Quellenzur Geschichte derMenschenrechte

Wolfgang Kaleck

Seit den neunziger Jahren verdichten sich die Bemühungen verschiedener NGOs und Juristen, dem sogenannten Weltrechtsprinzip international mehr Geltung zu verschaffen. Schwere Menschenrechtsverletzungen wie Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Folter oder Verschwindenlassen sollen unabhängig von Tatort und Staatsangehörigkeit der Täter weltweit strafrechtlich verfolgbar sein. In Deutschland gehört der Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck (*1960) zu den aktivsten Verfechtern dieser Idee. Seine Arbeit kennzeichnet, dass er sich nicht nur gegen Vertreter der Staatsmacht wendet, die sich an Verbrechen beteiligt haben, sondern auch gegen Wirtschaftsunternehmen.

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Interview

Das Interview fand am 15. Oktober 2013 um 17 Uhr in Kalecks Büro im European Center for Constitutional and Human Rights in Berlin statt. Dr. Miriam Rürup, Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden, Hamburg, und Dr. Daniel Stahl, Wissenschaftlicher Sekretär des Arbeitskreises Menschenrechte im 20. Jahrhundert, unterhielten sich zweieinhalb Stunden mit dem Juristen.

Stahl
Erzählen Sie etwas darüber, wo Sie herkommen.

Kaleck
Ich bin als behütetes Kind in Jülich, einer rheinischen Kleinstadt, aufgewachsen. Mein Vater war Physiker, meine Mutter gelernte Köchin und mit der Erziehung von mir und meiner jüngeren Schwester beschäftigt. In Jülich bin ich auch zur Schule gegangen und habe 1979 mein Abitur gemacht. Vor dem Zivildienst war ich kurz bei der Bundeswehr. Dann verweigerte ich und ging zum Zivildienst nach Köln. Anschließend habe ich von 1981-1987 in Bonn Jura studiert. Ab 1988 absolvierte ich das juristische Referendariat in Berlin. Seit 1991 bin ich hier Rechtsanwalt und habe gemeinsam mit anderen Kollegen eine Kanzlei. Zunächst saßen wir in der Friedrichstraße im damaligen Haus der Demokratie und Menschenrechte, dem Zentrum der Bürgerrechtsbewegung in Ost-Berlin. Wir haben als Rechtsanwälte vornehmlich in Ostdeutschland praktiziert. Ich habe aber auch zu Diktaturverbrechen in Argentinien- und zu US-Folter gearbeitet und dies schließlich zu einem meiner Arbeitsschwerpunkte gemacht. 2007 schließlich habe ich mit befreundeten internationalen Menschenrechtsanwälten das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) gegründet und bin seitdem hier tätig.[1]

Rürup
Welche Ereignisse gab es in Ihrer Kindheit, die erklären könnten, wo Sie heute stehen?

Kaleck
Meine gängige Antwort war bis vor kurzem, dass es solche Ereignisse nicht gab, sondern dass ich eine fast sorglose Kindheit und Jugend in einer westdeutschen Kleinstadt durchlebt habe, die zuweilen an Langeweile grenzte. Die einzigen Aufreger musste man selber produzieren. Aber vor einigen Jahren habe ich begonnen, das anders zu sehen. Eine Freundin insistierte darauf, dass möglicherweise auch mein Leben etwas damit zu tun haben könnte, dass meine Eltern Flüchtlinge gewesen waren. Mein Vater ist mit seinen Geschwistern und der Mutter – der Vater hatte sie alleingelassen – in den letzten Kriegstagen aus Königsberg in Ostpreußen geflohen. Meine Mutter ist mit ihrer Mutter und ihren beiden Geschwistern später aus Siebenbürgen in Rumänien geflohen. Sie wussten nicht, dass sich der Vater verwundet in russischer Kriegsgefangenschaft befand. Darüber wurde aber bei uns nicht gesprochen.

Meine Eltern haben sich in München kennengelernt. Die Familiengeschichte begann mit den Kinobesuchen des Physikstudenten und Nachtportiers eines Krankenhauses und der Köchin des Krankenhauses. Mehr erfuhren wir eigentlich nicht über ihre Vergangenheit. Ich wurde dann vor fünf Jahren zu einer Konferenz nach Bukarest eingeladen. Dort ging es um die Geheimgefängnisse der CIA in Osteuropa und unsere Arbeit zu diesen Fällen. Damals habe ich mich spontan entschlossen, zum Geburtsort meiner Mutter zu fahren. Dadurch hat sich mir eine Welt aufgetan, weil sich anschließend einige Gespräche mit anderen Verwandten ergaben. So erfuhr ich, dass die Familiengeschichte für meine jungen Eltern eine ziemliche Belastung gewesen war. Beide Familien waren aufgrund ihrer Flucht sehr arm. Im Rückblick denke ich, spielt es eine große Rolle, dass ich aus einer Familie komme, die nie besonders viel Geld hatte und die auch in den sechziger Jahren sehr bescheiden gelebt hat, wie viele andere auch. Das erste Auto war etwas Besonderes wie auch das Fleischessen. Das hat mich mehr geprägt, als ich dachte.

Dasselbe gilt für die Toleranz, die vor allem meine Eltern prägte. Das heißt, man hat nie, wenn es um den Weltkrieg und seine Ursachen ging, drum herumgeredet. Es war immer klar, dass Hitler und der Nationalsozialismus diesen Krieg ausgelöst hatten und dass die Deutschen fürchterliche Verbrechen begangen hatten. Es wurde nicht lamentiert. Selbst mein Opa beschwerte sich nicht, der bis ans Ende seiner Tage von daheim sprach, wenn er das Haus in Siebenbürgen meinte. Daheim war nicht München, wo er den größeren Teil seines Lebens verbracht hat, sondern Pretai in Siebenbürgen. Er pflegte zwar seine Beziehung nach Siebenbürgen, hat aber nie Revanchismus ausgestrahlt. Außerdem war meine Familie immer sehr offen und gastfreundlich. Ich denke, dass mich das über die ganzen Jahre sehr geprägt hat. Das ist allerdings neu, das sehe ich noch nicht lange so. Noch vor fünf Jahren habe ich gesagt, dass mein Aktivismus irgendwann einfach so da war.

Meine ersten politischen Erweckungserlebnisse waren Auseinandersetzungen mit den Geschichtslehrern über das Aussparen der NS-Vergangenheit in den großen Geschichtserzählungen und die Kontinuität von Eliten nach dem Zweiten Weltkrieg.

Stahl
Welche Rolle spielten politische Themen bei Ihnen zu Hause?

Kaleck
Der Nationalsozialismus und die Judenvernichtung waren Thema bei uns. Meine ersten politischen Erweckungserlebnisse waren Auseinandersetzungen mit den Geschichtslehrern über das Aussparen der NS-Vergangenheit in den großen Geschichtserzählungen und die Kontinuität von Eliten nach dem Zweiten Weltkrieg. Ich erinnere mich noch, dass ich zu den Jusos gegangen bin, um Material über Franz Josef Strauss[2] und Georg Kiesinger[3] zu bekommen. So wollte ich mich für den Unterricht besser wappnen. Leider war bei den Jülicher Jusos nicht so viel zu finden und ich musste mit den Büchern von Bernt Engelmann[4] Vorlieb nehmen. Das war mein erstes politisches Engagement.

Stahl
Wie sind Sie auf diese Themen gekommen?

Kaleck
Sicherlich durch meinen Vater. Der war früher bei der SPD, später bei den Grünen und für die lange auch Ratsherr in Jülich – obwohl er Physiker bei der Kernforschungsanlage war. Ich habe aber auch viel gelesen, ich habe immer viel gelesen. Nationalsozialismus war eines der ersten Themen, auf die ich mich gestürzt habe. Deutsche Geschichte hat immer eine Rolle gespielt. Sowohl Nationalsozialismus als auch die Weimarer Republik mit allen ihren Facetten: Zersplitterung der Linken, Dogmatismus eines Teils der Linken, etc. Auch mit dem Spanischen Bürgerkrieg und der Rolle der Kommunistischen Parteihabe ich mich beschäftigt. 

Antimilitarismus war ein weiteres Thema, mit dem ich mich auseinandersetzte. Das führte zu meiner Verweigerung. Bei meiner Verweigerung war ich etwas gespalten. Zunächst bin ich mit so einem Ihr-könnt-mir-gar-nichts-Gefühl zum Bund gegangen. Ich hatte nicht vor, Soldat zu werden. Aber ich war die ganze Zeit ein Antimilitarist. Geschichte und Antimilitarismus – das waren die Themen, über die ich mit 20, 21 und 22 viel gelesen habe. 

Ich engagierte mich in der Anti-Atom-Bewegung und für Totalverweigerer. Außerdem war ich bei Demonstrationen gegen die Gelöbnisse der Bundeswehr und bei den Antikriegsdemonstrationen. 1983, im fünften Semester meines Jurastudiums, engagierte ich mich – als Sprecher der Volkszählungsbewegung, wo ich mit Politikern, Bundestagsabgeordneten und Ministern diskutierte. Zusammen mit anderen Juristen versuchte ich, diese Volkszählungsbewegung einerseits durch juristische Analysen dessen, was da drohte, zu bereichern – Stichwort Überwachungsstaat. Andererseits habe ich auch versucht, diese Analysen in praktisches Wissen zu überführen: Was passiert, wenn wir verweigern? Was passiert, wenn wir dazu aufrufen oder die Formulare[zerreißen? Es ging mir immer um die Kombination von politischer Analyse und praktischem Widerstand.

Stahl
Wie haben Ihre Eltern auf ihr Engagement reagiert? Haben Sie mit ihnen darüber diskutiert?

Kaleck
Sie haben mich unterstützt.

Rürup
Wie sah diese Unterstützung aus?

Kaleck
Indem sie sich dafür interessiert haben. Heute sind sie natürlich stolz.

Rürup
Wenn aber der Vater in der Atomforschung aktiv war und der Sohn in der Anti-Atom-Bewegung, gab es doch Konfliktpotential?

Kaleck
Nein.

Rürup
Wie kam es denn zu der Entscheidung, Jura zu studieren?

