Die Kritik an den Menschenrechtsverletzungen der rechten Militärdiktaturen in Lateinamerika war eines der Themen, die wesentlich zur Formierung einer internationalen Menschenrechtsbewegung beitrugen. Rainer Huhle (*1946) gehört zu jenen Aktivisten, die über dieses Thema zu den Menschenrechten kamen. Anfang der siebziger Jahre beteiligte er sich an der Chile-Solidaritätsbewegung zugunsten der Opfer des Pinochet-Regimes, während der achtziger Jahre war er in Peru in der Menschenrechtsarbeit tätig, wo damals ein Militärregime an der Macht war. Anschließend trug Huhle sein Menschenrechtsengagement nach Deutschland und beteiligte sich daran, Nürnberg international sichtbar zu einem Zentrum der Menschenrechtsarbeit zu machen. Daneben ist er in verschiedenen UN-Gremien tätig.
PDF herunterladen:
Das Interview fand am späten Nachmittag des 15. Dezembers 2014 in den Räumen des Deutschen Instituts für Menschenrechte in Berlin statt und dauerte zwei Stunden. Dr. Daniel Stahl, Wissenschaftlicher Sekretär des Arbeitskreises Menschenrechte im 20. Jahrhundert, stellte die Fragen. Zuvor hatte Dr. Rainer Huhle an einer ganztägigen Kuratoriumssitzung des Instituts teilgenommen.
Daniel Stahl
Können Sie etwas über Ihre Wahrnehmung der Gesellschaft berichten, in der Sie aufgewachsen sind?
Rainer Huhle
Ich bin Jahrgang 1946 und habe meine ganze Schulzeit in Nürnberg verbracht. Ich bin ganz normal von der damaligen Volksschule auf das humanistische Gymnasium gegangen und machte 1965 Abitur. Es war eigentlich keine besonders bemerkenswerte Schulzeit. Ich war noch zu jung für die Studentenbewegung, die ja auch in die Schulen schwappte. Das Einzige, was mir im Zusammenhang mit dem Menschenrechtsengagement einfiele, sind neben den übrigen konservativen Lehrern auch ein, zwei linksliberal eingestellte Lehrer. Ihnen verdanke ich es, dass ich an der Schule schon beispielsweise mit dem Theater von Brecht, dem Werk von Camus und auch mit Dokumentarfilmen über die Nazi-Zeit Bekanntschaft machte. Aber ansonsten war es eine ganz normale Schulzeit.
Stahl
Welche Fächer unterrichteten diese Lehrer?
Huhle
Einer lehrte Deutsch, Englisch und Sozialkunde, der andere Theater. Ganz anders schaute es bei den Altphilologen und Naturwissenschaftlern aus. Das waren richtige Generationsunterschiede an der Schule. Die jungen waren etwas progressiver eingestellt. An anderen Schulen gab es auch ältere Lehrer, die den ganzen Krieg als eigene Erfahrung mitgemacht hatten und die ebenfalls liberal oder pazifistisch eingestellt waren. An solche erinnere ich mich an meiner Schule nicht.
Stahl
Wie waren Ihre Mitschüler eingestellt?
Huhle
Meine Klasse war im Großen und Ganzen eher liberal. Zwei Jahrgänge über uns gab es einige, die später eine Rolle in der Studentenbewegung gespielt haben. Die hat man bei bestimmten Veranstaltungen mal wahrgenommen. Eigentlich habe ich sie erst später kennengelernt.
Stahl
Wann begannen Sie sich für politische Themen zu interessieren?
Huhle
Das kann ich nicht wirklich gut datieren. Ich war kein Frühentwickler. Für die Studienzeit kann ich es sehr viel genauer sagen.
Stahl
Was haben Sie studiert?
Huhle
Weil ich auf einem humanistischen Gymnasium war, wollte ich etwas anderes machen und studierte deshalb Englisch und Französisch. Ich hatte das Gefühl, mir fehle etwas. Ich studierte mit Blick auf das Lehramt. Aber damals machte man sich im Gegensatz zu heute kaum Gedanken um die berufliche Verwirklichung eines Studiums. Die Frage des Berufs hatte ich zu Beginn des Studiums kaum im Kopf. Ich studierte vier Semester auf Lehramt. Dann erhielt ich ein Auslandsstipendium für die USA. Dort studierte ich ein Jahr lang hauptsächlich Amerikanistik aber auch ein bisschen Geschichte und Politik. Nach meiner Rückkehr sattelte ich auf Soziologie und Politik um. Englisch behielt ich bei und legte auch irgendwann mein erstes Staatsexamen ab.
Stahl
Zu dieser Zeit fanden die Studentenproteste statt.
Huhle
Genau. Ich war von Herbst 1967 bis Herbst 1968 in den USA und machte deshalb das 1968er Jahr nicht hier, sondern in den USA mit. Das war wahrscheinlich schon sehr prägend, weil ich in den USA den sogenannten Radicals[1] nahekam, die Anti-Vietnam Demonstrationen mitmachte und auch die Demonstrationen, als Martin Luther King gestorben war.[2] Das war schon ein ganz anderer Sozialisationsprozess. Natürlich hatte das bereits vorher in Deutschland begonnen, aber ich war ja in Erlangen. Bis die Frankfurter und Berliner Bewegungen nach Erlangen kamen, dauerte es immer mindestens ein Semester. 1967 war ich im Sommersemester in Wien. Dort gab es auch schon eine Studentenbewegung und es kamen auch die Größen der deutschen Studentenbewegung zu Veranstaltungen und Vorträgen. Das ließ mich nicht unberührt, es interessierte mich, aber ich war nicht besonders aktiv.
Ich war in der Studentenbewegung immer auf dem anti-autoritären Flügel und nicht auf dem dogmatischen.
Stahl
Wo würden Sie den Anfangspunkt Ihres Engagements sehen? Welches waren die ersten Aktionen, an denen Sie beteiligt waren?
Huhle
Das war in den USA. Dort gab es an den Universitäten eine Protestbewegung gegen die Rekrutierung von Freiwilligen für den Vietnamkrieg. Die US-Armee baute regelmäßig auf dem Campus ihre Stände auf, rekrutierte Freiwillige oder machte Werbung. Ein paar von uns veranstalteten Sit-ins. Ich war auch dabei. Das brachte mir ein paar Scherereien mit meinem Stipendiaten-Status ein. Diese amerikanische Studentenbewegung war in mancher Hinsicht sehr anders als die deutsche. Sie war nicht so ideologisiert und viel libertärer ausgerichtet als die stark marxistisch-sozialistisch orientierte Studentenbewegung in Frankfurt oder Berlin. So etwas gab es in den USA in dieser Form nicht. Das war mir sehr sympathisch und ist es auch immer geblieben. Ich war in der Studentenbewegung immer auf dem anti-autoritären Flügel und nicht auf dem dogmatischen.
Stahl
Inwiefern gab es Ärger mit dem Stipendium?
Huhle
Es ist mir nichts passiert. Ich wurde zum Dekan zitiert und man sagte mir, dass man so etwas als Gaststudent nicht mache. Es war keine Drohung, aber eine klare Ansage. Außerhalb der Universität gab es noch einiges: Wir sind mal nach Washington gefahren und demonstrierten mit circa 200.000 Leuten vor dem Pentagon. Es ging um den Vietnamkrieg. Solche Sachen konnte man schon machen.
Stahl
Wer hat Sie auf politische Veranstaltungen mitgenommen?
Huhle
Wir hatten einen Arbeitskreis. Es waren relativ wenige. Es waren auch noch ein paar andere Ausländer dabei, auch aus Lateinamerika. Wir trafen uns und fuhren gemeinsam auf Veranstaltungen. Das Rekrutierungsthema ist mir einfach noch in Erinnerung, wahrscheinlich, weil es diese Konsequenz hatte. Ansonsten war ich nach meiner Wahrnehmung an einem extrem konservativen College – jedenfalls was die Studenten betraf. Beim Lehrkörper war es durchaus gemischt.
Stahl
Haben Sie gezielt den Kontakt zu diesen Gruppen gesucht?
Huhle
Das kann ich nicht sagen. Es hat sich einfach so ergeben. Ich erinnere mich noch an einen Studenten, der aus einer gut bürgerlichen, liberal-radikalen, jüdischen New Yorker Familie kam. Er hat mich ein paarmal nach Hause mitgenommen und seiner Familie vorgestellt. Dieses Milieu des liberalen amerikanischen Judentums fand ich interessant.
Stahl
Nach dem Auslandsaufenthalt gingen Sie zurück nach Deutschland?
Huhle
Nein, ich ging nicht gleich zurück. Ich besserte mein Spanisch auf. Es gab einen hervorragenden Spanischlehrer an dem College. Anschließend fuhr ich alleine für zwei Monate durch Mexiko und Zentralamerika. Das war Ende 1968 mein erster Kontakt mit Lateinamerika. Ich kam wenige Wochen nach dem bekannten Massaker von Tlatelolco 1968 und auch wenige Wochen nach der Olympiade nach Mexiko.[3] Das war auf den Straßen noch zu spüren. Gerade die jungen Leute waren total aufgeregt. Ich wurde ständig angesprochen. Aber ansonsten war das für mich eine Kultur- und Erfahrungsreise. Ich schaute mir vor allem die Altertümer von Mexiko bis runter nach Guatemala an. Guatemala war damals auch eine schlimme Diktatur. Überall gab es Graffitis von rechten Terrorbanden. Man merkte einfach, wie schlimm es dort zuging. In Mexiko war die große Aufgeregtheit nur vorübergehend. Aber es war natürlich auch dort eine eher repressive Phase, wenn auch nicht vergleichbar mit dem, was damals in Guatemala geschah.
Stahl
Warum wechselten Sie nach Ihrer Rückkehr in die Soziologie und Politikwissenschaft?
Huhle
Die Philologie schien mir einfach nicht wichtig genug. Ich wollte sozusagen zum Kern der Gesellschaft vorstoßen. Als junger Student stellte man es sich so vor, dass einem die politische Wissenschaft oder die Soziologie tatsächlich die Geheimnisse der Gesellschaft entschlüsseln könnten. Von dieser Illusion bin ich inzwischen geheilt. Es war der Entschluss, etwas viel Politischeres zu studieren als Sprachen. Für Englisch machte ich nur noch das Notwendigste, um mein Examen ablegen zu können. Ich verbrachte fast die ganze Zeit mit Sozialwissenschaften, wobei wir in der Studentenbewegungszeit kaum Vorlesungen und Seminare besuchten und nur das Allernötigste machten, um die Scheine zu kriegen. Ansonsten organisierten wir viel selber und machten eigene Seminare. Die Studentenbewegung war ja auch ein Experiment in Sachen Selbstbildung. Die ganzen Kapital- und Geschichtskurse, die Alternativen und so – das war in gewisser Weise eindrucksvoll. Entsprechend lange dauerte meistens das Studium, auch bei mir. 1972 machte ich mein Staatsexamen.
