zum Schweigen bringen wollte. Aber die Zahlungen empfanden wir nicht als gerecht: 2004 forderten wir eine 100-prozentige Erhöhung der Renten – sie gaben uns 50 Prozent. Es ging um Stipendien, damit unsere Kinder nicht auf einen, sondern auch auf einen zweiten Abschluss würden studieren können; Reparationen für unsere Kinder, die über 25 waren, denn die Zahlungen, die der Staat vorsah, war für alle Kinder unter 25 Jahren, aber zu dem Zeitpunkt waren unsere Kinder ja bereits fast alle erwachsen. Das ist also passiert. Wir erkannten die ganzen Ungleichheiten und setzten uns erneut für eine Gesetzesänderung ein, was dann ja auch geschah.
Aber davor gab es die Rettig-Kommission,37 nicht wahr?
Wir haben die Rettig-Kommission ins Leben gerufen, weil wir mit Herrn Rettig zusammengearbeitet haben. Das Profil der Gruppen oder Organisationen, die daran gearbeitet haben, tritt immer eher in den Hintergrund.
Und als die Kommission ihre Interviews hier in Valdivia durchführte, haben Sie mit ihr zusammengearbeitet?
Natürlich. Ich reiste durch den ganzen Forst-Komplex, durch ganz Süd-Chile, ich kannte ja die Gegend, also durchquerten wir sie mit der CODEPU,38 mit Roberto Arroyo.39 Ich arbeitete in der Rettig-Kommission mit, ich arbeitete in der Valech-Kommission40 mit, ich arbeitete mit den Exonerados41 zusammen.
Können Sie uns erläutern, wie diese Arbeit vonstattenging?
Wir versuchten, einen guten Job zu machen, also sind wir ins Inland gefahren. Ich habe der CODEPU gesagt, dass ich mit ihnen zusammenarbeite, solange wir Feldforschung betreiben und die Zeugenaussagen nicht über Dritte erfolgen. Wir mussten direkt mit den Menschen sprechen und ihre Bedürfnisse kennenlernen.
Und so profitierten Sie von der Datensammlung, die Sie gemacht hatten...
Genau. Es war mir daher sehr wichtig, dass niemand außen vor bliebe.
Galt das sowohl für die Rettig- als auch für die Valech-Kommission?
Nein, ich spreche nur über Rettig. In der Rettig-Kommission arbeiten wir direkt mit den Geschädigten zusammen. Später wurde dann ein Buch über die Fälle von Hinrichtungen in der Region mit all den Informationen, die wir gesammelt hatten. Für mich war es eine ganz eigene Erfahrung, meine Leute wieder zu treffen. Es war auch schmerzhaft, weil ich zum Zeitpunkt meiner Abreise eine Vision für den Forst-Komplex gehabt hatte, und als ich zurückkam, war es nicht mehr das, was ich zurückgelassen hatte.
Wir forderten, dass auch die Gefangenen der Pinochet-Diktatur Entschädigungen erhalten sollten.
Und das war das erste Mal, dass Sie zurückkamen?
Natürlich, ich ging 1973 und kam 1991 zurück.
Haben Sie mit den Menschen im Forst-Komplex auch Diskussionen darüber geführt, wie die Kommission arbeitete; dass sie sich ausschließlich mit schwersten Formen von Gewalt beschäftigte, aber Folter nicht abdeckte?
Die Arbeit mit unseren Compañeros war teils sehr intensiv, weil sie in gewisser Weise daran gewöhnt waren, massakriert zu werden und man großzügig über ihre politische Gefangenschaft hinwegsah. Und wie der Valech-Bericht sagt, beschlossen wir damals, Gesetzesänderungen anzuregen. Wir forderten unter Berufung auf viele unserer Compañeros, die in der Villa Grimaldi42 inhaftiert waren, dass alle politischen Gefangenen berücksichtigt werden sollten. Wir wollten ein Gesamtpaket schnüren. Hier kam es zu Enttäuschungen.
Unser Vorschlag war, dass die politischen Gefangenen die gleichen Leistungen bekommen sollten, die gleiche Rente, die gleichen Leistungen wie die Hinterbliebenen der Ermordeten. Wir trafen uns damals im ehemaligen Nationalkongress in Santiago, sprachen mit dem Abgeordneten Rossi,43 mit Tucapel.44 Sie dankten uns für alles, was wir taten, aber sie sagten uns, wir sollten sie in Ruhe lassen, weil sie den Vorschlag ihrer Parteien verteidigen müssten.