Kaleck
Ich habe mich im Zivildienst in der Selbstorganisation der Zivildienstleistenden und für die Totalverweigerer-Bewegung engagiert. Gleichzeitig hatte ich einen sehr harten Job. Ich arbeitete im Mobilen Sozialen Hilfsdienst, wo ich ohne Ausbildung und ohne Betreuung schwerstbehinderte und geistig lädierte Menschen zu betreuen hatte: Ein Starfighter-Pilot, der in der Ausbildung verrückt geworden war und wieder bei seiner Mutter lebte, oder ein Achtzigjähriger, der in einer Kellerwohnung lebte und Geister sah. Auch um eine Frau mit Multiple Sklerose musste ich mich kümmern. Als ich das erste Mal bei ihr war, wusste ich nicht, was das für eine Krankheit ist.

Einerseits hat mir diese Arbeit Spaß gemacht. Ich habe mich aufgehoben gefühlt und fand, dass es eine wichtige Erfahrung sei. Andererseits fand ich es skandalös, unter welchen Bedingungen wir eingesetzt wurden, ohne Betreuung, ohne Supervision, ohne irgendwas. Heiner Geißler, damals noch nicht so nett wie heute, war als Arbeitsminister zuständig für den Zivildienst. Er forderte, der Zivildienst müsse so hart ausgestaltet werden, dass es die jungen Männer vom Verweigern abhält. Das bedeutete doch, dieser Dienst am Menschen, wie man ihn positiv umdeuten könnte und wie ich ihn auch verstanden habe, war im Grunde eine Schikane von der Regierung, durchgesetzt, um genügend Soldatennachwuchs zu haben. Das machte mir klar, dass mir diese Idee vom Dienst am Menschen zwar viel Spaß machte und ich mich da wohl und aufgehoben fühlte, dass ich mich auf der anderen Seite aber bemühen musste, eine politische Analyse und einen politischen Ansatz zu entwickeln.

Da war diese unsägliche Sozialbürokratie, die uns einfach Zettel in die Hand drückte: »Hier, geh’ mal zu Frau V. in die Domstraße, die hat Multiple Sklerose und ist gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden. Musst ein bisschen aufpassen, die Frau ist katholisch.« Da war mir klar, dass das eine nicht ohne das andere geht, das Konkrete und Praktische nicht ohne eine wesentlich grundsätzlichere Kritik. Es mag sich befremdlich anhören, aber ich meinte, das bei Jura zu finden. 

Ich habe zur gleichen Zeit im Grunde genommen studium generale betrieben: Ich war bei der Kunstgeschichte, der Anthropologie, der Politikwissenschaft, der Germanistik – ich war in vielen unterschiedlichen Studienrichtungen unterwegs, weil ich Rechtswissenschaften als Teil von Sozialwissenschaften verstanden habe. Einerseits war es der Versuch, Gesellschaft und Geschichte zu verstehen, auf der anderen Seite fand ich es aber attraktiv, am Ende diesen einen Beruf zu haben, wo man zum »Rächer der Enterbten und Armen« werden konnte (lacht). Das war die Idee dahinter. Diese Idee ist im Laufe der Jahre etwas verschütt gegangen, weil das Jurastudium nicht unbedingt die Erwartungen erfüllte, die ich hatte. Es drohte mehrmals zu scheitern, am Ende ging es dann gut. Am Ende hatte ich das Erste Examen und danach wurden die Dinge dann auch etwas leichter.

Rürup
Hatte das Scheitern etwas mit den Lehrern zu tun? Setzte sich das Aufbegehren der Schulzeit auch im Studium fort?

Kaleck
Ich bin erst im letzten Drittel des Studiums von Prof. Bernhard Schlink als Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes vorgeschlagen und aufgenommen worden. Zeitgleich habe ich einen Demonstrationszug durchs Juridicum geleitet. Das finde ich kokett. Das sind Spielereien, die in diesem Land erlaubt sind und die Art von Toleranz, die hier durchaus geübt wird, bei der man aber aufpassen muss, dass man sich nicht einlullen lässt.

Stahl
Wie würden Sie das universitäre Umfeld beschreiben, in dem Sie studiert haben – die Studenten und Professoren?

Kaleck
Es war halt Bonn. Eine der wenigen Universitäten außer den süddeutschen, in denen rechte Studentengruppen eine Chance bei den Studentenparlamentswahlen hatten, und zwar gerade, weil die Juristen und die Volkswirte, die im Juridicum saßen, so stark waren. Da saßen dann Menschen auf der anderen Seite wie Herr Guido Westerwelle, den ich schon aus der Studentenpolitik kenne. Das war der Geist im Juridicum. Wir waren eine kleine Oppositionsgruppe von ungefähr 30 Leuten – insgesamt gab es mehrere Tausend Jurastudenten. Wir nannten uns Neue Juristische Welle – einerseits in Anlehnung an die große etablierte Juristenzeitung Neue Juristische Wochenzeitung und andererseits an die Neue Deutsche Welle. Anders als in vielen anderen Studentengruppen versammelten sich dort unterschiedliche politische Richtungen von den Jusos, über die Grünen, bis hin zum Marxistischen Studentenbund Spartakus und undogmatische Linke wie ich. 

Wir haben uns gegenseitig sehr stark unterstützt und haben eigenverantwortlich Seminare über Themen wie wissenschaftskritische, neokonservative Staatstheorien oder juristische Methodenlehre durchgeführt. Wir haben uns das organisiert, was uns das Studium nicht geliefert hat, weil Leute wie Josef Isensee[5] oder Fritz Ossenbühl[6] gelehrt haben. Ossenbühl hat Geld mit Gutachten für die Atomindustrie verdient. Isensee ist ein schmittianischer Staatstheoretiker. Es war eine gute Schulung; Bonn war keine Wohlfühl-Universität, es war keine kritische Universität, es war Feindesland.

Stahl
Wie sind Sie zur Neuen Juristischen Welle gekommen?

Kaleck
Ich habe Politik gemacht und Bonn ist klein. Man stand am Tresen, drei Meter entfernt voneinander.

Stahl
Wo würden Sie sich politisch in dieser Gruppe verorten?

Kaleck
Ich habe mich als radikaler Linker verstanden. Wir waren nicht Teil der Friedensbewegung, wir haben uns als Antimilitaristen verstanden. Wir haben uns gegen den Überwachungsstaat eingesetzt und haben damit nicht nur das, was landläufig unter Überwachung verstanden wird, gemeint, sondern auch das, was am Arbeitsplatz stattfindet. Wir haben uns mit der Weltwirtschaft beschäftigt, mit den ungerechten Bedingungen und Verhältnissen in der Wirtschaft.

Stahl
Was meinen Sie mit »Wir«? War das noch einmal eine Gruppierung innerhalb der Neuen Juristischen Welle?

Kaleck
Es waren unterschiedliche Gruppierungen. Wir haben für die Grünen gearbeitet, wir haben für die Grünen gekellnert.. Das war ein Studentenjob. Man kannte die Grünen und war ihnen durchaus nahe, aber das war’s auch schon.

Stahl
Sie erwähnten, dass einer der Professoren ein Schmittianer war. Welche Rolle spielte die NS-Vergangenheit des Faches?

Kaleck
Die spielte für uns eine sehr große Rolle. Für uns alle war nicht nur die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ein identitätsstiftendes Merkmal im Jurastudium, sondern vor allem die Auseinandersetzung mit den Kontinuitäten. Viele von uns waren angewidert davon, dass bis in unsere Zeit Leute, die dem NS-Regime ideologisch nahestanden wie Otto Palandt[7], der ehemalige Kriegsgerichtsrat Eduard Dreher[8], Theodor Maunz[9], der Herausgeber des wichtigsten Grundrechtskommentars – wie diese Leute auch nach dem Zweiten Weltkrieg ungebrochen Karriere machen konnten, wie wir allenfalls in der Kritischen Justiz nachlesen konnten.

Unser Slogan auf Demonstrationen war nicht »Menschenrechte jetzt« sondern »Deutsche Waffen, deutsches Geld, morden mit in aller Welt«.

Stahl
Spielte irgendwann das Thema Menschenrechte als solches eine Rolle?

Kaleck
Heute wird vieles unter dem Rubrum Menschenrechte diskutiert, was damals unter anderen Schlagwörtern abgehandelt wurde. Man kann diese Themen im weitesten Sinne als Teil des Menschenrechtsdiskurses begreifen. Wenn wir uns mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt haben, haben wir natürlich nicht das Wort Menschenrechte gebraucht; niemand hat damals gesagt, die Menschenrechte der Juden wurden verletzt. Auch viele meiner jüngeren Kolleginnen und Kollegen haben sich mit der Judenverfolgung auseinandergesetzt, ohne dass unter dem Titel Menschenrechte der Juden zu diskutieren. Genauso war das auch bei anderen Themen. Während meines Politikstudiums habe ich mich mit Brasilien beschäftigt, etwa mit dem deutsch-brasilianischen Atomgeschäft. Darin ging es auch um eine Auseinandersetzung mit den damaligen Militärdiktaturen. Aber ich kann mich auch da nicht erinnern, dass ich es unter dem Titel Menschenrechte diskutiert habe. Es ging um Weltwirtschaft und um Akteure wie die westlichen Staaten, die um des Profits willen über Leichen gehen. Unser Slogan auf Demonstrationen war nicht »Menschenrechte jetzt« sondern »Deutsche Waffen, deutsches Geld, morden mit in aller Welt«. Das war unser Anknüpfungspunkt und nicht so sehr die Menschenrechte.

Stahl
Gab es eine Zusammenarbeit mit Organisationen wie Amnesty International, die zu diesem Zeitpunkt ebenfalls gegen die Militärdiktaturen protestierten?

Kaleck
Als Jugendlicher in Jülich war ich auch bei Amnesty International. In meiner Studienzeit war das keine Referenz mehr. Es war klar, jeder wusste, was Amnesty war und sie wurden akzeptiert. Man las die Berichte. Man nahm das zur Kenntnis, aber es war nicht unbedingt die Gruppe, wo man sich hinbewegt hätte.

Rürup
Wie sind Sie als Schüler zu Amnesty gekommen?

Kaleck
Ich habe mir damals, wie bereits erwähnt, politischen Rat bei den Jusos geholt und ich war auch eine Zeitlang bei Amnesty. Ich habe auch nicht viel gemacht. Ich war beim Tischtennis-Verein, das war das Wichtigste. Da war ich fünf- oder siebenmal die Woche trainieren. Es existierte auf meiner geistigen Landkarte, ich fühlte mich dem zugehörig.

Stahl
Ab wann spielten die Militärdiktaturen für Sie eine Rolle?