Stahl
Wie sah Ihr Engagement während dieser Zeit aus?
Huhle
Ich gab Kurse und war mehrere Jahre im AStA, eigentlich während meiner ganzen Erlanger Zeit. Das war damals ein wichtiges Organ der Studentenbewegung. Ich hatte verschiedene Funktionen inne im Studentenparlament und in den sogenannten Basisgruppen der einzelnen Fachrichtungen. Wir boten viele sogenannte Schulungen und Kurse auf freiwilliger Basis an. Und wir demonstrierten und veranstalteten Teach-ins – also das ganze Programm, nur eben auf provinzieller Ebene.
Stahl
Mit welchen Themen befassten Sie sich?
Huhle
Der Vietnamkrieg war sehr zentral für uns alle. Später, als ich nach meinem Examen als wissenschaftliche Hilfskraft an der Universität lehrte, kam der Chile-Putsch.[4] Damit habe ich mich sehr intensiv beschäftigt. Ich gab beispielsweise ein Proseminar nur über Chile. Ich war ziemlich schnell in der Chile-Solidaritätsbewegung[5] involviert. Außerdem gab es damals noch die Franco-Diktatur.[6] Ich machte auch mit spanischen Gastarbeitern etwas politische Arbeit. Das gab später den Anstoß für meine Dissertation über den spanischen Bürgerkrieg.
Wir mussten auf die Kampagne der Bundesregierung reagieren, die die Asylsuchenden aus Chile zunächst verunglimpfte.
Stahl
Hatten Sie sich bereits vor dem Putsch mit Chile und Allendes Regierung beschäftigt?
Huhle
Natürlich hat uns die Volksfront, die Allende-Regierung gewaltig interessiert.[7] Die war, genau wie Kuba, Bezugspunkte für die linke Studentenbewegung. Kuba war für mich allerdings nie von so großem Interesse. Das ist auch eines der wenigen lateinamerikanischen Länder, in denen ich noch nie gewesen bin. Nicht, dass ich etwas gegen die Revolution gehabt hätte, aber ich war weniger fasziniert als viele andere von Kuba. Aber die drei Regierungsjahre von Allende – da haben wir schon mitgefiebert. Die Solidaritätsbewegung gab es auch vorher, aber nach dem Putsch war es eine ganz andere Dynamik. Dazu kamen sehr schnell die ersten Asylsuchenden nach Deutschland. Wir mussten auf die Kampagne der Bundesregierung reagieren, die diese Leute zunächst verunglimpfte. Wir setzten es durch, dass eine bestimmte Zahl in Deutschland Asyl erhielt. Mit denen haben wir viele Veranstaltungen gemacht.
Stahl
Spielten für Sie damals die Ereignisse in Osteuropa eine Rolle?
Huhle
Ja. Ich habe ja vorhin schon gesagt, dass ich nie die geringste Sympathie für den osteuropäischen Kommunismus hatte. Ich verstehe auch nicht, wie jemand, der von Westdeutschland nach Berlin gefahren ist und diese Schikanen über sich ergehen lassen musste, Sympathie haben konnte für diesen militaristischen, dumpfen Geist, der einem da entgegenwallte. Ich war 1968 in den USA als Alexander Dubček abgesetzt wurde.[8] Das war dort ein Riesenthema. Ich verfolgte auch sehr genau, was in Deutschland geschah, zum Beispiel Dutschkes Stellungnahme zur Tschechoslowakei, die ja sehr deutlich war.[9] Ich beobachtete jede Bewegung in Osteuropa, auch die polnischen Intellektuellen, die schon lange vor Solidarnosc publizierten. Natürlich dachten wir, es muss ein besserer Sozialismus werden und ein freiheitlicher Sozialismus. Aber für mich waren die oppositionellen Bewegungen der richtige Weg. Ich sah sie jedenfalls immer mit Sympathie. Es war aber kein Arbeitsbezugspunkt. Ich habe nie zu Osteuropa gearbeitet. Ich informierte mich, setzte dort aber keine Schwerpunkte.
Stahl
Wie setzte sich die Chile-Solidaritätsbewegung in Erlangen zusammen?
Huhle
Die Bewegung beschränkte sich nicht nur auf Erlangen. Es handelte sich um ein überregionales Netzwerk. Es gab ausgehend von Amnesty International einen Schwerpunkt in Frankfurt. Da war ich sehr schnell mit dabei. Das ist auch heute noch ein wichtiger Kontakt. Die ganze Kampagne, zum Beispiel zur Colonia Dignidad,[10] hatte einen ihrer Stützpunkte in Dieter Maier in Frankfurt, der schon 1973 die ersten Kampagnen zu Chile machte und den ich seit dieser Zeit kenne. In Erlangen machten wir Veranstaltungen und luden Leute ein. Es gab dieses Pro-Seminar zu Chile an der Universität, wo sich einiges herauskristallisierte, aber jetzt etwas Großes … Also es gab wichtigere Sachen anderswo. Erlangen hat eigentlich im Rahmen der Studentenbewegung nur einen überregional wesentlichen Beitrag geleistet: Das ist die sogenannte marxistische Gruppe, ein ultradogmatisches Gebilde, das es bis heute noch gibt. Die ist in Erlangen entstanden und an der haben wir uns aufgerieben.
Stahl
Aus welchen gesellschaftlichen Gruppen kamen die Unterstützer für die Chile-Solidarität?
Huhle
Das war relativ breit. Da waren zum einen die Studierenden vor allem aus den sozialwissenschaftlichen Fächern. Ich kann mich nicht erinnern, dass von den Romanisten jemand zu uns gestoßen wäre. Aber es gab durchaus auch kirchliche und gewerkschaftliche Gruppen. Die Gewerkschaften haben sich damals sehr stark eingesetzt. Die GEW war auch dabei.
Stahl
Was war Ihre Aufgabe oder Funktion?
Huhle
Nichts Ungewöhnliches. Zum einen recherchierte ich ein bisschen, bereitete Texte vor und organisierte Veranstaltungen mit.
Stahl
Welchen Stellenwert maßen Sie Ihrem Chile-Engagement bei?
Huhle
Es war ein Engagement unter vielen. Die anderen Dinge liefen ja trotzdem weiter. Gerade auch in Erlangen war für uns die Hochschulpolitik sehr zentral. Das war im AStA meine Aufgabe. Wie soll man es nennen … also der Versuch, einfach die Lehrpläne, die Lehrinhalte und so zu kritisieren, umzukrempeln und auch die ganze … damals ging ja die Ökonomisierung der Hochschulen los. Ende der sechziger oder besser gesagt in den siebziger Jahren, als diese Hochschulreform-Modelle das erste Mal vorgestellt wurden, wurde Humboldt vom Sockel gestürzt. Diese Modelle hat man bekämpft. Dadurch konnten die Reformen vielleicht ein paar Jahre aufgehalten werden, aber dann kamen sie mit einer umso größeren Wucht. Solche Dinge standen mindestens so sehr im Mittelpunkt wie die Chile-Solidarität.
Stahl
Und die Situation in der Bundesrepublik? Es gab ja damals die Proteste gegen Berufsverbote.[11]
Huhle
Das war ein bisschen später. Die Berufsverbote haben mich ja selber getroffen. Ich war seit Herbst 1973 zwei Jahre lang am Lehrstuhl tätig, zuerst als wissenschaftliche Hilfskraft, dann als Verwalter einer wissenschaftlichen Assistentenstelle, ich war ja noch nicht promoviert. Ich sollte auf dieser Assistentenstelle promovieren und anschließend da weitermachen. Dann kam aber der Einspruch der bayerischen Staatsregierung, dass ich nicht tragbar sei, nicht »auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehe«, wie es so schön hieß. Es gab sogar eine Abkürzung dafür: FDGO. Zwei Jahre lang ging es hin und her, aber im Frühjahr 1975 musste ich endgültig ausscheiden. Das war natürlich ein sehr prägender Prozess, zumal er sich so lange hinzog. Das hat vermutlich etwas damit zu tun, dass ich von dem politischen Engagement ausgehend die Menschenrechte entdeckte. Dieses ganze Verfahren strotzte einfach so vor Unrecht, jedenfalls für mein subjektives Empfinden.
Ich fand letztlich ganz andere Allianzen vor. Zum Beispiel die vorbehaltlose Unterstützung durch meine beiden Professoren in Soziologie und Politikwissenschaft: Ich wurde am Institut für politische Wissenschaft ja noch eingestellt, als das Institut quasi mit lauter linken Dozenten bestückt war. Dann gab es einen Wechsel, weil der Lehrstuhlinhaber wegging und ein neuer kam, Gotthard Jasper.[12] Der hatte mit der ganzen linken Studentenbewegung nichts zu tun. Er führte mit uns allen ein Gespräch und entschied dann, wen er übernehmen und wen er nicht mehr übernehmen wollte. Er brachte auch ein paar eigene Leute mit. Mich hat er übernommen. Dann kam das Berufsverbot, also das Schreiben des Ministeriums. Es gab einige Anhörungen. Ich machte meine schriftlichen Stellungnahmen und wurde zur mündlichen Erklärung zum Rektor bestellt. Professor Jasper hat sich vehement für mich eingesetzt, obwohl er nicht mit meinen politischen Ansichten übereinstimmte. Ich merkte: Hoppla, da gibt es auch noch etwas anderes, so etwas wie Fairness und Beachtung von Regeln. Der bürgerliche Staat ist auch etwas Wertvolles. Ich musste zwei Prozesse führen, die ich beide verlor. Da habe ich mich zu meiner Schande als bereits examinierter Politologe zum ersten Mal intensiver mit so etwas wie Rechtsstaatstheorie beschäftigt.
Vor allem war die menschliche Erfahrung interessant: Wer plötzlich nichts mehr mit einem zu tun haben wollte und wer einem die Stange gehalten hat. Ich war ja arbeitslos, meldete mich beim Arbeitsamt und erhielt dort auch große Unterstützung. Die zuständige Sachbearbeiterin fand das alles empörend. Dann wollten sie am Institut ein wissenschaftliches Projekt zu europäischen regionalistischen Bewegungen beantragen. Sie schlugen vor, dass ich den Antrag im Rahmen einer ABM[13]schreiben könne. Das Arbeitsamt war einverstanden, aber nicht das Ministerium, beziehungsweise die Universitätsspitze. Sie sagten, das sei ja eine Rückkehr an die Universität durch die Hintertür. Professor Jasper ist daraufhin zum Arbeitsamt gegangen und hat angeboten, mir einen Privatdienstvertrag auszustellen. Das Arbeitsamt solle halt ihm das Geld geben und nicht der Universität. Das haben die gemacht. Ich machte ein Jahr lang ABM in Privatdiensten meines früheren Chefs. Das habe ich ihm nie vergessen. Das ist natürlich nicht bei allen an der Universität gut angekommen, wie man sich vorstellen kann. Und ja, das war schon interessant.