Aber die größte Wut, politisch, hatte ich, als wir uns mit Betroffenen im Hauptsitz der Agrupación trafen, um uns dort auf eine Linie zu einigen. Damals meinten diese Genossen, sie würden mit den Parteien an ihrem eigenen Vorschlag arbeiten. Ein paar Monate später verkündete Lagos dem Land die Wiedergutmachung, Gesetz Nr. 19.000 irgendwas.45 Er kündigt auch eine symbolische Wiedergutmachung an.
Was hatte ich für eine Wut! Warum tut das so weh? Mein Vater war im Gefängnis, mein Compañero, mein Onkel Raúl Sepúlveda – er war Verwalter in der Zentrale des Komplexes gewesen – saß fünf Jahre ein, ein bei der MIR sehr aktiver Cousin war sechs Jahre interniert. Nicht nur ich, alle, die sich engagierten, hatten noch mehr Familienmitglieder; sie haben meinen Mann ermordet! Sie haben meinen Vater verhaftet, meinen Onkel, meinen Cousin, alle Nachkommen haben unter den Folgen dieser politischen Gefangennahmen gelitten, und ich spreche nicht davon, dass sie für einen Tag oder eine Weile im Gefängnis waren, sie waren jahrelang im Gefängnis in Valdivia. Es war schwer genug, die Reparationen zu erhalten.
Und im Vergleich zu den politischen Gefangenen?
Wir erhalten doppelt so viel. Eine Witwe bekommt heute über 500.000 Pesos monatlich.46
Und die Ex-Häftlinge bekommen das Minimum.
Hunderttausend und ein paar Zerquetschte. Ist Ihnen das klar?
Hatten Sie auch gehofft, dass es zu Prozessen gegen die Täter kommen würde? Haben Sie daran gearbeitet?
Wir mussten vor allem daran arbeiten, das Gesetz zu ändern. Ich spreche von einem Vorschlag mit 19 Punkten, in dem die wichtigsten Änderungen konkretisiert wurden: die Forderung, ein Menschenrechtsprogramm von Fachleuten zu erarbeiten, Anwälte ausschließlich für unsere Fälle zu haben, Richter ausschließlich für unsere Fälle zu haben. Der Minister, der alle Fälle übernahm, war Juan Guzmán Tapia.47
Sie hatten gesagt, dass Ihr Mann und die anderen von der MIR in den achtziger Jahren als Kommunisten angesehen wurden. Hat sich das in den neunziger Jahren geändert? Sprach man anders von den Opfern?
Nein, das hat sich nicht geändert. Wir selbst wollten das auch nicht aktiv ändern. Die meisten der Compañeros, die hier in der Region getötet wurden, waren vom MIR. Es gibt nur einen von der Kommunistischen Partei. Aber wegen dieses Opfers konnten wir darum bitten, ein Denkmal in Neltume zu errichten.
Mussten Sie über die politische Militanz der Opfer schweigen?
Vorher, ja, aber nachher nicht mehr. Als der Rettig-Bericht bekannt wurde, musste ich mich nicht mehr verbiegen. Warum sollten wir uns ändern? Ich bin mir sicher, dass unsere Compañeros in der Überzeugung gestorben sind, dass sie es gut gemacht haben, dass sie für soziale Gerechtigkeit gekämpft haben. Davon bin ich überzeugt.
Ich fühle hier aber auch mit diesen Tausenden von Arbeitern, die gestorben sind, ohne irgendeine politische oder Parteizugehörigkeit gehabt zu haben, die eher gläubig waren, und die einfach getötet wurden, weil sie einem Compañero nahestanden. Ich meine die Leute von Chihuio, dort weiß ich, wer in der Sozialistischen Partei war und den Miristen nahestanden: Ricardo Ruiz, José Barriga und Narciso García. Die anderen wussten nicht einmal, worum es sich da handelte.
Sie haben Wiedergutmachung, Gerechtigkeit und Wahrheit erwähnt, aber was ist mit Versöhnung? Das war doch auch ein zentraler Begriff in den neunziger Jahren.
Es kann keine Versöhnung geben, wenn es keine Gerechtigkeit gibt.
Können Sie als Agrupación etwas mit dem Begriff Versöhnung anfangen?
Nein, wir können uns nicht versöhnen. Wir haben viele Verschwundene, deren Schicksal wir noch immer nicht kennen und nie kennen werden. Ich habe in Neltume gelebt, wo der Panguipulli-Komplex entstanden ist, wo es mehr als fünftausend Arbeiter gab. Wo sind diese Leute nach dem Staatsstreich hin? Alles war tot. Während all dieser Jahre habe ich nach Informationen gesucht, und mir läuft es eiskalt den Rücken runter, wenn ich am See von Neltume mit den Mapuche spreche. Der See, an dem während der Diktatur Lastwagen mit Menschen ankamen.