Kaleck
Wie gesagt, ich habe viel gelesen. Zwischen 1981 und 1983 haben wir uns sowohl mit den alten Militärdiktaturen – das heißt Chile, Argentinien und Brasilien – als auch mit Nicaragua, El Salvador und Guatemala auseinandergesetzt. Damals gab es ja keine so starken Solidaritätsbewegungen mehr mit Argentinien oder mit Chile – sie waren zumindest nicht mehr so präsent. Für meine Generation war es eher die Solidarität mit Nicaragua, El Salvador und Guatemala. Das kennzeichnende und identitätsstiftende Merkmal waren nicht die Menschenrechte, sondern die Forderung nach internationaler Solidarität.

Rürup
Nach dem Studium sind Sie nach Guatemala gegangen. Wie kam es dazu?

Kaleck
Ich bin für das Referendariat nach Berlin gegangen und habe mich dort entschieden, einen Teil dieser Ausbildungsphase bei der guatemaltekischen Menschenrechtskommission zu absolvieren, die damals im Exil in Mexico City gearbeitet hat.[10] Die Freunde aus der Solidaritätsbewegung haben mich dorthin vermittelt. Ich dachte, mit Englisch würde ich durchkommen. Spanisch musste ich dann vor Ort lernen. Das war 1990 – genau! Den 3. Oktober 1990 habe ich dort verbracht.

Stahl
Wie sah Ihre Tätigkeit aus?

Kaleck
Ich hatte die Aufgabe, einen Text über CONAVIGUA (Coordinadora Nacional de Viudas de Guatemala) zu schreiben. Das war eine Organisation von indigenen Frauen, deren Männer in den Massakern umgebracht worden waren.[11] Ich führte in Mexiko eine kleine Recherche durch und wurde dann nach Guatemala geschickt. Ich bin nach Guatemala gefahren, ohne fließend Spanisch zu sprechen und ohne das Land richtig zu kennen. Vor Ort bin ich mit den Witwen im Land herumgereist. Mit der damaligen Präsidentin von CONAVIGUA[12] und anderen bin ich 1990 durch die Gegend gereist und habe versucht, zu begreifen, was in dem Land passierte. Den einen Teil habe ich begriffen, das heißt, ich konnte mir die Ereignisse erklären. Aber natürlich habe ich nicht Zugang zu den indigenen Frauen gefunden. Interkulturalität war damals kein so wichtiges Thema.

Anschließend habe ich einen Bericht verfasst und ansonsten an der täglichen Arbeit der Kommission partizipiert. Die bestand im Wesentlichen aus Strichlisten: Gefolterte, Verschwundene, Ermordete, jeweils nach Provinzen. Es war schon sehr beeindruckend, weil es anders war als alles, was ich bis dahin kannte. Die anderen Mitarbeiter der Menschenrechtskommission waren Menschen, die ihre Familienangehörigen verloren hatten. Der Tag der Toten wird ja in Mexiko besonders gefeiert mit ofrendas, eine Art von Altar, der mit einem Erinnerungsstück, einer Blume, einem Getränk oder irgendetwas Schönem verziert und von jedem besucht wird. Bei den Guatemalteken war das immer ein monströs-riesiges Ding, weil sie unglaublich viele Angehörige verloren hatten.

Meine Kollegen konnten ihr Studium und ihre Ausbildungen nicht abschließen, weil sie geflüchtet waren. Diese Menschen mehrere Monate hautnah mitzuerleben, ist etwas anderes, als zu Hause im netten Bonn oder Berlin Berichte zu lesen. Ich glaube, das hat eine neue Ernsthaftigkeit in mein Leben gebracht. Es war nicht von ungefähr, dass ich den 3. Oktober 1990, den Tag der deutschen Wiedervereinigung, in Mexiko, in Guatemala verbracht habe und nicht in Deutschland. Als ich zurückkam, war klar, dass ich mir auf absehbare Zeit keine Gedanken über mein Einkommen, über Kranken- und Lebensversicherungen machen wollte, sondern dass mich die »Probleme der Welt« beschäftigten.

Stahl
Gab es in dieser Zeit einen Kontakt, den Sie besonders prägend fanden?

Kaleck
Wir sind dort immer als Gruppe unterwegs gewesen. Das waren alles exilierte Guatemalteken, alles politisch Verfolgte. Mein wohlbehütetes Leben hat sich aus der rheinischen Kleinstadt etwas weiterentwickelt. Es war auch ermutigend, die Welt nicht nur als Desaster und von Katastrophen und Massakern geprägt zu erfahren, sondern eben auch Menschen kennenzulernen, die trotz schlimmster Erfahrungen eine positive Herangehensweise haben. Das war das Hauptcharakteristikum der Guatemalteken: Sie haben sich nicht entmutigen lassen. Es war traurig, wenn sie tranken und sangen, aber trotzdem haben sie immer weitergearbeitet. Das fand ich beeindruckend.

Stahl
Sie haben mehrfach die deutsche Wiedervereinigung erwähnt. Wie haben Sie dieses Ereignis von Mexiko aus wahrgenommen?

Kaleck
Als Bauchnabelshow. Wann werden die Leute, die politisch etwas entscheiden, merken, dass die Welt nicht nur aus Deutschland besteht, sondern aus Europa und den außereuropäischen Kontinenten. Man weiß es ja und hat es unzählige Male gehört, dass alles mit allem zusammenhängt. Trotzdem haben es die Leute hier nicht wirklich zum Teil ihres Lebens, ihres Arbeitens und ihres politischen Handelns gemacht. Bis heute nicht.

Rürup
Als Sie wiedergekommen sind, Deutschland vereint, mit den Erfahrungen in Guatemala und Mexiko in der Tasche, wie kam es zu der Entscheidung, ostdeutsche Bürgerrechtler zu vertreten?

Kaleck
Das haben meinen beiden Partner in die Wege geleitet: Dieter Hummel und Volker Ratzmann. Die beiden haben die Kontakte gemacht. Es war natürlich spannend, an einem Ort zu sein, wo unglaublich viele Erfahrungen und Lebensläufe zusammenkommen. Ich weiß nicht, ob ich damals schon bereit war, das ganz normale Anwaltsdasein zu pflegen und in Charlottenburg Familienrecht zu machen oder in Kreuzberg junge Türken zu vertreten – das weiß ich nicht. Ich habe auch junge Türken vertreten und ich habe auch Familienrecht gemacht. Aber es war das Salz in der Suppe, in Ostberlin zu sitzen, wo noch nicht viele Westdeutsche waren, sondern wo man mehr oder weniger unter sich war, und diese vielen Erfahrungen hören konnte.

Ich will mich hier nicht mit diesem dogmatischen Begriff des Unrechtsregimes auseinandersetzen, aber wir konnten nicht ignorieren, was in der DDR passiert war. Wir waren zwar nicht Teil dieser ideologischen Auseinandersetzung, wir standen weder auf der einen, noch auf der anderen Seite. Das eine war ein bürokratischer, repressiver Apparat, der sich demokratischer Sozialismus oder Realsozialismus nannte, aber nichts damit zu tun hatte. Das andere waren die Antikommunisten, mit denen hatten wir auch nichts zu tun. Aber in Ostberlin zu sein und mit Menschen zu sprechen, die in ihrem Alltag, in ihrer Ausbildung und in ihrer Berufslaufbahn erfahren hatten, was Repression und was ein solcher Staatsapparat bedeutet – das war eine andere Dimension. Das ließ sich so mit dem, was wir als Westlinke an Kategorien und Ideen entwickelt hatten, nicht in Einklang bringen. Deshalb war es eine sehr lehrreiche Zeit.

Wir haben auch viel mit Fällen von Repression durch die Stasi zu tun gehabt. Wir haben das Neue Forum vertreten – Leute, die die Liste mit hauptamtlichen Stasi-Mitarbeitern in die Zeitung gesetzt haben und deshalb presserechtlich angegangen wurden, Leute, die Zugang zu Stasi-Archiven haben wollten. Wir haben auch die Familie Havemann[13] und andere vertreten, als sie versuchten, eine Rehabilitierung zu erreichen. Ich habe eine Reihe von Mandanten gehabt, die wegen sogenannten asozialen Verhaltens verurteilt und eingesperrt worden waren: Schwule, Trinker oder beides. Ein weiterer Aspekt der Arbeit waren die Kriegsdienst- und Totalverweigerer. Das war ein Anknüpfen an meine eigene Vergangenheit. Als die jungen Westberliner auf einmal wehrpflichtig wurden, habe ich viel mit der Kampagne gegen die Wehrpflicht zusammengearbeitet und Verweigerer in ganz Ostdeutschland vertreten. Ich war in Greifswald, in Halle und anderen Orten unterwegs und habe all diese netten, jungen, sympathischen Männer vertreten, die verweigert haben. 

Der dritte Strang der Arbeit war die aufkommende Gewalt von Neonazis gegen wen auch immer. Das ist ein Arbeitsschwerpunkt von uns als Kanzlei und auch gerade von mir, auch heute noch. Meine Kanzleikollegen sitzen ja auch im NSU-Verfahren. Ich war vielleicht hundert Mal in Magdeburg – die schlimmste Stadt nach Guatemala City, die ich erlebt habe. Einer der Prozesse war der sogenannte Elbterassen-Prozess, in dem es um zwei junge Punks ging, die 1992 von Skinheads angegriffen wurden. Torsten Lamprecht schlugen sie tot, den anderen verletzten sie schwer.[14] In einer Prozessserie vor dem Landgericht Dresden ging es um die Skinheads Sächsische Schweiz.

Stahl
Würden Sie sagen, dass es für Sie als »radikaler Linker« ein Bruch war, nach Ostberlin zu gehen und nun auch ostdeutsche Dissidenten zu vertreten, die gegen den »real existierenden Sozialismus« protestiert hatten?

Kaleck
Das war kein Bruch – nein, nein – das war kein Bruch. Die Mauer war auf und wir wollten nicht nach Charlottenburg gehen oder in Kreuzberg bleiben, sondern wir wollten nach Ostberlin. Das war klar für uns. Ich bin auf die richtigen Leute getroffen, die nicht so borniert waren und geklagt haben, dass sich das schöne Berlin verändert hatte. Es war eine neue Realität, es war spannend und es hat Spaß gemacht und die Neugier befriedigt, sich in dieser neuen Realität zu orientieren. Dazu gab es ja auch das, woran heute nett erinnert wird: diese ganzen illegalen Clubs, Kellerläden und Caipirinha-Kneipen. Das war einfach auch spannend.