Stahl
Aus welcher Richtung kam der Gegenwind? Von der Universitätsleitung?
Huhle
Nein, an der Uni gab es eigentlich … also auch der Rektor hat eigentlich nach dem ersten Gespräch mit mir gegenüber dem Ministerium meinen Verbleib befürwortet. Als das Ministerium dann aber stur blieb, hat auch er auf stur geschaltet. Er verstand sich nur noch als Vollzugsbeamter des Kultusministeriums. Ich war ja praktisch der Einzige oder einer von ganz wenigen, die von diesem Berufsverbot betroffen waren und nicht aus der DKP-Szene kamen. Ich glaube, neunzig Prozent der Betroffenen waren DKP-Mitglieder oder zumindest Personen, die der DPK sehr nahe standen, wie Stamokap[14] oder MSB.[15] Ich hatte nie eine wirklich führende Rolle. Warum man das Berufsverbot grade bei mir so konsequent durchgezogen hat, kann ich mir bis heute nicht wirklich erklären. Da war eben auch viel Zufall im Spiel. Der Verfassungsschutz hatte etwas über mich gesammelt und legte es nun auf den Tisch. Ich sagte dann auch nicht: »Ach, das tut mir ja leid!«, sondern ich bestand darauf, dass das meine demokratischen Rechte seien. Daraufhin haben die auf stur geschaltet und es durchgezogen. Ich war raus aus der Universität und hatte mehr Zeit für politische Aktivitäten.
»Herr Huhle hat in seiner Einlassung erklärt, er sei bei einem Demonstrationszug einfach mitgelaufen. Mitläufer sind für den bayerischen Staatsdienst ungeeignet.«
Stahl
Wie argumentierten die Behörden? Inwiefern wurde Ihnen Einblick gegeben, auf welcher Grundlage hat man Ihnen eine Einstellung verweigerte?
Huhle
Man hat mir konkrete Sachen vorgehalten. Wenn ich das heute erzähle – ich erzähle das nicht oft – dann können die Leute das kaum glauben. Ich habe an einer Vietnam-Demonstration teilgenommen. Ich habe an einem Teach-in zur Bewegung der Schwarzen in den USA teilgenommen, bei dem ungefähr tausend Leute im Audimax waren. Ich saß wahrscheinlich sogar auf dem Podium, ich weiß es nicht mehr genau. Jedenfalls war es eine völlig legale Aktivität. Ich kandidierte für das Studentenparlament. Ich hatte an einer Demonstration gegen die Herren Kiesinger[16] und Strauß[17] teilgenommen, bei der der Demonstrationszug um einen Straßenzug von der genehmigten Route abgewichen war. Ich hatte die Demonstration aber weder angemeldet noch organisiert. Ich bin halt in dem Zug mitgelaufen. Ich nahm das zunächst auch nicht so tragisch und dachte, das würde sich schon klären. Ich schrieb in meiner Erwiderung: »Ich bin in dem Demonstrationszug mitgelaufen und wusste nicht darüber Bescheid, welche Route bewilligt worden war.« Ja, und dann kam die Antwort des Ministeriums … ich habe das irgendwo im Keller noch liegen. Ich habe es nicht nochmals nachgesehen, aber der eine Satz ist mir dem Sinn nach unvergesslich geblieben: »Herr Huhle hat in seiner Einlassung erklärt, er sei bei einem Demonstrationszug einfach mitgelaufen. Mitläufer sind für den bayerischen Staatsdienst ungeeignet.« Da wusste ich endgültig, woher der Wind wehte.
Man darf nicht vergessen, dass in der bayerischen Staatsregierung damals so illustre Personen wie Herr Seidl[18] saßen, einer der Nürnberger Verteidiger und – wie sich nach seinem Tod rausgestellt hat – Förderer der National-Zeitung des Herrn Frey.[19] Der Grundgesetzkommentator Herr Maunz[20] war Kultusminister gewesen. Er hatte ebenfalls neonazistische Verbindungen zu Frey. Sich von solchen Leuten so zynische Bemerkungen schriftlich geben lassen zu müssen … Da war mir klar: Auf einvernehmlichem Weg wird das nichts mehr mit uns. Da habe ich halt prozessiert. Da ich arbeitsrechtlich gesehen noch keinen rechtlich vollgültigen Vertrag hatte, auch wenn ich bereits zwei Jahre an der Universität gearbeitet hatte, verlor ich den arbeitsrechtlichen Prozess aus formalen Gründen. Und auch die Verfassungsbeschwerde wurde vom Bundesverfassungsgericht gar nicht zugelassen. Danach habe ich netterweise über die Gewerkschaft GEW ein Promotionsstipendium von der Hans-Böckler-Stiftung vermittelt bekommen und promovierte drei Jahre bei meinem ehemaligen Chef über den Spanischen Bürgerkrieg. Meine Promotion musste er dann auch noch durch den Universitätssenat bringen. Nach der ABM über die regionalistischen Bewegungen hatte ich eine zweite ABM beim Bund Naturschutz Bayern über europäische Agrarpolitik. Über Butterberge und Milchseen zu arbeiten fand ich auch sehr interessant, es war mal etwas Neues. Den Rest der sieben Jahre war ich arbeitslos, bis ich – Ende 1982 muss das wohl gewesen sein – bei der Stadt Nürnberg eine Stelle im Jugendbildungsbereich erhielt.
Stahl
Haben Sie an den Protesten gegen die Berufsverbote teilgenommen?
Huhle
Kaum. Ich habe lieber meine eigenen Proteste veranstaltet. Diese Berufsverbotsproteste waren stark von DKP-Leuten geprägt, auch der Diskurs. Ich habe damals wahrscheinlich unbewusst eine richtige Entscheidung getroffen, die mir auch heute noch wichtig ist und mit der ich auch in der Menschenrechtsbewegung viel anfangen kann. Ich war innerlich sehr schnell weg von dem Opfer-Trip. Ich war zwar ein Opfer des Berufsverbots, wollte aber kein Berufs-Opfer werden und mich auch nicht so darstellen. Ich schrieb, ironisierte die Gegenseite, gelegentlich auch auf Veranstaltungen. Ich trat zwar auf Veranstaltungen gemeinsam mit anderen auf, aber ich blies nicht in das gleiche Horn.
Ich erlaubte mir lieber kleine Scherze. Beispielsweise hatte ich einen Brief von der CSU erhalten, vom Erlanger CSU-Vorsitzenden unterschrieben. Es war so ein Werbeschreiben, eine Massensendung, aber an mich persönlich adressiert: Ich solle doch dieser tollen Partei beitreten. Damals konnte man wegen des Berufsverbots ziemlich viel in der Presse über mich lesen. Ich dachte mir: »Du Schelm!« und unterschrieb das einfach. Ein paar Wochen später bekam ich auch tatsächlich meinen Ausweis und die Beitragsrechnung. Ich schmiss sie in meinen Papierkorb. Fünf oder sechs Jahre später setzte ich während des Stadtratswahlkampfs im Erlanger Tagblatt eine Annonce mit einer Sonne in die Zeitung, dass ich als CSU-Mitglied mich diesmal leider veranlasst sehe, zur Wahl der grün-alternativen Liste aufzurufen. Ich glaube, daraufhin wurde ich aus der Kartei genommen.
Jedenfalls sagte ich mir: »Es wird wohl auch ein Leben außerhalb der Universität geben.« Wenn ich heute zurückblicke, bedaure ich es nicht wirklich, dass ich nicht mein Leben an der Universität verbracht habe. Aber diese Einstellung hatte ich ziemlich früh. In dieser Zeit kam ja auch unser erstes Kind. Meine Frau hat das alles unterstützt, auch dass mein Einkommen in der Arbeitslosenzeit relativ gering war.
Stahl
Die Situation, die Sie da gerade beschreiben, klingt für mich eher beklemmend.
Huhle
Heute wäre das viel schlimmer, als es damals war. Wir haben uns eigentlich über den Ernst des Lebens nicht so arg viel Gedanken gemacht. Jeder, der sein Studium beendet hatte, kam unter. Wie schwierig das werden könnte, ist mir erst im Laufe der Jahre klargeworden. Natürlich habe ich mir auch Sorgen gemacht. Ich war weit über dreißig, als ich meine erste richtige Stelle bei der Stadt Nürnberg bekam. Das ist schon klar. Da war ich auch heilfroh, dass es klappte. Dabei spielte übrigens wieder Solidarität eine Rolle: Die Stadt Nürnberg weigerte sich einfach, die Regelanfrage zu stellen. Das Ergebnis wäre ja klar gewesen, da sie mich kannten. Dieses sozialdemokratisch-liberale Milieu von Bildungseinrichtungen …die kannten mich, die wollten mich und dann ging es auch.
Stahl
Was haben Sie während der Zeit gemacht, in der Sie arbeitslos waren?
Huhle
Drei Jahre arbeitete ich an der Promotion. Das war schon relativ aufwendig. Ansonsten setzte ich meine politische Arbeit fort. Es ging durchaus auch weiterhin um Chile. Ich zog auch ein anderes kleines Stipendium an Land, als ich schon promoviert war. Das durfte ich denen gar nicht sagen. Das ASA-Programm ist hauptsächlich für Studenten, aber man kann wohl auch schon fertig sein. Die fördern kleine Forschungsprojekte in Dritte-Welt-Ländern. Man kann sich entweder aus Angeboten etwas heraussuchen oder, was ich gemacht habe, selber eins vorschlagen. Ich war damals schon einige Zeit in einer Peru-Solidaritätsgruppe in Nürnberg. So schlug ich für das ASA-Programm ein Projekt vor, in dem es um ein Bewässerungsprojekt in Peru ging. Zwei Kollegen, eine Biologin und einen Chemiker, nahm ich mit ins Boot. Wir reisten 1978 nach Peru und schauten uns sozusagen interdisziplinär dieses Projekt an. Genau in diesem Jahr spitzte sich die Situation in Peru zu. Die zweite Militärregierung von Morales Bermúdez[21] befand sich in ihrer ziemlich autoritären Endphase. Schon damals lernte ich die Leute aus dem Menschenrechtsbereich kennen.
Stahl
Von der Peru-Solidaritätsbewegung habe ich noch nie etwas gehört.