Tote?
(Schweigen)
Sie sagen, dass sie eingesperrt waren und niemand wusste, was passiert ist, weil sie den Raum lange Zeit nicht unter Beobachtung hatten.
Aber das ist nie untersucht worden.
Nein, niemals. Über Neltume sind nur die Fälle bekannt, bei denen zurückgekehrte Compañeros getötet wurden. Aber es gab darüber hinaus kaltblütige Morde. Es ging darum, die Arbeiter einzusperren, zu foltern und ihnen dann den Todesstoß zu versetzen. Denn wo sind sie alle geblieben? In dem Bereich des Forst-Komplexes, in dem ich gearbeitet habe, gab es mehr als 100 Leute, viele von außerhalb, ganz einfache Menschen, die nicht mal genau wussten, woher sie kamen, die sich nur kurz kennenlernen konnten und dann kam der Staatsstreich und danach wusste man nichts mehr von ihnen.
Die Mehrheit floh, oder glauben Sie, es gab Tötungen, von denen man nie etwas erfuhr?
Es gab hier viele Leute, die in den Bergen blieben, in den Felsklippen. Dafür gibt es viele Zeugen.
Haben Sie als Gruppe auch mit den Mapuche-Organisationen zusammengearbeitet?
Nein, Yolanda Ávila und José Liendo arbeiteten mit den Mapuche zusammen. Es gab ein gutes Verhältnis, aber die Leute, die sich darum kümmerten, waren andere.
Was geschah, als Sie die Leitung der Agrupación übernahmen?
Ich begann 1991 als Schatzmeisterin, dann wurde ich Schriftführerin, und schließlich wurde ich zur Präsidentin gewählt.
Was ist das wichtigste Projekt, das Sie in all der Zeit durchgeführt haben?
Ich denke, alle Projekte, alle Vorschläge, die gemacht wurden, sind wichtig gewesen. Am Rettig-Bericht mitgearbeitet zu haben, die Erinnerungsorte geschaffen zu haben ...
Können Sie uns ein wenig über das Haus der Erinnerung48 erzählen?
Ja, die Casa de la Memoria de los Derechos Humanos ist ein sehr wichtiges Projekt. Es sollte kein gewöhnliches Erinnerungszentrum werden, sondern das Zentrum der Angehörigen. Deshalb haben wir nach einem Raum gesucht, aber ich hätte nie gedacht, an diesen Ort zu gelangen. Wir haben ihn nicht gesucht, wir haben 2002 ein Haus für dieses Projekt gesucht und das auch so ans Justizministerium weitergegeben. Die Mission, die Vision, das Projekt – es kam an und als die Armee begann, ihre Liegenschaften zu regeln, wollte sie diese Immobilie, die dem Schatzamt gehört, verkaufen. Dann rief der damalige Staatssekretär, Don Enzo Muñoz, mich an und sagte: „Sie könnten dieses Grundstück übernehmen, denn es steht zum Verkauf.“ Also sprach ich mit den Mitgliedern der Agrupación, stellte den formellen Antrag und begann, die Formalitäten zu erledigen.
Es handelte sich um das ehemalige Hauptquartier des CNI.49
Nun, es hat über ein Jahr gedauert, bis wir die Antwort bekommen haben, ich habe trotzdem noch weiter Papierkram erledigt und überlegt, wie ich meine Leute davon überzeugen könnte, dass dies ein wichtiger Ort sei und wir diesem Raum Leben einhauchen könnten.
Dann kam das andere, die Drohungen der Armee. Telefonanrufe. Sogar der Unterstaatssekretär für Verteidigung legte mir nahe, das Projekt, diese Immobilie, nicht weiter zu verfolgen, man würde uns schon ein anderes Grundstück geben. Ja, Drohungen aller Art. Ich antwortete mit Nein, machte die Bewerbung erneut fertig, fotokopierte den Brief und legte ihn bei.
Gibt es ein Dokument, in dem man Ihnen sagt, dass Sie sich für eine andere Immobilie entscheiden sollen?
Ja, ich habe den Antrag gestellt und die Kopie des Briefes beigefügt, und die Antwort kam postwendend zurück. Man hat mich dann angerufen und gesagt, dass ich hier im Haus einen Unfall haben könnte. Es war ein sehr schweres Jahr.
Also machte das Militär mit seinen Methoden weiter.