Stahl
Hatten sie damit gerechnet, sich als Anwalt in dieser neuen Umgebung mit dem SED-Regime auseinanderzusetzen oder wurde das an Sie herangetragen?

Kaleck
Ich denke bis heute nicht so, ich rechne nicht. Ich begebe mich in bestimmte Realitäten hinein und setze mich mit ihnen auseinander. Häufig stelle ich dann fest, dass das durchaus sehr viel mit dem zu tun hat, was ich vor fünf, vor zehn oder vor fünfzehn Jahren gedacht oder gemacht habe. Und ich merke immer, dass es leichter ist, das Ganze zu verknüpfen, als man das vorher vielleicht hätte wahrhaben wollen. Aber ich berechne nicht. Der Fall Argentinien zum Beispiel: wurde der nur an mich herangetragen oder hat es vielleicht doch eine Rolle gespielt, dass ich schon vorher dort gewesen war, dass ich manche Akteure schon privat kannte? Keine Ahnung, ich weiß es nicht. Es ist meine Art zu leben. Immer wieder merke ich, dass manches kein Zufall ist, sondern bereits in dem angelegt war, was ich früher gemacht habe. In der Arbeit, die ich jetzt mache, sind viele Fäden zusammengekommen – sowohl gedanklich als auch praktisch, als auch von den Menschen her. Ich begegne immer wieder Menschen in meinem Leben, denen ich vorher schon mal begegnet bin. Networking heißt das ja heute. Ich komme aus dem Rheinland, da heißt das anders, dort gehört es zum Leben dazu und ist nicht berechnend.

Rürup
Gab es auch Fälle, die Sie abgelehnt haben, weil es nicht um Themen ging, die Sie bewegen und umtreiben?

Kaleck
Ich habe mich für das Strafrecht entschieden und nicht für das Sozial-, Ausländer- oder Arbeitsrecht. Ich habe auch freiwillige Knast-Arbeit gemacht. Wir sind in die Knäste gegangen und haben die Leute und auch die Gefangenenräte pro bono vertreten. Aber auch da haben wir das nicht unter dem Label Menschenrechte gemacht.

Dafür hatte ich nicht Jura studiert, dass ich mich neben einen Staatsanwalt setze und fordere, dass junge Glatzen in den Knast kommen.

Stahl
Sie haben sehr viele Fälle vertreten, wo es vor allem um politische Themen ging.

Kaleck
Das habe ich, klar, wie bei all den Kriegsdienst- und Totalverweigern. Wir haben auch die Neonazi-Gewalt und deren strafrechtliche Verfolgung immer politisch betrachtet. Dasselbe gilt für die Verteidigung der »kleinen« Protestler, die an irgendwelchen Blockaden oder Demonstrationen beteiligt waren. Aber ich habe auch türkische Jungens verteidigt, die Jacken abgezogen haben oder wegen Betäubungsmittelkriminalität angeklagt waren und die nicht politisch waren. Politisch ist für mich nicht nur das, wo politisch draufsteht. Zum Beispiel die Knastarbeit: Ich finde es hochpolitisch, sich mit Gefängnissen auseinanderzusetzen, mit dem, was dort mit Menschen gemacht wird, und mit dieser Idee von Gefängnisstrafe als Lösung für was auch immer.

Stahl
Welches wäre aus dieser Zeit Anfang bis Mitte der Neunziger ein besonderer Fall, der Ihre Arbeit und auch Ihr Denken geprägt hat?

Kaleck
Der Elbterrassen-Prozess in Magdeburg – der war heftig. Dafür hatte ich nicht Jura studiert, dass ich mich neben einen Staatsanwalt setze und fordere, dass junge Glatzen in den Knast kommen. Ich wollte die Gesellschaft verändern, dass es mehr Gerechtigkeit auf dieser Welt und in dieser Gesellschaft gibt. Und dann musste ich in diese schrecklichen Städte wie Magdeburg fahren, eine ernste Miene machen und sagen, der Junge gehört in den Knast. Es war dramatisch zu erfahren, was es in dem Land für Strukturen gab. Wir haben sehr eng mit Antifa-Gruppen und Journalisten zusammengearbeitet und wir sind in Archive gegangen. Nach der Aufdeckung der NSU-Geschichte haben es ja vielleicht ein paar mehr Leute begriffen, dass organisierte Neonazis aus Westdeutschland rübergekommen sind, Strukturen aufgebaut haben, usw. Die Spitze des Eisberges, das, was nach außen zum Ausdruck kam, waren irgendwelche Schlägereien, die man dem Suff zurechnen konnte. Aber was dahinter stand, war natürlich etwas ganz anderes. Das war Dauergewalt.

In Magdeburg gab es dieses Jugendzentrum »Knast«, das so hieß, weil es eine ehemalige Jugendstrafanstalt war. Die Jugendlichen dort haben das gemacht, was man von ihnen in einem Knast erwarten kann. Die haben sich täglich besoffen. Diese Jugendlichen haben in Gesprächen eine unglaubliche Kette von Gewalt geschildert und eine unglaubliche Ignoranz bis hin zur Mittäterschaft von Polizeibeamten. Es war wahnsinnig. Wir sind dorthin gekommen und haben diese Geschichte gehört, wie Daniel Müller und sein Kumpel, zwei Punks, die viel getrunken haben, durch die sachsen-anhaltinische Provinz fuhren. Mitten in einem Dorf in der Nähe von Magdeburg wurde vor und hinter ihnen blockiert. Sie wurden aus dem Auto herausgezerrt und mit Baseballschlägern zusammengeschlagen, wieder ins Auto reingesteckt, das Auto wurde umgedreht und angezündet. Beide entkamen mit Mühe und Not und mit Schädelverletzungen und weder die Dorfbevölkerung noch Polizei oder Justiz unternahmen etwas. Erst zwei Jahre später wurde der Fall auf den Tisch gebracht. Darüber hat später Philipp Groening einen Film gemacht, »Deutschland im Herbst« in Anlehnung an den Deutschen Herbst. Das war damals Magdeburg, das war Sachsen-Anhalt. In Sachsen und Thüringen war es auch nicht so anders. Aus diesem Sumpf ist der NSU hervorgegangen.

Rürup
Was wäre für Sie denn eine Lösung für dieses Problem gewesen, wenn es Ihnen nicht um die Inhaftierung junger Neonazis ging. Hätte man die Polizisten und Staatsanwälte verklagen müssen?

Kaleck
Zunächst muss den Opfern von neonazistischer Gewalt geholfen werden. Hilfe heißt, dass man versucht, was ihnen widerfahren ist zu berichten, den Sachverhalt aufzuklären, den Skandal öffentlich zu machen – das ist in der Menschenrechtsarbeit heute auch nicht anders. Notfalls muss man in einem Gerichtsverfahren gegen die Schläger oder gegen die Polizisten agieren, selbst wenn man nicht überzeugt ist, dass Strafrecht das richtige Mittel ist. Gleichzeitig muss man versuchen das, was man erfahren hat, weiterzutragen, über den Gerichtssaal hinaus zu agieren und dafür zu sorgen, dass politische Lösungen von verschiedenen Leuten gedacht und auch vollzogen werden.

Rürup
Gibt es Punkte, wo Sie sagen würden, die Strategie hat tatsächlich gefruchtet?

Kaleck
Sagen wir mal so: Ich kann mich erinnern, wie in Rostock diese erste Demonstration gegen die Angriffe auf das Asylbewerberheim stattfand.[15] Gleichzeitig waren auch in Berlin tausend oder zweitausend Menschen Unter den Linden. Ich war Anfang dreißig und gehörte mit ein paar anderen zu den Älteren. Das war eine schwache Reaktion. Ich finde, dass es jetzt ein Stück zivilisierter geworden ist, dass ein Stück mehr Auseinandersetzung stattfindet. Dazu haben viele Menschen beigetragen. Man muss sich daran abarbeiten. Wir irren viel und wir haben nicht so oft Erfolg, aber trotzdem: Wenn man sich nicht daran abarbeitet, dann würden sich andere irren und andere würden zukünftig noch weniger Erfolg haben. Deswegen ist es eine Arbeit, die getan werden muss.

Rürup
Was wäre denn Erfolg?

Kaleck
Ich weiß es nicht, keine Ahnung. Geschichte ist offen und es gibt zwei Alternativen: Entweder man akzeptiert alles oder man versucht, darauf einzuwirken. Es gibt Leute, die sagen, das bringt alles nichts, und sie erklären das auch gut und überzeugend. Und es gibt andere, die sagen, man müsse es doch versuchen, und die kleinen Wendungen und Dynamiken erleben. Jeder hat so seine Lebensphilosophien, mit denen man sich durchs Leben schlägt. Erfolg – ich kann es mir schlecht vorstellen. Es gibt Erfolg im engeren Sinne: ein Gerichtsverfahren zu gewinnen, Aufmerksamkeit zu schaffen, Leute für ein Anliegen zu begeistern. Das ist ja nicht unwichtig. Deswegen finde ich heute meine damalige Entscheidung, Jura zu studieren, gar nicht so falsch, weil es kleinere Schritte sind, die man anerkennen muss. Das unterscheidet mich von Leuten, die angesichts der Realität zynisch geworden sind. Ich kann die kleineren Dinge durchaus schätzen, ohne das größere Desaster aus den Augen zu verlieren.

Rürup
Im Fall Rumsfeld kann man wohl nicht von Erfolg im engeren Sinne sprechen.

Kaleck
Ich lese gerade das Buch Schmutzige Kriege von Jeremy Scahill über die letzten zehn, zwölf Jahre Terrorismusbekämpfung der USA. Das kann einen neu nachdenklich machen. Es handelt sich um eine Beschreibung des Status quo 2013. Es wird – jedenfalls offiziell – von den USA nicht mehr gefoltert. Mittlerweile haben auch alle begriffen, dass Folter gar nichts bringt. Allerdings werden vermehrt Menschen durch Drohneneinsätze getötet. Wir haben in einem Moment agiert, als der vorherrschende Diskurs war, dass in der Bekämpfung des islamischen Terrorismus jedes Mittel erlaubt sei. Damals haben auch in Deutschland einige Menschen, sogar Juristen, versucht, Folter zu rechtfertigen. Ich glaube, dass unser Netzwerk durch die Strafanzeige, durch öffentliche Veranstaltungen und Publikationen einen Teil dazu beigetragen hat, diese Debatte ein Stück weit einzudämmen.