Huhle
Das war in dem Sinn keine politische Peru-Solidaritätsbewegung. Es handelte sich um eine Gruppe, die aufgrund persönlicher Kontakte ein bestimmtes Entwicklungsprojekt in Peru unterstützte – in diesem Fall das Bewässerungsprojekt. Das war schon interessant. Wir waren drei Monate dort in einem entlegenen Tal, schauten uns Dorf für Dorf an und analysierten das Projekt. Ich lernte damals sehr viel über Realitäten in Entwicklungsländern. Meine Feststellung war, dass Entwicklungspolitik eigentlich etwas wäre, wofür ich mich engagieren könnte. Ich machte später noch länger etwas in diese Richtung. Anfang der achtziger Jahre arbeitete ich ziemlich viel über Ökologie und Entwicklung und publizierte auch den ein oder anderen Aufsatz. Bis ich dann zu den Menschenrechten im engeren Sinne – Ökologie und Entwicklung sind ja auch Menschenrechte – kam. Das war diese Arbeit in Peru mit einer ganz klar auf Menschenrechte ausgerichteten kleinen NGO. Dort waren wir fast drei Jahre lang.
Stahl
Wie kam es zu der Arbeit mit dieser peruanischen Menschenrechts-Organisation?
Huhle
Ich lernte die Gruppe auf meiner Peru-Reise kennen und schrieb mich anschließend mit dem Leiter, einem Pfarrer. Ich fragte, ob man nicht ein Projekt vorschlagen solle, bei dem ich zu ihrer Unterstützung als Entwicklungshelfer käme. Das fanden sie natürlich gut. Ich schrieb den Projektantrag und reichte ihn bei Dienste in Übersee[22] ein. Der Antrag ging durch die Gremien, anschließend habe ich mich beworben und wir sind ausgereist.
Stahl
Es war also ausdrücklich eine Menschenrechtsorganisation?
Huhle
Ja, genau. In Peru gibt es die nicht mehr. Es war ein lateinamerikaweites Netzwerk.[23] Der Gründer, eine charismatische Figur, war der Argentinier Adolfo Pérez Esquivel,[24] der vor vielen Jahren den Friedensnobelpreis bekam. Er arbeitete eng mit den Müttern der Verschwundenen in Argentinien zusammen. 1985 machte er eine historisch einprägsame Reise nach Peru und vor allem nach Ayacucho, die mich sehr stark bewegte. Er hatte auch in Deutschland einen unterstützenden Kreis. In diesem Umfeld bewegte ich mich damals.
Ich bin rüber gegangen und machte dort meine Arbeit. Es waren sehr schwierige Bedingungen, weil die Organisation schwach und eigentlich nicht in der Lage war, einen Entwicklungshelfer wie mich aufzunehmen, ihm vernünftig Arbeit zu geben, ihn zu betreuen und das, was ich gemacht habe, auch wiederum aufzunehmen. Die Voraussetzungen waren eigentlich nicht da. Das fand ich nicht so schlimm. Ich habe mir mein eigenes Arbeitsfeld aufgebaut und die Leute besucht, mit denen ich zusammenarbeiten konnte. Meinen Schwerpunkt setzte ich in Ayacucho. Das war das Zentrum des Bürgerkriegs. Dort konnte man damals wegen der Bürgerkriegslage nicht wohnen. Wir lebten daher als Familie in Lima.
Ich fuhr jeden Monat einmal nach Ayacucho, bis ich dort Mitte 1988 vom militärischen Geheimdienst festgenommen und vier Tage inhaftiert wurde. Das war zum Glück schon relativ gegen Ende meines Vertrags. Ich musste daraufhin die Zelte abbrechen und konnte nicht mehr in Peru arbeiten – nicht so sehr, weil es für mich zu gefährlich gewesen wäre, sondern für die Leute, mit denen ich zu tun hatte. Das war, als hätte man ein Brandmal auf der Schulter: »Der war mal im Knast.« Das ist dann einfach ein Risiko für die anderen Leute.
Wir fanden mit Dienste in Übersee ein sehr gutes Verfahren. Ich fuhr zunächst nach Deutschland und erstattete Bericht. Bei Dienste in Übersee waren sie natürlich alarmiert. Ich musste sie überzeugen, dass ich nicht gegen die Regeln verstoßen und auch sonst nichts Unanständiges getan hatte, sondern allein Opfer dieser repressiven Militärherrschaft in Ayacucho geworden war. Anschließend fuhr ich für drei Monate zu Schwesterorganisationen von SERPAJ nach Argentinien, Uruguay und Chile, und erfüllte so den Rest meiner Vertragszeit. Das war ebenfalls ein toller Lernprozess. Ich war im Oktober 1988, als das Plebiszit in Chile stattfand, als internationaler Beobachter vor Ort und erlebte die Jubelfeiern am nächsten Tag mit.[25] Anschließend war ich relativ lange bis Weihnachten in Chile. Meine Familie kam von Peru zu mir. Dort waren sie geblieben, weil die Kinder das Schuljahr noch beenden sollten. 1989 kehrten wir nach Deutschland zurück.
Man muss noch dazu sagen, dass meine beiden engsten Kollegen aus der peruanischen Organisation mehr Schaden erlitten als ich. Eine Kollegin holten wir aus Peru nach Chile und dachten, sie würde dort bleiben. Sie ging aber zurück und wurde ein Jahr später vom Militär aus dem Haus verschleppt – sie verschwand und tauchte nie wieder auf. Das war an dem Tag, an dem Fujimori[26] zum Präsidenten gewählt wurde. Deswegen war sie nämlich in Ayacucho. Das war im Juni 1990.
Den anderen Kollegen, Esteban Cuya, holten wir auch raus. Er ging nach Bolivien, konnte sich dort aber nicht halten. Für ihn zogen wir ein Projekt mithilfe von Dienste in Übersee an Land. Die hatten eine Projektlinie Süd-Nord-Bildungsarbeit, in der es darum ging, dass Leute aus südlichen Ländern auch mal den Menschen hier bei uns etwas beibringen sollten. Wir schlugen Cuya vor und haben ihn so sechs Jahre bei uns im Nürnberger Menschenrechtszentrum hauptamtlich beschäftigen können.
Ich dachte, als Ausländer könne ich mich vielleicht schützend vor die politisch Verfolgten in Peru hinstellen.
Stahl
Welche Aufgabe und Arbeitsweise hatte die peruanische Menschenrechtsorganisation, bei der Sie arbeiteten?
Huhle
Das ist etwas schwer zu beschreiben, weil es sehr chaotisch war. Das war eine Organisation, wie es sie leider gar nicht so wenige in Lateinamerika gibt. Sie war sehr stark auf ein oder zwei Personen zugeschnitten. Und sie war von deren Überlegungen oder Ideen, die auch wechseln konnten, abhängig. Zum einen förderten sie Sozialprojekte für ländliche Gruppierungen, insbesondere im Bereich der Kunsthandwerksproduktion, die sie auch spirituell mitbetreut haben. Dahinter stand so etwas wie eine »andine Theologie«. Ich arbeitete mich damals mehr in die Ethnologie und in die Ethnohistorie der Anden ein. Später schrieb ich jahrelang Fachaufsätze über diese Themen. Menschenrechtlich habe ich vor allem direkt präventive Arbeit für Verfolgte gemacht. Als man mich festnahm, hatte ich beispielsweise Röntgenbilder von jemandem bei mir, der von der Armee verletzt worden war. Wir betreuten ihn anwaltlich und auch in seiner Genesung. Solche Fälle hatte ich gar nicht so wenige. Ich dachte, als Ausländer könne ich mich vielleicht schützend vor sie hinstellen. Das war irgendwann halt zu viel. Aber eine Zeitlang ging das ganz gut.
Stahl
Was Sie jetzt zuletzt beschrieben haben, ist ja das, was man sich eigentlich unter Menschenrechtsarbeit vorstellt. Die Förderung von Kunsthandwerkssachen, die die Organisation betrieb – wurde die ebenfalls als Menschenrechtsarbeit definiert?
Huhle
Ja, doch. Ich finde das auch richtig. Ich meine, es gibt ja auch soziale Menschenrechte. Es war auch Basisentwicklungsarbeit, die immer mit einem pädagogischen Ansatz verbunden war. Mein eigentlicher Arbeitsauftrag laut Vertrag war ja Menschenrechtsbildung. Das habe ich auch gemacht. Das war aber natürlich unter den Umständen im ländlichen Raum sehr schwierig. Zum anderen lernte ich, bevor man etwas über Menschenrechte erzählen kann, muss man erst einmal etwas über Rechte im Allgemeinen erzählen. Die Menschen hatten überhaupt kein Selbstverständnis von sich als Rechte-Inhaber. Sie hatten sich daran gewöhnt, keine Rechte zu haben. Das war für mich ein Riesenspagat, aus dem ich wahrscheinlich wesentlich mehr gelernt habe, als die Leute in den Kursen. Aber es war trotzdem wichtig, dass wir das gemacht haben, auch in Ayacucho – und zwar nicht heimlich, sondern durchaus sichtbar.
Ich verband diese Arbeit mit der Förderung von Kunsthandwerkern oder Volkskünstlern. Sie übersetzten ihre Gewalterfahrung in unwahrscheinlich einprägsame Kunstwerke: Keramiken oder kleine Altäre, aber auch Teppiche und andere Textilien, auf denen sie die Gewalt darstellten. Mit diesen Kunstwerken arbeiteten wir dann wiederum in unserer Bildungsarbeit. Das hing zusammen. Den Ansatz finde ich nach wie vor gut. Aber das andere, also die direkte Arbeit für Opfer, die war unter diesen repressiven Verhältnissen, wo jeder … also damals gab es in Peru ja Tausende von Verschwundenen. Wenn ich nicht Ausländer gewesen wäre, weiß ich auch nicht, was dann mit mir passiert wäre an jenem fatalen Sonntag in Ayacucho.
Stahl
Wie kam der Kontakt zwischen ihnen und den Opfern zustande?
Huhle
Die Organisation hatte in verschiedenen Orten ihre Basisgruppen. Ich kümmerte mich hauptsächlich um die in Ayacucho.
Stahl: Es wurde also gefördert, dass Sie auf diese Art und Weise …
Huhle
Am Anfang ja. Als es dann deutlich wurde, dass damit auch Risiken verbunden waren, schreckte die peruanische Leitung der Organisation ein bisschen zurück. Aber die in Ayacucho, die wollten das machen. Und, na ja, ich hielt mich dann halt an die. Ich war natürlich auch nicht nur bei denen. Von Konferenzen und von Seminaren her kannte ich auch Leute von den anderen Menschenrechtsorganisationen. Das war auch sehr wichtig, weil ich Unterstützung brauchte, als dieser Zwischenfall passierte.
Stahl
Was waren das für Gruppen? Gab es da eine ausdifferenzierte Menschenrechtsszene?