Ja, ich wusste, dass das alles ziemlich schwer werden würde, weil... Ja, sie sind sauer auf alles, was wir getan haben. Wir wurden am Telefon bedroht, die Leitungen der Führungspersönlichkeiten angezapft. Als wir uns treffen wollten, ist uns viel passiert: Sie haben unser Treffen in Talca abgehört und das Haus unseres Freundes durchsucht, in dem wir alle unsere Sachen hatten. Es war schrecklich. Und angesichts der Drohungen, schon wütend, entgegnete ich demjenigen am anderen Ende der Leitung, dass ich keine Angst vor einem Unfall hätte, weil ich sicher wäre, dass in dem Fall viele andere weitermachen würden.
Hatten Sie damals Angst?
Aus Angst zieht man Kraft, schöpft mehr Mut, denn: Was hatte man noch zu verlieren?
Glauben Sie, dass Ihre Arbeit weitergeführt werden wird?
Ich denke schon. Hier im Vorstand haben wir eine Enkelin eines verschwundenen Häftlings aus Chihuio, es gibt auch Schwestern von jungen politischen Gefangenen, die hingerichtet wurden. Die Dame, die das Sekretariat leitet, ist die Tochter eines vermissten Häftlings. Bei den Aktivitäten, zu denen wir gehen, gibt es auch viele Enkelkinder, die ihre Stimme erhoben haben. Mich beruhigt der Gedanke, dass sich unsere Arbeit in ein Vermächtnis gewandelt hat, für mich der wichtigste Grund, am Erinnerungsort zu arbeiten, denn so gibt es eine Referenz, etwas, das die Leute sagen lässt: „Das wurde schon gemacht.“
Es ist Ihnen dieser Tage50 sicher passiert, sich an viele alte Dinge zu erinnern und auch zu glauben, die Gesellschaft zu verändern.
Ich denke schon. Ich bin zuversichtlich, dass wir das tun, denn jetzt ist es eine andere Generation, es sind die jungen Leute. Ich glaube auch an die Sprüche der Alten. Ich war immer angetan von dem, was mein Großvater sagte, wenn wir über das Zeitgeschehen sprachen. Er sagte: „Wasser und Mensch, alle 50 Jahre, oder früher, gehen zurück in ihre eigene Furche, sie gehen zurück zu ihrem Ursprungsort. Man kann viele Flüsse umbetten, aber die gewaltigen Katastrophen, die durch die Gewässer verursacht werden, werden kommen, weil der Mensch Gewässer umleitet. Jede Art kehrt nach 50 Jahren in ihre Furche zurück. Mit den Menschen ist es das Gleiche: Alle 50 Jahre muss es eine soziale Bewegung geben, um alles für diejenigen zu reparieren, die am Leben bleiben.“ Das ist mir immer präsent geblieben. Ich denke, das waren sehr weise Worte von meinem Großvater, der mich immer vor vielen Dingen gewarnt hat.
Gleichzeitig gab es in den letzten Monaten auch vermehrt Menschenrechtsverletzungen in Chile. Wie sehen Sie das?
Ich denke, dass wir nichts gelernt haben. Ich bin darüber verärgert, und das habe ich gestern auf der Demonstration auch gesagt und kundgetan. Was haben wir versäumt, wenn wir in diesen mehr als 45 Jahren nicht innegehalten haben und unseren Diskurs über Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung und die Achtung des Rechts auf Leben, die Achtung der Menschlichkeit nicht verändert haben? Wir haben verschiedene Projekte durchgeführt, alle mit dem Ziel, unser Leben und das Leben junger Menschen zu verteidigen. Wir wollten das nicht mehr, und es kommt doch zurück. An diesem Punkt sagt man sich: „Wir sind die ganze Zeit verletzlich, wo versagen wir“. Und: „Sind nur wir es, die den Diskurs führen?“ Das ist die andere Frage, die ich mir stelle. Ich habe meinen Compañeras in den anderen Gruppen gesagt, dass wir wieder auf die Straße gehen müssen, bevor es 50 Jahre her ist. Wir müssen wieder mit der Angst und dem Schmerz leben, einen geliebten Menschen zu verlieren oder all die Grausamkeiten zu sehen, die passieren. Wir werden auch in der Stille allein gelassen, weil man heute sagt, es gibt doch mehr Kommunikation, weil es Facebook gibt, es gibt Messenger und all diese Netzwerke, mit denen man heute arbeiten kann; aber die Medien, die ältere Menschen nutzen, spiegeln nicht die Realität wider.
Lebensgeschichtliches Interview mit Ida Sepúlveda, 11.11.2019, in: Quellen zur Geschichte der Menschenrechte, herausgegeben vom Arbeitskreis Quellen zur Geschichte der Menschenrechte, URL: www.geschichte-menschenrechte.de/ida-sepulveda/