Wir haben es auch geschafft, dass innerhalb der USA aber auch außerhalb wieder über accountability geredet wurde. Bei der Verabschiedung von Rumsfeld wurde viel über seine politischen und militärischen Fehler geredet. Eine Woche später erstatteten wir unsere Strafanzeige. Anschließend wurde auch darüber gesprochen, dass dieser Mann strafrechtlich für seinen Beitrag zum Aufbau und zur Nutzbarmachung dieses Foltersystems zur Verantwortung zu ziehen ist. Ich sehe es als einen Erfolg, dass wir es mit einem relativ kleinen Team von Leuten geschafft haben, dieses Thema weltweit auf die Agenda zu setzen.

Dieser Fall war auch ein Grund für die Gründung des ECCHR. Ich habe gesehen, was möglich ist bei dieser Art von juristischer Arbeit. Wir sind realistisch genug, um zu erkennen, dass wir nicht diejenigen sind, die das System zu Fall bringen. Die USA sind und waren die Supermacht. Sie sind nun geschwächt worden und haben sich zum Teil auch selber geschwächt. Aber militärisch sind sie nach wie vor unangefochten. Die Regierung hat das Foltersystem mit einem enormen Ressourcen-Aufwand umgesetzt. Wir waren nicht so naiv, zu glauben, dass wir nur darauf hinweisen müssten, dass das gegen ein paar Strafgesetze verstößt. Auf der anderen Seite ist es schon erstaunlich, dass Rumsfeld auf die Strafanzeige reagierte und erklärte, nicht nach Deutschland kommen zu wollen, solange sie nicht vom Tisch sei. Wir haben dann aus dem Spiegel erfahren, dass die Strafanzeige in Washington Thema war und dass man sich dort Gedanken machte. Das ist das Widersprüchliche an unserer Arbeit. Man muss beide Aspekte sehen: Einerseits sollte man nicht von Hybris beseelt sein, aber auf der anderen Seite sollte man durchaus ein gesundes Selbstbewusstsein haben und sich selbst und anderen klarmachen, dass diese Menschen nicht unantastbar sind. Das ist wichtig und es war eine wichtige Erfahrung, dass sich die US-Regierung davon getroffen gefühlt hat. Sonst hätten die nicht so reagiert. Wir bekommen das immer wieder bestätigt. 

Wir arbeiten zwar nur mit bescheidenen juristischen Mitteln. Aber diese sind dazu geeignet, Menschen ein bestimmtes Unrecht vor Augen zu führen und es als solches zu kennzeichnen. Einerseits fühlen sich die Menschen, die wir vertreten, ermutigt und diejenigen, die es trifft, fühlen sich andererseits zu Recht betroffen.

Stahl
Ich würde gerne noch einmal auf die neunziger Jahre zu sprechen kommen und auf ihre Zugehörigkeit zum Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV).[16]

Kaleck
Ich gehöre dem Verein an, seitdem ich Anwalt bin. 1995 stieß ich zum Vorstand und wurde dann Vorsitzender. Mit dem Verein habe ich in Deutschland und in Europa rechtspolitische Arbeit gemacht. Neben dem RAV engagierte ich mich bei den Europäischen Demokratischen Anwälten.[17] Meine Arbeit an den Argentinien- und Rumsfeld-Fällen war allerdings Teil meiner anwaltlichen Tätigkeit in der Kanzlei.

Stahl
Auf Initiative des argentinischen Friedensnobelpreisträgers Adolfo Pérez Esquivel und einiger Mütter von Opfern der argentinischen Militärdiktatur wurde 1998 in Nürnberg die sogenannte Koalition gegen die Straflosigkeit gegründet, die in Deutschland Prozesse gegen argentinische Militärs vorantreiben sollte. Was hat Sie dazu bewegt, sich der Koalition anzuschließen?

Kaleck
Es gab in den neunziger Jahren nicht viele Anwälte, die sich bereits mit Lateinamerika befasst hatten und die sich zudem im Strafrecht auskannten. Die Nürnberger Anwälte[18] haben den ersten Schub der Fälle bekommen.[19] In einer zweiten Serie von Fällen ging es um Kinder deutscher Juden, die auf der Grundlage einer nationalsozialistischen Unrechtsverordnung aus dem Jahre 1941 ausgebürgert worden waren.[20] Diese Kinder sind als Argentinier geboren worden. Zwar haben ihre Eltern später die deutsche Staatsbürgerschaft wieder angenommen, ihre Kinder jedoch nicht. Sie sind Opfer der argentinischen Militärdiktatur geworden. Das ist ein rechtliches Problem. Ich habe fünf Mandanten gehabt, darunter auch Ellen Marx. Sie war die wichtigste Person. Von Argentinien aus hat sie die Prozesse wegen der Junta-Verbrechen in Deutschland angeführt. Wenn ich überlege, welches die entscheidenden Begegnungen der letzten Jahre waren, dann waren das sicherlich die mit Ellen Marx und Michael Ratner.[21] Frau Marx war eine Berliner Jüdin in ihren Achtzigern, die es nach Belgrano (Buenos Aires) verschlagen hatte. Ihre Wohnung und das gesamte Interieur könnten sich genauso gut in Charlottenburg oder Prenzlauer Berg befinden. Sie selbst wirkte ebenfalls wie eine Berlinerin. Die Begegnung mit ihr war menschlich spannend und aufrührend und vor allen Dingen war sie während all der Jahre ein unglaublich wichtiger Konterpart für mich.

Wir hielten es für wichtig, nachzuforschen, ob es nicht ein Unternehmen gab, das in Menschenrechtsverletzungen unter der argentinischen Militärdiktatur verwickelt gewesen war.

Stahl
Neben den jüdischen Kindern haben Sie auch einen Fall übernommen, in dem es um die Gewerkschafter von Mercedes Benz ging.

Kaleck
Als Koalition gegen die Straflosigkeit hatten wir den Beschluss gefasst, im Namen von deutschen Geschädigten gegen argentinische Militärs vorzugehen. Das war die juristische Linie. Ich habe damals mit der mir bekannten Journalistin Gaby Weber[22] darüber gesprochen, ob nicht auch deutsche Unternehmen in Verbrechen verwickelt waren. Im Wissen, wie diese Diktatur mit nationalen und transnationalen Unternehmen zusammengearbeitet hatte, hielten wir es für wichtig, nachzuforschen, ob es nicht ein Unternehmen gab, das in Menschenrechtsverletzungen verwickelt gewesen war.[23] Im August 1999 hatte Gaby Weber den Fall von den verschwundenen Gewerkschaftern in den Mercedes Benz Werken recherchiert. Diese Klage habe ich unter dem Briefkopf des RAV eingereicht, der das alles unterstützt hat.[24]

Stahl
Hatten Sie vorher schon einmal mit Gaby Weber zusammengearbeitet?

Kaleck
Nein, ich kannte sie aber schon von meinen Reisen nach Argentinien und Uruguay.

Stahl
Mit wem außer Ellen Marx haben Sie in Argentinien noch eng zusammengearbeitet?

Kaleck
Ich habe mit vielen Menschen zusammengearbeitet: mit Anwälten, mit Menschenrechtsorganisationen, mit Künstlern, auch mit Baltasar Garzón.[25] Aber auch die Künstler, die schon zum Teil im ECCHR ausgestellt haben, kenne ich seit der Arbeit an den Argentinien-Fällen, beispielsweise den Fotografen Marcelo Brodsky.[26]

Stahl
Gab es innerhalb der Koalition gegen die Straflosigkeit Konflikte?

Kaleck
Es gibt verschiedene Interessen, verschiedene Charaktere und Kulturen. Es wird immer Konflikte geben. Ich kann mich an keinen harten Konflikt erinnern, der zum Abbruch von Beziehungen geführt hätte.

Stahl
Welche unterschiedlichen Interessen gab es innerhalb der Koalition?

Kaleck
Für mich zählt, dass wir trotz sehr unterschiedlicher Hintergründe und Charaktere die Arbeit als Koalition über eine sehr lange Zeit erhalten konnten. Wir haben das erste Mal in Deutschland diese Kooperation zwischen Juristen und Nichtjuristen organisiert. Für mich war das enorm wichtig. Ohne die Koalition hätte ich diese Fälle nicht über einen so langen Zeitraum betreiben können. Dass da mal Leute dabei waren, die politisch anderer Meinung waren und dann auch ihre Konsequenz daraus gezogen haben, das interessiert mich heute nicht mehr. Ich habe mich an mehreren Punkten durchgesetzt und habe in Fällen agiert, wo andere Leute Zweifel hatten. Das war nicht nur im Mercedes-, sondern auch im Rumsfeld-Fall so.

Die Auseinandersetzung um den Sinn einer Klage gegen den ehemaligen US-Verteidigungsminister ist dokumentiert. Ich halte dies eigentlich für die viel spannendere Diskussion. Der damalige Justiziar von Amnesty International Christopher Hall sagte 2004, wir würden einen Fehler machen und unserem Anliegen schaden. Man müsse sich an den ruandischen und jugoslawischen Fällen abarbeiten, um die internationale Strafjustiz zu stärken. Das sei ein sehr fragiles Gebilde und man riskiere, alles zu verlieren, wenn man maximale Forderungen stelle. Über diese Fragen haben wir eine öffentliche Auseinandersetzung geführt, die interessant ist, weil sie bis heute virulent ist: Darf man sich an den Großen abarbeiten, muss man sich an den Großen abarbeiten, weil das ganz System kaputt ist und es nicht nur ein Ideal bleiben darf, dass gleiches Recht für alle gilt? Irgendwann muss man damit anfangen, das umzusetzen. Muss man damit sofort anfangen oder muss man in fünf oder zehn Jahren damit anfangen, wie manche suggerieren? Das sind Konflikte, die wir bis heute austragen. Warum befasst man sich mit bestimmten Fällen und mit anderen nicht? Viele deutsche Akteure zeigen sehr schnell mit dem Finger auf Unrechtsregime in anderen Teilen der Welt und legen sich nicht unbedingt mit mächtigen Akteuren an.

Rürup
Ist das ein Konflikt, dem unterschiedliche Verständnisse von Menschenrechten zugrunde liegen und bei dem es um Güterabwägung geht?