Huhle
Ja. Die meisten, die es heute in Peru gibt, die gab es auch damals schon. In den achtziger Jahren ist in Peru sehr schnell eine professionelle Menschenrechtsbewegung entstanden. Teilweise sozusagen autochthon, aber teilweise auch nach Vorbildern aus Chile oder Argentinien.
Stahl
Und wie war die Zusammenarbeit?
Huhle
Mit den anderen Organisationen habe ich viel Kontakt gehabt. Ich lud sie auch hin und wieder zu einem unserer Seminare nach Ayacucho ein oder sie luden mich irgendwohin ein. Das war schon ein Netz.
Stahl
Warum waren diese Kontakte in der Verhaftungssituation wichtig?
Huhle
Das war wichtig, weil sofort national und international Alarm geschlagen wurde. Es war ja niemand dabei, als man mich von der Straße weg … da kam plötzlich rechts und links einer und: »Jetzt gehen wir zur Polizei!«, was gut war, weil … Die brachten mich tatsächlich zur Polizei. Wenn sie mich ins Militärquartier gebracht hätten, dann wäre es düsterer gewesen. Es wurden schnell sehr viele Leute alarmiert, die Botschaft natürlich auch. Und hier in Nürnberg war ich auf dem Titelblatt der Lokalzeitung. Der Bürgermeister hat sofort ein Telegramm geschrieben. Da war schon etwas los. Nach vier Tagen war ich wieder draußen.
Stahl
Die Botschaft intervenierte dort vor Ort?
Huhle
Ja. Sie schickte jemanden nach Ayacucho. Der ging nicht mehr weg, bevor er mich nicht mitnehmen konnte.
Stahl
Gab es bestimmte Kontakte und Beziehungen, die für Ihre Arbeit damals, aber dann auch mit Blick auf später, besonders wichtig waren?
Huhle
Ja, natürlich. Zum einen habe ich damals durch die Kontakte mit Familienangehörigen sehr hautnah die Tragik und Dramatik dieses Verschwindenlassens kennengelernt. Die meisten, mit denen ich die Arbeit, von der ich gesprochen habe, machte, waren Familienangehörige von Verschwundenen. Und da gab es Tausende. Die waren zum Teil organisiert. Und dann gab es auch die erste große Bewegung gegen die Straflosigkeit. Die war damals in Peru noch nicht so stark. Aber in Uruguay ging es schon damals um das erste Referendum gegen die Amnestie.[27] In Argentinien fanden 1985 die Junta-Prozesse statt.[28] In Chile ging es nach der Ablösung von Pinochet, dem verlorenen Referendum und dem Übergang zu einer gewählten Regierung eineinhalb Jahre später um die Frage der Amnestie.[29] Dieses Thema sog ich dort auf. Relativ bald verfasste ich einen Fachaufsatz darüber beim Hamburger Institut für Ibero-Amerika-Kunde, das heute GIGA heißt.
Insofern waren es sicherlich sehr prägende Momente – sowohl was die reale Arbeit mit Opfern von Menschenrechtsverletzungen betrifft, als auch was mein konzeptionelles Verständnis wichtiger Themen der Menschenrechtsarbeit angeht. Wir versuchten zum Beispiel, psychosoziale und therapeutische Arbeit mit Opfern, die es in Chile gab, nach Peru zu bringen. Wir stellten Kontakte her mit peruanischen Psychiatern und Psychologen. Das gab es in Peru noch gar nicht, inzwischen hat sich das geändert.
Wenn ich mich heute wieder mit der Frage beschäftige, was Opfer eigentlich brauchen, dann kommt das natürlich von daher. Das ist ganz klar. So nah dran war ich später nur in Kolumbien. Das war schon sehr eindrücklich, muss ich sagen.
Stahl
Als Sie 1988 in Argentinien waren, war der erste Aufstand des Militärs bereits vorüber.[30] Dieses Ereignis führte dazu, dass man wieder zurückhaltender wurde mit Forderungen nach strafrechtlicher Aufarbeitung. Wie sahen Sie das damals?
Huhle
Da waren wir natürlich strikt dagegen. Also ich habe in Argentinien auch Pérez Esquivel besucht, den SERPAJ –Servicio Paz y Justicia – und die anderen großen Menschenrechtsorganisationen. Dort war man sich einig: Das ist ein Irrweg. Ich halte es auch als Politikwissenschaftler im Rückblick für einen Irrweg, dass man sich von diesem Seineldín, diesem Marienverehrer, hat erpressen lassen. Und gut, es ist ja dann korrigiert worden.[31]
Stahl
Das Ereignis haben aber auch Menschenrechtsvertreter zum Anlass genommen, umzuschwenken und über Amnestien nachzudenken.
Huhle
Natürlich gab es auch diese: Es gab sie in Chile und auch in Argentinien. Sie waren aber eher die Minderheit, selbst unter den Christdemokraten. Alle anderen waren da ganz anderer Meinung.
Stahl
1989 kehrten Sie nach Deutschland zurück.
Huhle
Ich habe mich praktisch wieder an meine alte Arbeitsstelle bei der Stadt Nürnberg begeben. Damals sagte ich mir: »Menschenrechtsbildung brauchen wir doch auch bei uns.« Ich fing in dieser Bildungseinrichtung bei der Stadt Nürnberg peu à peu an, über Menschenrechte auch große Veranstaltungen zu machen.
Stahl
Warum hielten Sie das für so wichtig?
Huhle
Ich kam zurück und wollte alles loswerden, was sich bei mir an menschenrechtlichen Themen bis oben hin angefüllt hatte. Noch im Oktober des gleichen Jahres gründeten wir mit ein paar Gleichgesinnten das Nürnberger Menschenrechtszentrum, das zuerst »Dokumentations- und Informationszentrum Menschenrechte in Lateinamerika« hieß. An diesem Namen erkennt man noch die Inspiration. Die ersten zwei Jahre arbeiteten wir tatsächlich hauptsächlich zu Lateinamerika. Ich kam mit einem halben Container voller Dokumente zurück, die aus Chile, Argentinien, Peru und so weiter stammten. Wir wollten das dokumentieren und zugänglich machen.
Stahl
Warum meinten Sie, dass es für die deutsche Gesellschaft so wichtig sei, über diese Verbrechen Bescheid zu wissen?
Huhle
Das war erst einmal mir und meinen lateinamerikanischen Freunden wichtig. Ich dachte, die deutsche Gesellschaft sollte sich damit auseinandersetzen. Und dann kam hinzu, dass ich – ohne es wirklich verbalisieren zu können – das Gefühl hatte, dieser Kampf gegen die Straflosigkeit habe auch etwas mit meiner Geschichte in Deutschland zu tun, mit der ausbleibenden Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und mit der haarsträubenden Weigerung der deutschen Justiz, die NS-Verbrechen aufzuarbeiten.
Es kamen sehr schnell einige Entwicklungen zusammen. Ein Jahr nach meiner Rückkehr war die Wende, also das Ende des Eisernen Vorhangs. Wir trommelten 1991 eine große internationale Konferenz in Nürnberg zusammen, genannt »Trialog«. Wir brachten Menschenrechtler aus verschiedenen lateinamerikanischen und osteuropäischen Ländern und aus Deutschland zusammen, um über die essentials der Transition zu reden. Im Mittelpunkt stand die Frage der Bestrafung und auch was die Tschechen Lustration nennen. Im Grunde waren es Transitional-Justice-Fragen avant la lettre. Das war ein höchst spannendes Experiment. Da war man, ich glaube, drei Tage in einer Tagungsstätte zusammen. Am Ende war es ein grandioser, aber sehr bezeichnender Misserfolg, weil es keine gemeinsamen Plattformen gab. Vor allem die Osteuropäer und die Lateinamerikaner konnten wenig bis nichts miteinander anfangen. Das ist zum Teil bis heute so.
Die Lateinamerikaner hatten dieses juristische Denken, dass die Verbrechen bestraft werden müssten. Die Osteuropäer waren resignierter und pragmatischer. Sie konnten sich gar nicht vorstellen, dass man die Kommunisten hinter Gitter bringen sollte. Diese Veranstaltung war sehr aufschlussreich. Sie war auch Anlass, uns intensiver mit dem Nürnberger Prozess zu beschäftigen. 1993 kam der Jugoslawiengerichtshof, das war ein weiterer Anstoß.[32] Diese Themen sind ein Schwerpunktthema unserer Arbeit in Nürnberg geblieben.
Stahl
Wie haben Sie die Zusammenarbeit mit den Osteuropäern angebahnt? Gab es schon vorher Kontakte?
Huhle
Einige unserer Mitglieder waren in der Szene, zum Beispiel in der Kreisau-Initiative,[33] engagiert. Über die haben wir im Schneeballsystem – die Brandenburgische Akademie war beispielsweise einbezogen – ein paar Leute angeschrieben, die auch gekommen sind. Es waren gute Leute. Das war aber nicht unser Schwerpunkt. Und leider schliefen auch alle Kontakte relativ schnell wieder ein. Wir haben im Nürnberger Menschenrechtszentrum bis heute keine kontinuierliche Arbeit zu Osteuropa.
Ich stieß zuerst in Lateinamerika auf die Bedeutung der Nürnberger Prozesse.
Stahl
Können Sie sich erinnern, wer das Thema Nürnberger Prozesse damals zuerst aufbrachte?
Huhle
Das ist ziemlich paradox. Ich stieß zuerst in Lateinamerika auf die Bedeutung der Nürnberger Prozesse. Im Kampf gegen die Straflosigkeit waren die Nürnberger Prozesse immer der Referenzpunkt. Da dachte ich mir, das muss ich mir auch mal anschauen. Ich als alter Nürnberger hatte in Nürnberg nie etwas davon mitgekriegt, also so gut wie nichts. Ich hatte mich nie intensiver damit beschäftigt. Es kam tatsächlich aus dieser Impunidad-Diskussion in Lateinamerika.
Stahl
Wie begann die Arbeit zum Thema Nürnberg?
Huhle
Die Nürnberger Prozesse waren schon in diesem Trialog von 1991 präsent. Im gleichen Jahr fuhr ich zum ersten Mal nach Kolumbien. Das war Teil der Nacharbeit. In Kolumbien gab es nämlich die kontinentale Abschlussveranstaltung von nationalen Tribunalen gegen die Straflosigkeit. Das war sehr wichtig, weil sich dort Leute aus der strafrechtlich orientierten Menschenrechtsarbeit aus ganz Lateinamerika trafen. Dort ergaben sich viele Kontakte, auch für das Nürnberger Menschenrechtszentrum. Dann begannen wir, uns damit wissenschaftlich zu beschäftigen, und organisierten mehrere Tagungen, 1995 eine ganz große. Die werde ich nie vergessen. Die Keynote-Speech hielt Professor Tomuschat.[34] Damals gab es schon den Ruanda-[35] und Jugoslawien-Gerichtshof. Manche redeten schon von einem internationalen Strafgerichtshof. Tomuschat beendete sein Referat mit dem pessimistischen Gedanken, dass wir wohl alle einen internationalen Strafgerichtshof nicht mehr erleben würden.
Stahl
1995.
Huhle
Ja, 1995, genau. So schnell kann Geschichte manchmal gehen.[36] Wir traten auch bald der International Coalition for a Criminal Court bei.[37] Wir hatten keine Strafrechtler bei uns und machten deshalb nicht viel Facharbeit. Aber wir beteiligten uns aktiv an der Kampagne für den Strafgerichtshof, fuhren auf die eine oder andere Tagung und versuchten, das Thema auch in Nürnberg zu verankern. Das ist stetig gewachsen. Inzwischen gibt es sogar eine internationale Akademie »Nürnberger Prinzipien«.
Stahl
Sie sprechen immer von »wir«.
Huhle
Ich meine in erster Linie die Leute vom Nürnberger Menschenrechtszentrum. Aber natürlich nahm das auch in meiner beruflichen Arbeit immer mehr zu. Wir veranstalteten ab 1992/1993 am Jugendzentrum für Politische Bildung – so hieß meine Arbeitsstelle damals – regelmäßig Fortbildungen zu Menschenrechten für Jugendliche, die sich hauptsächlich an der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte orientierten. Das gab es damals sonst nirgendwo. Wir boten außerschulische Menschenrechtsbildung als Vormittagsprojekte an, zu denen Schulklassen kamen. Nach und nach übernahmen das dann auch Lehrer. Inzwischen werden diese Projekte kaum noch nachgefragt. Das können die Lehrer ja auch selber. Jetzt haben wir spezifischere Bildungsangebote. Seit damals machen wir als Nürnberger Menschenrechtszentrum die Menschenrechtsbildung, aber auch als Individuen in verschiedenen Bildungseinrichtungen.
Stahl
Welches waren in dieser Anfangszeit die Personen, die mit Ihnen zusammenarbeiteten?
Huhle
Da war zum Beispiel eine Studentin aus Kolumbien, da waren mehrere Leute von der lokalen Tageszeitung, allerdings nicht Journalisten, sondern mehr aus dem technischen Bereich und dem Archiv. Ein paar Leute kamen aus dem evangelisch-kirchlichen Bereich und auch aus dem katholischen. Zwei oder drei Lehrer waren dabei – also ein ziemlich bunter Haufen.
Stahl
Wie kamen die zusammen?
Huhle
Nürnberg ist eine Kleinstadt. Der eine oder die andere, die wir vorher nicht kannten, hat auch mal von uns gehört und kam einfach: »Finde ich interessant, möchte ich mitmachen.« Aber die meisten kamen über das Schneeballsystem.
Stahl
Aus der Chile-Bewegung?
Huhle
Niemand jetzt direkt, nein. Ich kann mich nicht erinnern. Wir haben in Nürnberg ein paar Überbleibsel aus dem Chile-Exil, die uns auch sehr nahe stehen, die aber nicht aktiv dabei sind; andere Lateinamerikaner schon. Es gibt in Nürnberg eine relativ breite Lateinamerika-Szene. Es hat aber im Laufe der Jahre nachgelassen. Wir sind eigentlich stärker allgemein im Bildungsbereich. Wir sind stärker in dem Bereich Nürnberg, NS-Vergangenheit und Menschenrechte. Weil ich sozusagen mit einem Bein da und mit dem anderen Bein dort stand, fing ich früh an, mich mit der Frage zu befassen, wie sich eigentlich NS-Erinnerung oder vergangenheitspolitische Bildung und Menschenrechtsbildung zueinander verhalten. Ich bin ja auch im Diskussionszusammenhang mit den Gedenkstätten seit vielen Jahren immer zugange. Das sind spannende Themen. Die beschäftigen uns heute fast mehr als Lateinamerika.
Esteban Cuya brachte viel hinein. Unter anderem hat er, nachdem sein Vertrag mit uns ausgelaufen war, das Sekretariat der Koalition gegen die Straflosigkeit von Verbrechen an Deutschen in Argentinien übernommen. Das war eigentlich das größte Projekt, das je bei uns gelaufen ist; erstens, weil es über zehn Jahre dauerte, und zweitens vom Finanzvolumen her. Es war aber auch ein etwas isoliertes Projekt. Es ist ja ein nationales Projekt gewesen. Über zehn oder zwölf Organisationen waren daran beteiligt. Bei uns war zwar das Sekretariat, aber es war nicht so, dass ganz Nürnberg da mitgefiebert hätte.
Stahl
Sie erwähnten bereits, dass mit der Zeit auch die Stadt Nürnberg in das Thema Menschenrechte einstieg. Wie hat sich die Zusammenarbeit zwischen Ihnen und der Stadt entwickelt?
Huhle
Ich war die meiste Zeit, bis ich in den Ruhestand ging, städtischer Angestellter. Ich hatte eine sehr privilegierte Situation. Die Bildungsarbeit hat mir unheimlich viel Freiheit gelassen. Ich hatte auch Vorgesetzte, die mich sehr förderten. Wenn ich zurückkam – sei es aus Peru, sei es später aus Kolumbien – und dann wieder neue Ideen einbrachte, dann fanden sie das nicht schlecht oder störend, sondern gut.
Die Stadt Nürnberg hat ja 1993 dieses unverhoffte Geschenk der Straße der Menschenrechte bekommen. Es war das Ergebnis eines künstlerischen Wettbewerbs des Germanischen Nationalmuseums, den der Israeli Dani Karavan gewann. Das hat etwas ausgelöst. Es hat einen Schub gegeben. Nürnberg hat schon immer ein Bewusstsein seiner Nazi-Vergangenheit gehabt, mehr seiner Nazi-Vergangenheit als der Nürnberger Prozesse, die eigentlich lokal kaum präsent waren.
Diese Straße der Menschenrechte hat man genutzt, um den internationalen Nürnberger Menschenrechtspreis zu stiften und um regelmäßig internationale Menschenrechtstagungen zu veranstalten zur Intensivierung der Menschenrechtsbildung. Damals hatten wir schon große Unterstützung der Stadt. Und wenn ich sage »wir«, muss ich ergänzen, das es zwei Hüte waren: Organisatorisch und finanziell war die Arbeit bei der Bildungsstätte, dem Jugendzentrum für politische Bildung angesiedelt. Getragen haben es hauptsächlich die Leute vom Nürnberger Menschenrechtszentrum. Es war eigentlich eine ideale Synergie.
Stahl
Also hat die Stadt die Menschenrechtsarbeit von Beginn an unterstützt?
Huhle
Ja. Natürlich gab es auch hin und wieder Differenzen. Eine Kommune ist eine Kommune und eine freie NGO hat manchmal andere Ideen. Das will ich nicht verschweigen, aber das ist relativ unwesentlich. Im Moment haben wir überhaupt keine Schwierigkeiten. Die Stadt Nürnberg hat ihr eigenes kleines Menschenrechtsbüro, das direkt dem Bürgermeisteramt zugeordnet ist. Dort wird inzwischen auch weit mehr gemacht, als diesen Preis zu vergeben. Zum Beispiel kümmern sich die Mitarbeiterinnen ganz stark um die NSU-Opfer, von denen ja drei in Nürnberg ermordet wurden.[38] Das Menschenrechtsbüro unterstützt auch die Bildungsarbeit und trägt die Menschenrechtsbildung in die Mitarbeiterschaft der Stadt Nürnberg hinein. Es gibt auch Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsarbeit. Wir können eigentlich sehr zufrieden sein. Und wir haben auch ein gutes kooperatives Verhältnis. Jeder kennt seine Stärken und weiß, wo er beim anderen nachfragen kann. Das ist eine gute Situation.
Stahl
Nach einigen Jahren bei der Stadt gingen Sie wieder nach Südamerika, dieses Mal nach Kolumbien.
Huhle
Das war im Frühjahr 1997. 1993 hatte ja die Wiener Menschenrechtskonferenz stattgefunden, auf der man die grundlegenden Menschenrechtsprinzipien bestätigte und die Schaffung eines Hochkommissars für Menschenrechte beschloss. Dieser Posten wurde 1994 eingerichtet, 1995 fing die Arbeit dann richtig an. Die damalige UN-Menschenrechtskommission kritisierte öfters Staaten. Immer wieder war Kolumbien dran. Das hat den Kolumbianern gar nicht geschmeckt. Sie fingen an, mit dem neuen Menschenrechtshochkommissar zu verhandeln. Das war damals Ayala-Lasso,[39] der ecuadorianische Außenminister, ein klassischer Diplomat. Das Ergebnis war: Ihr werdet nicht vor der Kommission vorgeführt, sondern bei euch wird ein Field Office des Hochkommissariats errichtet.
Wenn es nicht das erste solche Büro war, dann doch das zweite. Es handelte sich jedenfalls um eine völlig neue Geschichte, unter der sich noch niemand so richtig etwas vorstellen konnte – offenbar auch nicht die Kolumbianer. Dadurch war nämlich die Beobachtung und Berichterstattung über die Menschenrechtsgruppe in Kolumbien wesentlich intensiver als das der Menschenrechtsrat oder die Kommission hätten machen können.
Dieses Büro wurde mit kräftiger Unterstützung von Herrn Baum[40] eingerichtet. Er war von Anfang an der Meinung, dass da ein Deutscher reingehörte. Und wenn der auch nicht gleich der Direktor dieses Büros werden musste, so sollte doch mindestens einer hin. Zu meiner großen Verwunderung bekam ich eines Abends einen Anruf aus Genf, der nach wenigen Sätzen in eine Art Verhör ausartete, bei dem ich langsam kapierte: Ach, das ist ein Vorstellungsgespräch. Ich wurde gefragt, ob ich beim Aufbau dieses Büros mitmachen wolle. Ich hatte gerade anderes vor, unter anderem Urlaub. Es hieß, in vier Wochen müsse es losgehen. Ich konnte nicht wiederstehen und handelte mir wieder eine Beurlaubung bei der Stadt Nürnberg aus.
Dieses Mal konnte ich mich nicht auf das Entwicklungshelfergesetz berufen, aber die Stadt Nürnberg ist in diesen Dingen ja wirklich sehr kooperativ. Ich wurde anstandslos und relativ kurzfristig mit Anspruch auf Rückkehr beurlaubt. Das Ganze musste natürlich auch noch im Familienrat beschlossen werden. Meine Frau bekam just um die gleiche Zeit, fast auf die Woche genau, eine Professur in Coburg. Ich ging nach Kolumbien. Unsere Kinder waren die Woche über alleine zuhause, was sie ziemlich cool fanden. Zunächst war der Ausflug nach Kolumbien eigentlich nur für ein paar Monate geplant, sonst hätten wir das wahrscheinlich gar nicht gewagt. Daraus wurden zweieinhalb Jahre. Es wäre auch noch weitergegangen, wenn ich nicht gesagt hätte: »Nein, jetzt will ich mal wieder nach Hause.« Es war sehr spannend, eine echte Pioniersituation.