Kaleck
Nein, das glaube ich nicht. Bei der Frage, ob man gegen Rumsfeld oder gegen den kongolesischen Polizeioffizier, der Dorfbewohner massakriert hat, vorgeht, ist in Deutschland keine Güterabwägung – in den USA schon. Dort wird von einigen die Meinung vertreten, man könne doch mal foltern, wenn die Interessen der Nation bedroht seien. In Deutschland hat das keiner zu uns gesagt. Hier werden wir mitunter gefragt: Warum beschäftigt ihr euch mit Rumsfeld und nicht mit den Massenvergewaltigungen in Sudan oder in Kongo? Es gab auch den Einwand: »Ja, das war schlimm, aber glaubt ihr nicht, dass es ein riskanter Fall ist, um eure Menschenrechtsarbeit weiterzuentwickeln? Werdet ihr nicht auf unüberwindbare Hindernisse stoßen?«

Die Frage nach unterschiedlichen Menschenrechtsbegriffen begegnet einem eher dort, wo einige die klassische Beschränkung auf bürgerliche Rechte aufrechterhalten und die wirtschaftlichen und sozialen Rechte für Programmsätze und damit für rechtlich nicht durchsetzbar halten. Wir halten das für falsch und sind der Meinung, man muss auch für Durchsetzung der letzteren Verfahren etablieren. Es handelt sich dabei um Rechte, die durch die ungerechte Weltwirtschaftsordnung massenhaft verletzt werden. Daran sind auch deutsche Akteure maßgeblich beteiligt. Es geht nicht nur darum, den russischen und weißrussischen Dissidenten zu verteidigen, sondern auch den Opfern von Massenarmut und systematischen Menschenrechtsverletzungen in anderen Teilen der Welt zu helfen, wo deutsche Akteure eine große Rolle spielen. Das ist ein Konflikt, der allerdings im Begriff ist, sich aufzulösen. Kaum jemand fordert heute noch die Beschränkung auf bürgerliche Rechte. Trotzdem ist es noch zu spüren, denn es ist ein großes Ding, gegen Wirtschaftsführer vorzugehen, die im eigenen Land eine große Bedeutung und ein gutes Renommee haben.

Indem wir die Öffentlichkeit suchen, können wir auf Debatten einwirken.

Rürup
Wie schätzen Sie das Verhalten der Politik im Fall Rumsfeld ein?

Kaleck
Der Fall Rumsfeld hat uns ja vor allem 2004 und 2006 beschäftigt.[27] Es war für uns schon etwas Besonderes, nach der Argentinienerfahrungen mit professionellen Organisationen wie dem Center for Constitutional Rights[28] und später dann mit Human Rights Watch[29] zusammenzuarbeiten und diese schier unglaubliche Menge an Fakten und die komplexen rechtlichen Probleme in den Griff zu kriegen. Es war eine praktische und organisatorische Herausforderung. Für uns war es wichtig, rechtliche Texte vorzulegen, die 2006 und danach einer juristischen Überprüfung standhalten konnten und von Experten ernst genommen wurden.[30] Das ist ein wichtiger Punkt und eine Antwort auf die Frage, wie man politische Blockaden überwindet: Die werden größer, wenn wir nicht professionell arbeiten. Deshalb übernehmen wir auch nicht Fälle, bei denen wir keine Chance sehen, mit vernünftigen juristischen Argumenten zu arbeiten oder diese mit soliden Fakten zu untermauern. Manchmal verstehen wir auch einfach zu wenig über die lokalen Verhältnisse.

Einige Menschen verstanden unseren Rumsfeld-Fall damals nicht wirklich und behaupteten, wir wollten nur in die Schlagzeilen kommen. Für uns sei es wichtig, nur kurzfristig Wirkung zu erzielen. Es geht uns aber um eine nachhaltige Wirkung und nicht ausschließlich darum, in der veröffentlichten Meinung aufzutauchen. Aber indem wir die Öffentlichkeit suchen, können wir auf Debatten einwirken. Was die politischen Hindernisse angeht, war das im Fall Rumsfeld eine spannende Sache.

Rumsfeld selbst hat unser Projekt ein Stück weit geadelt, indem er darauf reagiert hat. Im Dezember 2004 stand im Spiegel, dass die Klage ein Thema zwischen der Bundesregierung und der wiedergewählten Bush-Regierung gewesen war.[31] Im darauffolgenden Februar wird uns dann der Einstellungsbescheid zugestellt, der juristisch so angreifbar war, dass wir darauf aufbauen und es ein zweites Mal versuchen konnten. Es hieß, man müsse abwarten, was aus den Fällen Lynndie England und Charles Graner wird,[32] aus den zwölf rotten apples von der Nachtschicht in Abu Ghraib – da fänden doch Ermittlungen statt. Natürlich fanden da Ermittlungen statt. Es waren die Sündenböcke, die geopfert wurden. Gegen deren Vorgesetzte, gegen die politischen Entscheider hingegen wurde nicht ermittelt. Das wird in absehbarer Zeit auch so bleiben. Deshalb entschieden wir uns, nach einiger Zeit erneut Klage zu erheben. Diese offen politische Einflussnahme hat uns durchaus geholfen, das Projekt weiter zu betreiben.

Anders ist das im Fall Nestlé, in dem es um den im September 2005 ermordeten kolumbianischen Gewerkschafter Luciano Romero geht. 2012 erstatteten wir in der Schweiz Strafanzeige gegen Nestlé. Wer wagt es, in der Schweiz etwas gegen Nestlé zu machen? Das, was dort passiert ist, untertrifft unsere Erwartungen.

Wenn ich gefragt werde, was dieses Jahr der wütendste Moment war, dann war das nicht, als wir diesen Bescheid bekommen haben. Darüber habe ich mich auch geärgert, aber es gab noch etwas anderes: Im Nachgang zu unserer Klage meldete sich im Februar 2012 eine Schweizer Dokumentarfilm-Crew, die für das französisch-schweizerische Fernsehen einen Dokumentarfilm über den Nestlé-Fall machen will. Sie machten mich auf einen Fall in den Philippinen aufmerksam. Im gleichen Monat, als in Kolumbien Luciano Romero von Paramilitärs umgebracht wurde, wurde auch der philippinische Gewerkschafter und gefeuerte Nestlé-Angestellte Kafort in der Nähe von Manila ermordet.

Wir trafen daraufhin in Manila die Witwe von Kafort und dessen Nachfolger bei den Gewerkschaften und erfuhren, dass nichts in dem Fall geschieht. Ein aktiver Gewerkschafter war umgebracht worden, und niemand hatte auch nur ein Strafverfahren eröffnet. Die philippinische Polizei unternahm überhaupt nichts. Auf die Frage nach möglichen Verbindungen zu Nestlé erfuhren wir von unseren Gesprächspartnern von einem Geheimdienstagenten, der bei Demonstrationen immer wieder an den Streikposten zu sehen gewesen war. Mal ging er auf die Seite der Gewerkschafter, wo er sich offensichtlich mit Kafort beschäftigte und Notizen machte. Dann ging er wieder in die Reihen der Militärs und anschließend auf das Fabrikgelände von Nestlé. Offensichtlich fand da eine Interaktion statt. Aber weil niemand ermittelt hatte, ließ es sich nicht nachweisen. Man weiß ganz genau, da war etwas – das kann doch nicht sein. Da wird ein Mensch wie ein Hund abgeknallt und nichts passiert und wir selber konnten auch nichts machen. Wir haben darüber diskutiert, eine Anzeige gegen die Philippinen zu erstatten, da der Mord nicht aufgeklärt worden war. Das kann nicht sein.

Rürup
Wie kam es zu der Gründung des ECCHR?

Kaleck
Ab 2004 fuhr ich mehrmals im Jahr als Anwalt in die USA um den Rumsfeld-Fall zu übernehmen. Ich hatte schon Erfahrung aus einigen Fällen und auch meinen Verein, den RAV. In den USA beim Center for Constitutional Rights sah ich, wie so eine Arbeit auf eine professionelle Art erledigt werden kann: mit mehreren fest angestellten Anwälten, zwei älteren Anwälten, die zum Teil pro bono arbeiten, Professoren und Journalisten für Öffentlichkeitsarbeit. Ich fragte mich, warum man das nicht auch in Deutschland versuchen könne. Michael Ratner und Peter Weiß, damals Präsident und Vizepräsident vom CCR, haben mich von Anfang an als Freund behandelt und aufgenommen. Als ich noch nicht einmal wusste, dass ich eine vergleichbare Institution gründen wollte, haben sie mich überall eingeführt. Wir waren bei verschiedenen Stiftungen, bei potentiellen Geldgebern. Das hat mir geholfen. New York ist neben London ein unheimlich wichtiger Ort für diese Arbeit. Der Rumsfeld-Fall hat mir geholfen, Zugänge zu erschließen. Maßgebliche Leute in New York und London wussten nun, wer ich bin. 

Am Anfang war die Arbeit beschwerlich. 2007 haben wir das ECCHR gegründet. Ein Jahr später traten wir an die Öffentlichkeit und machten ein kleines Büro auf. Dann floss so langsam das Geld und seit Sommer 2009 haben wir ausreichend Räumlichkeiten und personelle Besetzung, sodass wir auf den Feldern Völkerstrafrecht, Wirtschaft und Menschenrechte gleichzeitig arbeiten können; zuletzt kam noch Migration dazu. Entscheidend war dabei die Inspiration und Unterstützung von Menschen wie Michael Ratner und Lotte Leicht. Mit Unterstützung meine ich jetzt nicht, dass da ein Scheck auf den Tisch gelegt wurde. Er war vielmehr Türöffner. Wir kriegen unser Geld zu einem Drittel aus Deutschland: Projektgelder, Brot für die Welt, Misereor, Amnesty International, usw. Aber sechzig Prozent stammen von großen Menschenrechtsstiftungen in der Schweiz, London oder New York.

Ein weiterer Anstoß für die Gründung des ECCHR war, dass die Arbeit als Anwalt auf Dauer aufreibend und unbefriedigend ist, wenn man sich mit sehr vielen Einzelfällen befassen muss und die Belastung einem nicht erlaubt, etwa die gesellschaftlichen Hintergründe bestimmter Probleme zu thematisieren. Man rennt immer nur den Erfordernissen des Tages hinterher. Mit dieser Art von Arbeit habe ich abgeschlossen. Ich finde sie wichtig, aber ich finde es auch wichtig, über den Einzelfall hinaus zu denken und zu agieren. Das ist nicht so einfach im Anwaltsalltag. Ich war deshalb nach 15 Jahren an einem Punkt, an dem ich mich umorientieren wollte.