Stahl
Wie sah Ihre Arbeit in Kolumbien aus?
Huhle
Man nannte uns »Human Rights Experts«. In anderen Zusammenhängen hießen wir sogar »Human Rights Officers«, was ich noch schlimmer fand. Aber es war faszinierend. Wir trafen nacheinander im Abstand von Tagen oder Wochen in Kolumbien ein. Am Anfang war es ein Team von sechs Leuten. Die ersten Sitzungen fanden im Hotelzimmer statt, dann in einem uns überlassenen Raum in irgendeinem Hochhaus und erst nach ein paar Monaten hatten wir unser eigenes Büro. Wir mussten die ganze Arbeit unseres Field Office eigentlich von der Pike aus erfinden. Ich erhielt nicht die geringste Schulung oder Vorbereitung. Ein paar von meinen Kollegen hatten schon woanders in der UNO gearbeitet aber unter ganz anderen Umständen. Vom Hochkommissariat gab es auch keine Vorgaben, weil die ja auch noch keine Erfahrung hatten.
Das Einzige, was wir hatten, war ein Mandat. Das war das Ergebnis des Aushandlungsprozesses mit der kolumbianischen Regierung. Und das haben wir versucht umzusetzen. Am Anfang hat jeder alles gemacht. Es war ein völlig internationales Team. Ich war der einzige Deutsche. Die Chefin war eine Spanierin. Außerdem hatte ich einen schwedischen und einen peruanischen Kollegen, eine uruguayische und eine argentinische Kollegin. Das war unser erstes Team. Im Laufe der Monate kamen noch andere. Dann wurde es schon etwas größer.
Ich nahm während meiner Zeit als UN-Mitarbeiter in Kolumbien knapp tausend Einzelfallbeschwerden von Personen auf, die sich über die Ermordung, das Verschwindenlassen oder die widergesetzliche Festnahme ihrer Angehörigen beschwerten.
Wir versuchten, uns einen Überblick zu verschaffen und unsere Arbeit zu definieren. Im Wesentlichen handelte es sich um Monitoring– also um die Beobachtung der Menschenrechtsituationen – vor allem im Hinblick auf den jährlichen Bericht, der vorgelegt werden musste. Zweitens bauten wir eine Datenbank für Einzelfallbeschwerden auf. Meine Arbeit war von Anfang bis Ende immer im Bereich der Ermittlung, der Observierung. Ich glaube, ich nahm in diesen zweieinhalb Jahren knapp tausend Einzelfallbeschwerden von Personen auf, die sich über die Ermordung, das Verschwindenlassen oder die widergesetzliche Festnahme ihrer Angehörigen beschwerten. Das nahmen wir auf, übersetzten es in die Vertragssprache der Menschenrechte, machten der Regierung Vorhaltungen und bewegten sie zu einer Antwort. Das war ein Schwerpunkt.
Aber ich bin auch ungefähr einmal im Monat irgendwo in die Gebiete gefahren, wo es Probleme vor Ort gab. Ich sprach dort mit den Organisationen und sammelte Informationen. Das war eine sehr abwechslungsreiche Tätigkeit. Später kam auch die Beratungsarbeit hinzu. Wir veranstalteten ständig Konferenzen mit Regierungsvertretern, mit der Exekutive bis hin zum Militär, aber auch mit der Judikative und der Staatsanwaltschaft. Wir trugen unsere Eindrücke vor und überlegten gemeinsam, was besser gemacht werden sollte. Kolumbien ist auf einer gewissen Ebene ein kooperatives Land, wenn man so will. Es war nicht alles völlig aussichtslos. Das eine oder andere hat sich vielleicht auch verbessert.
Stahl
Zum Beispiel?
Huhle
Verfahrensweisen wurden verbessert. Die Staatsanwaltschaft richtete eine Sonderabteilung für schwere Menschenrechtsverbrechen ein. Bestimmte Termini der internationalen Menschenrechtsjurisprudenz wurden übernommen. Zum Beispiel akzeptierten sie den Begriff des Verschwindenlassens als strafrechtlichen Begriff. Auf der institutionellen, legislativen und exekutiven Ebene gibt es unendlich viel zu tun.
Stahl
Auf diese Dinge haben Sie als UN-Menschenrechtsexperte gedrückt?
Huhle
Ja, und das machen die Kollegen, die jetzt noch drüben sind. Das Büro ist ja inzwischen auf achtzig Mitarbeiter angewachsen. Sie haben mehrere Zweigbüros in den Regionen. Mit den Zweigbüros ging es gerade los, als ich gegangen bin.
Stahl
Sie haben also auf die Akzeptanz von Verschwindenlassen als Straftatbestand bestanden.
Huhle
Die Konvention gab es ja noch nicht. Aber es gab schon den völkerrechtlichen Begriff des Verschwindenlassens. Die Working Group on Enforced Disappearance existierte seit 1980. Ich glaube, die erste Resolution der UNO, die aufgrund der Verbrechen in Chile und Argentinien zustande kam, ist von 1978. Das Konstrukt, die Begrifflichkeit des Verschwindenlassens, ist also schon relativ alt. In diese völkerrechtliche Ebene habe ich mich in Kolumbien zum Teil erst eingearbeitet. Ich hatte das noch nicht alles auf dem Schirm.
Stahl
Wie ging die Arbeit für Sie nach der Zeit in Kolumbien weiter?
Huhle
Ich beendete meinen Vertrag, weil sich meine Kinder damals im Pubertätsalter befanden und auf das Abitur zugingen. Ich dachte mir: »Nein, jetzt will ich mal wieder zuhause bei meiner Familie sein.« Ich ging wieder zurück zur Stadt Nürnberg und setzte meine Bildungsarbeit fort. Ich machte danach fast nichts anderes mehr als Menschenrechtsbildung, vor allem Kurse, Konzepte, Vorträge, Konferenzen und so weiter, auf allen möglichen Ebenen.
Stahl
Sie erwähnten bereits einmal die Koalition gegen die Straflosigkeit.[41] Wie kam es zu deren Gründung?
Huhle
Die Koalition gegen die Straflosigkeit wurde 1998 aus der Taufe gehoben. Ich war damals nicht in Nürnberg, sondern in Kolumbien – also nicht direkt beteiligt. Es war im Wesentlichen die Initiative eines unserer damals aktivsten Mitglieder, der auch unser Vorsitzender war, der evangelische Pfarrer Kuno Hauck. Damals arbeitete er hauptamtlich im kirchlichen Entwicklungsdienst Bayern. Inzwischen ist er wieder Gemeindepfarrer. Zuvor war er acht Jahre in Argentinien als Pfarrer tätig gewesen und hatte sich dort auch als Amnesty-International-Aktivist betätigt. Er war von diesem Thema erfüllt und hatte viele Kontakte.
Das Nürnberger Zentrum wurde damals von Adolfo Pérez Esquivel kontaktiert. Er kannte Esteban Cuya, der später als Sekretär die Arbeit dieser Koalition koordinierte, und mich aus der Zeit, als wir für den peruanischen Zweig von SERPAJ gearbeitet hatten. Er fragte an, ob man nicht etwas machen könnte, es gäbe doch etliche unter den Müttern in Argentinien, die in der ganz besonderen Situation seien, dass sie entweder schon in der zweiten Generation oder in der ersten Generation aus Deutschland dort waren und ihre Kinder in der Repression verloren hatten. Hinzu kam der emblematische Fall von Elisabeth Käsemann,[42] der Fall von Klaus Zieschank[43] und anderen, die als junge Deutsche nach Argentinien gegangen waren. In den meisten Fällen handelte es sich um Argentinier deutscher Herkunft, ein erheblicher Teil davon deutsch-jüdischer Herkunft.[44]
Auf diese Anfrage hin haben wir in Deutschland Verbündete gesucht. Das waren die üblichen Verdächtigen. Einmal die beiden großen Kirchen, Amnesty International und ein paar kleinere Organisationen wie die Argentinien-Gruppe Stuttgart. Es gab auch ein SERPAJ Europa, wo ich nach meiner Rückkehr ein paar Jahre mitgearbeitet hatte. Die gibt es inzwischen nicht mehr. Peace Brigades International[45] war auch mit dabei, also ein buntes Spektrum. Die Schwergewichte waren aber die kirchlichen Hilfswerke und Amnesty International. ECCHR gab es ja noch nicht.[46] Die Anwälte hat man eigentlich ad personam gesucht. So habe ich es jedenfalls wahrgenommen, aber um die genauen Details zu erzählen, bin ich nicht der Richtige. Ich kam 1999 zurück. Da gab es die Koalition gegen die Straflosigkeit schon. Dafür habe ich mich dann natürlich sehr interessiert.
Stahl: Wie funktionierte die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen beteiligten Gruppen?
Huhle
Mit den üblichen Schwierigkeiten, die es oft zwischen Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen gibt – zwischen den Leuten, die die tägliche Arbeit machen und den anderen, die eher unterstützen. Aber es funktionierte zehn Jahre lang erfolgreich und wir konnten die Arbeit jetzt in Ehren beenden. Ich bearbeitete die letzten drei Jahre ein Projekt zur Archivierung des Ganzen. Das ist jetzt abgeschlossen. Das gesamte Archiv der Koalition steht beim ECCHR in Berlin der Forschung zur Verfügung, auch in digitalisierter Form. Das wollten wir machen, weil es doch ein ungewöhnliches und sehr großes Projekt war. Es hat immerhin dazu geführt, dass in Nürnberg einige Strafverfahren gegen die obersten Männer der Diktatur eröffnet wurden, dass sogar Auslieferungsbegehren gestellt wurden und dass die Bundesrepublik, nachdem sie sich während der Diktatur ziemlich fragwürdig verhalten hat, doch als Nebenkläger in laufenden Verfahren aufgetreten ist.[47]
Also man kann damit halb zufrieden sein. Es gibt natürlich auch andere Dinge, die nach wie vor äußerst ärgerlich sind - insbesondere die Tatsache, dass Regierung und Justiz sich auf den Standpunkt stellten, sie seien gar nicht zuständig für die meisten dieser deutschstämmigen Verschwundenen, weil sie keine deutschen Staatsbürger seien. Dabei handelte es sich um Kinder von jüdischen Deutschen, die unter den Nazis ausgebürgert worden waren. Das ist juristisch begründbar. Dass man aber keinen politischen Weg gefunden hat, ist mir nach wie vor unbegreiflich. Also das war dieses Koalitionsprojekt, das jetzt im Grunde abgeschlossen ist.
Stahl
Sie wurden 2011 in den Ausschuss zur UN-Konvention gegen das Verschwindenlassen berufen.
Huhle
Eines Tages kam die Anfrage vom Auswärtigen Amt, ob ich in diesen völlig neuen Ausschuss gehen wolle. Deutschland habe Interesse, dort vertreten zu sein. Das hat geklappt. Es war auch nicht sehr schwierig, weil es für die zehn Plätze elf Kandidaten gab.
Stahl
Welches ist Ihre Funktion in diesem Ausschuss?
Huhle
Wir hören uns alle Berichte der Vertragsstaaten an. Es sind noch nicht so viele, erst 43. Jeder Staat muss nach zwei Jahren einen Bericht über die Situation des Verschwindenlassens in seinem Land vorlegen. Diese Berichte analysieren wir zunächst, und ziehen dann Berichte von anderen Institutionen hinzu, hauptsächlich von nationalen Menschenrechtsorganisationen aus dem betreffenden Land, aber auch von internationalen und aus dem UN-Bereich. Vom Generalsekretariat erhalten wir eine Menge von Zusatzdokumenten. Aufgrund der Analyse dieser Dokumente stellen wir eine Fragenliste zusammen. Von der Form her ist es ein relativ enges Korsett, in dem alles stattfinden muss. Auf die Fragen gehen Antworten des Staates ein. In Genf kommt es dann zum Dialog: Die Delegation eines Staates verteidigt den Bericht ihrer Regierung und wir stellen Fragen. Aufgrund dieser mündlichen Verhandlung, die normalerweise sechs Stunden dauert, schreiben wir unsere sogenannten Empfehlungen. Darin greifen wir die kritischen Punkte auf und machen konstruktive Vorschläge an den Staat. Die sollte er auch umsetzen. Man nennt das quasi-justizielle Befugnis. Wir sind kein Gericht. Es ist kein Urteil, das wir sprechen, aber die Empfehlungen werden eigentlich schon als verbindlich verstanden. Die Staaten müssen auch innerhalb der gesetzten Frist berichten, was sie mit diesen Empfehlungen gemacht haben.
Das ist die eine Ebene. Die andere ist – und da bin ich wieder bei meinen Erfahrungen aus Kolumbien –, dass ich die Berichterstattung für Einzelfallbeschwerden, für sogenannte Eilaktionen hatte. Wenn jemand »verschwindet«, dann kann man dem Ausschuss eine Mitteilung mit der Bitte machen, sich ganz dringend darum zu kümmern. Wir schreiben dann rasch einen Brief an die entsprechende Regierung und bitten, erstens den Menschen so schnell wie möglich zu suchen und zu finden und zweitens zu sagen, was sie über die Sache wissen. Das ist die Schiene der urgent actions. Von Anfang an ist das eine meiner Aufgaben im Ausschuss gewesen. Es ist sicherlich die arbeitsreichste, aber natürlich auch eine, die irgendwie befriedigender ist, auch wenn das manchmal ziemlich an die Nieren geht. Aber zumindest verliere ich dabei nicht den Kontakt zur Realität und werde ständig daran erinnert, wofür diese ganze Ausschussarbeit am Ende gut sein sollte.
Als UN-Ausschuss sind wir so etwas wie die Hüter der Konvention gegen das Verschwindenlassen.
Wir sind natürlich auch so etwas wie die Hüter der Konvention. Das heißt, wenn es unterschiedliche Meinungen gibt, wie der Text zu interpretieren sei, dann ist es unsere Aufgabe, eine Linie zu finden. Das kann auch dazu führen, dass wir general comments schreiben, wie andere Ausschüsse das auch tun, die zu Grundfragen des Themas verbindliche interpretatorische Ausführungen machen. Das werden wir sicherlich auch noch machen. In kleinerer Form haben wir es schon gemacht. Wir haben uns zu einigen nicht so klaren Fragen in der Konvention in Statements geäußert, die aber noch nicht den Status eines general comment haben.
Das sind die wesentlichen Funktionen. Wir sprechen natürlich mit der Zivilgesellschaft und mit den Staaten auf den verschiedensten Ebenen. Wir müssen uns auch als Ausschuss gegenüber dem UN-System behaupten, damit wir nicht einfach untergebuttert werden. Der Bürokratie gefällt es immer am besten, wenn alles so ist, wie es immer schon war und immer möglichst gleich in allen Gremien. Aber unsere Konvention ist immer ein bisschen anders. Es gibt auch eine ganze Reihe von politischen Fragen zu diskutieren. Das ganze Treaty-Body-System befindet sich schon seit Jahren in einem Reformprozess, der alles effizienter und einheitlicher, aber nicht zuletzt auch billiger machen soll. Damit sind wir natürlich auch befasst. Das macht allerdings im Wesentlichen der Präsident des Ausschusses, der auch auf die Treffen fährt, auf denen die verschiedenen Ausschuss-Vorsitzenden zusammenkommen. Wir müssen darauf achten, dass wir uns tatsächlich streng auf dem Boden der Konvention bewegen. Wir wollen uns ja nicht angreifbar machen und unser Kapital, das in unserer persönlichen Unabhängigkeit und unserer Expertise in Fragen der richtigen Auslegung dieses Menschenrechts besteht, nicht dadurch in Frage stellen lassen, dass wir willkürlich oder sehr freizügig unsere eigenen Auffassungen über den Konventionstext bilden.
Die Arbeit im Ausschuss ist eine wesentlich abstraktere Arbeit als das, was ich in Kolumbien seinerzeit gemacht habe. Aber solche Field Offices gibt es inzwischen in einer ganzen Reihe von Staaten. Das ist natürlich ein großer Gewinn. Wir können die Mitarbeiter dort jederzeit um Zuarbeit für unserer Arbeit bitten. Das ist während meiner Zeit in Kolumbien nie passiert, dass ein Ausschuss uns gefragt hätte: »Könnt ihr uns Informationen liefern? Da wüssten wir gerne noch Genaueres. Der Staat äußert sich sehr vage.« Wir im Ausschuss gegen das Verschwindenlassen nehmen solche Zuarbeit heute in Anspruch. Ich finde überhaupt, dass es viel mehr Querverbindungen und wechselseitige Stärkung zwischen den einzelnen Institutionen des Menschenrechtsschutzes geben müsste. Da werkelt jeder noch zu oft vor sich hin.
Stahl: Zum Abschluss noch eine allgemeine Frage. Wenn Sie diesen gesamten Zeitraum seit den achtziger Jahren sehen, in dem Sie für Menschenrechte aktiv waren: Wie schätzen Sie die Entwicklung der Menschenrechte bis zur Gegenwart ein?
Huhle
Es gibt zwei wesentliche Entwicklungen, die leider nicht parallel zueinander verlaufen. Das eine ist, dass ich es schon sehr wertschätze, dass sich das menschenrechtliche, völkerrechtliche Instrumentarium sehr stark weiterentwickelt und verfeinert hat und uns Jahr für Jahr eine sicherere Grundlage gibt, um mit Fug und Recht sagen zu können: Das ist eine Menschenrechtsverletzung. Das ist nicht nur die vertragsrechtliche Entwicklung. Dazu gehört natürlich auch die Jurisprudenz der internationalen Gerichtshöfe, ich meine der Strafgerichtshöfe oder der Menschenrechtsgerichtshöfe. Dazu gehören auch die Entscheidungen der Treaty Bodies. Dazu gehören auch die vielen Präzedenzfälle und zu einem geringeren Teil das Universal-Periodic-Review-Verfahren beim Menschenrechtsrat; auch das, was das Hochkommissariat selber macht, das sich heute blutvoller und energievoller äußert als in den Anfangsjahren. Man kann eigentlich sagen, dass sich vieles sehr gut weiterentwickeln konnte. In dem Bereich des Verschwindenlassens, in dem ich jetzt tätig bin, kann man das sehr deutlich sehen.
Die Achtung der Menschenrechte hat damit natürlich nicht Schritt gehalten. Das muss einen auch nicht verwundern. Ich meine, die Leute verletzen nicht Menschenrechte, weil sie es nicht besser wissen, weil sie die Normen nicht kennen, sondern weil es im politischen und ideologischen Kampf um Macht und Geld geht. Aber bis vor einigen Jahren hat man immer sagen können: »Sie versuchen es wenigstens zu verbergen, sie haben ein schlechtes Gewissen dabei.« Da sehe ich jetzt doch Rückschritte. Mit 9/11 hat es ganz heftig angefangen, dass die USA nicht nur Menschenrechte verletzt haben – das haben sie wie die meisten anderen Staaten auch immer getan –, sondern dass sie sich plötzlich hinstellen und behaupten, das, was sie da an Menschenrechtsverletzungen begehen, das sei eigentlich rechtens. Sie stellen Grundlagen des menschenrechtlichen Konsenses infrage. Das ist ja nicht weg vom Tisch.
Man kann sich darüber freuen, dass der Senatsausschuss in den USA vor kurzem einen Folterbericht veröffentlicht hat, aber umso bestürzender ist es natürlich, dass es immer noch genügend Leute an oberster Stelle gibt, die nach wie vor sagen: »Das war okay, und das lassen wir uns auch nicht nehmen.« Dieser schöne Spruch »Der Heuchler zieht den Hut vor dem Recht« ist sehr wichtig. Der Heuchler ist leider nicht mehr da. Die ziehen den Hut heute nicht. Die negieren Recht. Das ist natürlich ein ganz fatales Vorbild. Ich denke schon, dass manches, was wir heute an Brutalität und Hemmungslosigkeit beschreiben im Nahen Osten oder sonst wo, dass das in gewisser Weise ein Spiegel dieser Enthemmung ist, die von der – ob man es will oder nicht – Vorbildnation USA im menschenrechtlichen Bereich zu Beginn des Jahrtausends in die Wege geleitet wurde. Das finde ich die beunruhigendste Entwicklung im Menschenrechtsbereich. Wir haben zwar nach wie vor normative Fortschritte. Manche Schutzbereiche werden erst jetzt so richtig ausbuchstabiert. Die Frauenrechte sind immer noch in Entwicklung, auch die Kinderrechte und die ganzen Diskriminierungsrechte von sexuellen und sonstigen Minderheiten. Das ist noch alles in Entwicklung und macht auch Fortschritte. Aber die Gegenbewegung ist auch sehr stark. Ich weiß nicht, wie das weitergeht. Ich weiß nur, dass es kein Grund sein kann aufzuhören.
Stahl
Vielen Dank für das Interview und Ihre Zeit.
Lebensgeschichtliches Interview mit Rainer Huhle, 15.12.2014, in: Quellen zur Geschichte der Menschenrechte, herausgegeben vom Arbeitskreis Menschenrechte im 20. Jahrhundert, URL: www.geschichte-menschenrechte.de/rainer-huhle/