Rürup
Wie muss man sich das european vorstellen, das ja im Namen Ihrer Organisation auftaucht?

Kaleck
Das european ist mehr Anspruch als bereits eingelöste Realität unserer Arbeit. Immerhin sind wir in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Italien, Frankreich, Spanien, den Niederlanden, Belgien, Großbritannien, Polen, Litauen und Griechenland aktiv geworden. Aber wir können die europäische Zivilgesellschaft auch nicht erschaffen. Es könnte mehr sein, aber wir sind ja auch eine kleine Organisation. Wir hoffen, dass unsere Netzwerke mehr zusammenwachsen.

Dieses Europa mit den noch nicht so sehr verbundenen Rechtskulturen ist auch Ausdruck einer Misere. Es ist nicht einfach, sich in diesen verschiedenen Sprachen und Rechtskulturen zurechtzufinden. Man muss auch die eigene Blockade überwinden. Durch meine und unsere zahlreichen Erfahrungen habe ich erlebt, dass es geht. Es könnte alles schneller laufen, es könnte alles besser und mehr sein, es könnte aber auch weniger sein.

Rürup
Spielte es in der Debatte eine Rolle, dass ausgerechnet Deutsche mit ihrer Vorgeschichte eine Klage gegen Rumsfeld vorgebracht haben?

Kaleck
Im Gegenteil: Michael Ratner und Peter Weiss sind beide New Yorker Juden. Wenn in unseren Diskussionen über Texte die Brücke zu Nürnberg geschlagen und Bezug auf nationalsozialistische Verbrechen genommen wird, dann bin ich immer versucht, das auszustreichen. Meine beiden Kollegen können das nicht verstehen. Sie gehen sehr offensiv und viel selbstverständlicher als die Deutschen mit solchen Bezügen um. Ich kann mich an eine Diskussion mit einer ganzen Garde an 68ern und Post-68ern über israelische Verbrechen in Palästina erinnern – alles Anwälte jüdischer Herkunft. Für meine Gesprächspartner war klar, dass man gegen Menschenrechtsverletzungen überall auf der Welt aufstehen muss. In den ersten Jahren haben wir argumentiert, man müsse in Deutschland aufpassen, dass wir nicht Unterstützung und Beifall von der falschen, der antisemitischen Seite bekommen. Ein Engagement gegen die Verbrechen in Palästina könne hier eine Konnotation bekommen, die wir nicht wollen. Jetzt arbeiten wir zu etwa vierzig Ländern und sind auf allen Kontinenten bis auf Australien aktiv gewesen. Deshalb arbeiten wir mittlerweile auch zu Kriegsverbrechen in Palästina und Israel. Es wäre aber nicht gut gewesen, diese Themen gleich zu Beginn zu bearbeiten.

Stahl
Als wir über die neunziger Jahre gesprochen haben, wurde Ihre Ambivalenz gegenüber dem Strafrecht sehr deutlich. Trotzdem bedienen Sie sich seit dem Beginn Ihrer Anwaltstätigkeit dieses Mittels.

Kaleck
In der soeben erschienen Mitgliederzeitschrift der Strafverteidigervereinigungen Freispruch habe ich mich mit diesem Problem auseinandergesetzt.[33] Ich argumentiere, dass sich in der Vergangenheit linke, progressive Juristen deshalb gegen das Strafrecht gewandt haben, weil es sich um eine der wichtigsten Konfrontationen zwischen Staat und widerständigen Bürgern handelt. Das Strafrecht wurde dazu benutzt, missliebige, dissidente und widerständige Bürger zu disziplinieren. Es wurde als soziales Repressions- und Disziplinierungsinstrument im Sinne von Foucault genutzt. Das war so eine klassische Konfrontation, an der sich unser ganzer Berufsstand abgearbeitet und entwickelt hat. Wir haben ja in Deutschland auch eine lange Tradition von Unterdrückung der Linken durch die politische Strafjustiz. Das ist die Sozialisation, aus der ich und viele andere, auch Jüngere, hervorgegangen sind. Es hat bei mir natürlich Brüche gegeben, beispielsweise die Nebenklagevertretung in diesen Rechtsradikalen-Fällen.

Vor die Frage gestellt, ob ich das Strafrecht sinnvoll finde, wenn es gegen junge Rechte geht, sage ich nein, nicht unbedingt. Der kommt in die JVA Halle und dort schließt er sich zum Lesekreis zusammen und wird auch noch ein Held, weil er einen Punker totgeschlagen hat. Nach ein paar Jahren ist er sowieso wieder frei, schlechtestenfalls als strammerer und besser organisierter Rechtsradikaler mit einer kleinen Anhängergruppe. Auf der anderen Seite war klar, dass es eine Reaktion des Staates geben musste. Keine Reaktion hieße und hat ja auch geheißen, den Rechtsradikalismus zu tolerieren und das Wachsen dieser neonazistischen Gruppen und Strukturen zuzulassen. Es war klar, dass man sich dem auf verschiedenste Art widersetzen muss. Ähnlich ist es bei sexueller Gewalt gegen Frauen. Dort treffen sich kreuzende Benachteiligungslinien aufeinander.

Ich habe mir meine skeptische Sicht des Strafrechts bewahrt. Allerdings ist es eine Sicht, die in der alten Bundesrepublik der achtziger Jahre ausgehend von der 68er Kritik entwickelt wurde und inspiriert war von einer Skepsis gegenüber dem Staat, die angesichts der Geschichte in Deutschland eine gewisse Berechtigung hatte. Das war vielleicht auch ein Nachklang von 1933 bis 1945. Dadurch hat man sich eine gewisse Staatsferne bewahrt. Es ist hier nicht so wie in Frankreich, dass die Linke einen viel positiveren Bezug zum Staat hat. Dort herrscht ein anderes Staatsverständnis. Wenn man dann wiederum in anderen Teilen der Welt unterwegs ist, dann ist das, was wir hier bei aller Kritik demokratischer und rechtsstaatlicher Staatlichkeit haben, allerdings ein immenser geschichtlicher Fortschritt.

Ich habe jedoch in Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen erfahren, dass es auch hier sehr schnell sehr viel schlechter werden kann, als ich es mir für dieses Land überhaupt hätte vorstellen können. Sehr viel schlechter gilt noch viel mehr für Argentinien und Kolumbien und es gilt erst recht, wenn ich in den Kongo oder den Sudan schaue. Ich habe ein pragmatischeres Verhältnis zum Staat, zum Recht und zum Strafrecht gewonnen. Pragmatisch heißt, ich denke schon, dass es in bestimmten historischen Situationen eher etwas Fortschrittliches ist, aber ich denke auch, man muss kontinuierlich Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und soziale Gerechtigkeit nicht nur in Deutschland, sondern global weiterentwickeln.

Stahl
Was wären aus Ihrer heutigen Sicht die gravierendsten Rückschläge?

Kaleck
Da fällt mir heute gar keiner ein (lange Pause). Die Geschichte ist ja noch nicht zu Ende. In Argentinien fanden die Verbrechen vor allem 1976/77 statt, 1985 gab es einen Prozess, anschließend die Amnestien; 1998/99 haben wir in Deutschland die Klagen eingebracht und die Wiederaufnahme der Strafverfahren in Argentinien begann schließlich 2006, dreißig Jahre nach den Verbrechen. 1999 begann ich am Mercedes-Fall zu arbeiten. Ich habe mehrere Zyklen erlebt. Ich habe ja nicht mit Kongo oder noch schlimmeren Ländern angefangen, sondern ich habe ein positives Beispiel erlebt. Es gibt Entscheidungen, die mich an dem Tag, an dem sie eintreffen, enorm ärgern und enttäuschen. Man fragt sich dann, wer eigentlich so entscheiden kann und ob wir tatsächlich alles getan haben, was wir hätten tun können. Manchmal könnte man mehr Unterstützung gebrauchen. Dann versuchen wir, das abzuschütteln und weiterzumachen.

Unser Leitgedanke ist, man sieht sich nicht nur einmal im Leben. Beim Rumsfeld-Fall habe ich mich nicht über die Entscheidung gefreut, dass nicht ermittelt wird. Aber mein Gefühl war nie, das ist das Ende der Geschichte. Da denke ich nicht nur an mich oder an uns, sondern ich hoffe, dass das, was wir machen, irgendwelche Leuten anderswo aufgreifen.. Ich glaube, das ist ein geschichtlicher Prozess. Wir haben die Fakten einmal umfassend aufgearbeitet und juristische Gedanken in die Welt gesetzt. Es ist nicht das herausgekommen, was wir uns davon erhofft haben, aber es ist jetzt nicht mehr wegzudenken. Der Rumsfeld-Fall ist nicht mehr wegzudenken und auch nicht die Nestlé-Anzeige. Ich bin schon Realist, aber gleichzeitig hoffe ich darauf, dass es weitergeht, dass es eine Entwicklung in eine positive Richtung gibt.

Stahl
Wie bewerten Sie die Entwicklung, wenn Sie den Anfangspunkt Ihrer Auseinandersetzung mit dem Weltrechtsprinzip Ende der neunziger Jahre sehen und das mit dem Stand heute vergleichen?

Kaleck
Das kommt immer auf die Perspektive an. Es hat sich einerseits eine Menge getan, das Weltrechtsprinzip ist in allen europäischen Ländern etabliert. Es gibt eine ganze Reihe von kleineren Fällen, es gibt überall Justizeinheiten, die mit dem Weltrechtsprinzip arbeiten. Es werden viele Verfahren in Chile und Argentinien geführt, wo im Anschluss an die Pinochet-Verhaftung etwas begonnen hat, was nicht mehr einzufangen ist. Es handelt sich nicht nur zahlenmäßig um die beiden im Verhältnis zur Bevölkerung größten Aufarbeitungsprozesse in der Geschichte. Die Prozesse dort haben auf ganz Lateinamerika eine Ausstrahlung gehabt. Alberto Fujimori ist in Peru verurteilt worden,[34] in Kolumbien gibt es Gerichtsverfahren,[35] in Uruguay ist Juan María Bordaberry[36] und in Guatemala Ríos Montt verurteilt worden,[37] obwohl das niemand geglaubt hätte, und in Haiti ist gegen Jean-Claude Duvalier ein Verfahren in Gang gekommen[38] – das ist doch eine verdammte Menge.

Man kann jedoch auch das Aber betonen. Denn in Afrika sieht das schon wesentlich schlechter aus als in Lateinamerika. Außerdem haben wir es nicht erreicht, die großen und mächtigen Nationen zur Rechenschaft zu ziehen. Das sind nicht nur die US-Amerikaner, sondern auch die Russen wegen der Verbrechen in Tschetschenien. Dann kommt aber gleich wieder der Einwand, die Russen haben sich wegen Tschetschenien serienweisen Verurteilungen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingefangen. Ist das gar nichts? Nein, das ist eine verdammte Menge, der russische Staat musste mehrfach Entschädigungen bezahlen und sie sind auch nicht aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ausgetreten. Das ist eine spannende Geschichte, eine gute Basis, aber nicht hinreichend.

In den USA ist es das Gleiche: Wer hätte sich dort vor ein paar Jahren vorstellen können, dass es hier in Europa Haftbefehle gegen fünfzehn bis zwanzig CIA-Leute geben würde, dass in Italien Agenten verurteilt wurden, dass wegen der Entführung von El-Masri viele Geheimdienstmitarbeiter nicht mehr nach Europa fahren (können)?[39] Wir gehen von 500 CIA-Mitarbeitern aus, denen im Moment empfohlen wird, nicht mehr nach Europa zu kommen.

Ist das gar nichts? Es ist zu wenig und wenn in zehn Jahren nicht mehr dazu kommt, fände ich es schade. Aber es ist eine mit Rückschlägen versehene Entwicklung in die richtige Richtung, die wir ernsthaft weiterbetreiben müssen. Man muss dabei ein Verständnis für langfristige Prozesse entwickeln. Wenn ich denen, die uns mediale Effekthascherei vorwerfen, erkläre, dass es uns darum geht, etwas in die Welt zu setzen, womit andere Leute arbeiten und worauf sie aufbauen können, dann kriege ich häufig zu hören: »Was interessiert es uns, wenn in fünf Jahren etwas passiert.« Eine gewisse Geduld muss man haben, weil dicke Bretter zu bohren sind. Man muss dabei allerdings wissen, welche Risiken bei dieser Arbeit bestehen. Das betrifft weniger Deutschland, aber sehr wohl andere Länder, wo die Spielräume für Menschenrechtsaktivistinnen immer kleiner und die die Risiken für die Einzelnen immer größer werden. Das ist auf jeden Fall bei unserer Arbeit oft ein Hindernis.

Zitation

Lebensgeschichtliches Interview mit Wolfgang Kaleck, 15.10.2013, in: Quellen zur Geschichte der Menschenrechte, herausgegeben vom Arbeitskreis Menschenrechte im 20. Jahrhundert, URL: www.geschichte-menschenrechte.de/wolfgang-kaleck/

  1. Für eine ausführliche Darstellung siehe Wolfgang Kaleck: Mit Recht gegen Macht. Unser weltweiter Kampf für die Menschenrechte, Berlin 2015.
  2. Franz Josef Strauss (1915-1988), 1961-1988 CSU-Vorsitzender, während der sechziger Jahre Verteidigungsminister (1956-1962) und Bundesfinanzminister (1966-1969).
  3. Georg Kiesinger (1904-1988), 1966-1969 Bundeskanzler, 1966-1971 CDU-Vorsitzender.
  4. Bernt Engelmann (1921-1994) gehörte während des Zweiten Weltkrieges einer Widerstandsgruppe an und wurde in den Konzentrationslagern Flossenbürg und Dachau interniert. Nach dem Krieg arbeitete er als Journalist unter anderem für den Spiegel und den NDR, ab 1962 auch als freier Schriftsteller.
  5. Josef Isensee (*1937), 1975-2002 Professor für Öffentliches Recht an der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.
  6. Fritz Ossenbühl (* 1934) Direktor der Abteilung Staatsrecht am Institut für Öffentliches Recht an der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.
  7. Otto Palandt (1877-1951), 1934-1942 Präsident des Reichsjustizprüfungsamts, danach im Ruhestand, nach 1945 Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg.
  8. Eduard Dreher (1907-1996), 1943-1945 Erster Staatsanwalt am Sondergericht Innsbruck, 1951-1969 Mitarbeiter im Bundesjustizministerium, unter anderem als Leiter des Referates für Sachliches Strafrecht.
  9. Theodor Maunz (1901-1993), 1937-1945 Professor für Recht an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, wo er über die Rolle der Polizei im NS-Staat publizierte. 1952-1969 Professor für Öffentliches Recht an der Ludwig-Maximilians-Universität München, 1957-1964 bayerischer Kultusminister.
  10. Die Comisión de Derechos Humanos de Guatemala nahm ihre Arbeit Ende 1981 in Mexiko-Stadt auf. Vom Exil aus sammelte sie Informationen über das Ausmaß der Repression der Militärdiktatur, die seit den fünfziger Jahren das Land beherrschte. Erst 1995 verlegte sie ihren Hauptsitz nach Guatemala-Stadt.
  11. Die Organisation wurde 1988 mit dem Ziel gegründet, die Vertretung der Interessen der von Repression betroffenen Familien zu bündeln. Dabei ging es vor allem darum, die gesundheitliche Versorgung, Ernährung und den Zugang zu Bildung zu verbessern.
  12. Rosalina Tuyuc (*1956), Gründerin und erste Präsidentin der CONAVIGUA. Ihr Vater war 1982, ihr Ehemann 1985 von den Militärs ermordet worden.
  13. In dem Verfahren Anfang der neunziger Jahre ging es um die Entschädigung für finanzielle Einbußen, die Robert Havemann nach seiner Entlassung von der Humboldt-Universität 1964 hatte hinnehmen müssen.
  14. Im Mai 1992 wurde eine Gruppe von Punkern, die vor dem Lokal »Elbterrassen« feierte, von 60 Skinheads angegriffen. In den anschließenden Prozessen mussten sich insgesamt 18 Jugendliche vor dem Landgericht Magdeburg verantworten.
  15. Im August 1992 griffen Neonazis unter dem Applaus von Anwohnern die Bewohner des Asylbewerberheims in Rostock-Lichtenhagen mit Molotowcocktails an.
  16. Der 1979 gegründete Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein e.V. verfolgt das Ziel »Bürger- und Menschenrechte gegenüber staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Machtansprüchen zu verteidigen«.
  17. 1988 gründete der RAV zusammen mit anderen europäischen Anwaltsvereinigungen die EDA als Dachverband.
  18. Wolfgang Wiesheier (Fürth) und Claus Richter (Nürnberg).
  19. Die ersten vier Anzeigen, die 1998 erstattet wurden und für die die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth die Zuständigkeit erhielt, richteten sich gegen Militärs, die an der Ermordung deutscher Staatsbürger in Argentinien beteiligt gewesen sein sollten. Für dieses Vorgehen hatten sich die Mitglieder der Koalition gegen die Straflosigkeit entschieden, da das deutsche Strafrecht vor 2002 nur sehr eingeschränkt auf Menschenrechtsverletzungen angewendet werden konnte, die im Ausland begangen worden waren. 2001 erließ das Amtsgericht Nürnberg die ersten Haftbefehle, die sich gegen drei Militärs richteten. Es folgten weitere Haftbefehle und mehrere Auslieferungsbegehren, die jedoch alle von Argentinien abgelehnt wurden.
  20. Diese Anzeige wurde im Juni 1999 erstattet. 2004 stellte die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth die Ermittlungen ein, da sie sich nicht für zuständig hielt.
  21. Michael Ratner (*1943) lehrte seit den siebziger Jahren Recht an der Columbia Law School und an der Yale Law School. Seit den sechziger Jahren gehörte er der amerikanischen Bürger- und Menschenrechtsorganisation Center for Constitutional Rights an, dessen Vorsitz er in den neunziger Jahren übernahm und bis 2007 innehatte.
  22. Gaby Weber (* 1954), deutsche Publizisten, die sich mit Lateinamerika und den deutsch-lateinamerikanischen Beziehungen beschäftigt. Seit den achtziger Jahren lebt sie in Südamerika (Montevideo und Buenos Aires) und arbeitet vornehmlich für die ARD und ihre Rundfunk-Anstalten.
  23. Vgl. Wolfgang Kaleck, Miriam Saage-Maaß: Unternehmen vor Gericht. Globale Kämpfe für Menschenrechte. Berlin 2016.
  24. Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth stellte das Verfahren im November 2003 ein, da einige Zeugenaussagen als nicht glaubhaft eingeschätzt wurden.
  25. Baltasar Garzón (*1955), 1988-2010 Richter an der Audiencia Nacional in Madrid. In dieser Funktion führte in den neunziger Jahren eine Reihe von Verfahren gegen Personen, die an den Verbrechen der Militärjuntas in Argentinien und Chile beteiligt gewesen waren.
  26. Marcelo Brodsky (*1954) ist ein argentinischer Fotograf, dessen Bruder von den argentinischen Militärs ermordet worden war. In seinen Werken setzt er sich mit der Junta-Vergangenheit seines Landes auseinander.
  27. Im November 2004 reichte Wolfgang Kaleck im Namen des Center for Constitutional Rights (siehe Anmerkung 26) sowie vier irakischer Opfer in Deutschland Strafanzeige ein, die sich gegen den damaligen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, den ehemaligen CIA-Direktor George Tenet sowie einige ranghohe Militärs richtete. Ihnen wurde vorgeworfen, für die Gefangenenmisshandlungen in Guantánamo und Abu Ghraib verantwortlich gewesen zu sein und somit gegen die UN-Antifolterkonvention und das deutsche Völkerstrafgesetzbuch verstoßen zu haben. Grund für die Strafanzeige waren fehlende Ermittlungen durch die USA und drohende Straffreiheit der Hauptverantwortlichen. Bei schweren Verbrechen der Kategorie Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, bei Folter und Verschwindenlassen von Personen sieht das Völkerrecht die Möglichkeit vor, dass Drittländer, die nicht direkt etwas mit den Taten zu tun haben, Ermittlungen aufnehmen und Anklage erheben können. Im Februar 2005 entschied der Generalbundesanwalt, keine Ermittlungen aufzunehmen, da den USA nicht fehlender Ermittlungswille nachgewiesen werden könne. Im November 2006 reichte Kaleck eine weitere Klage ein, die weiteres Beweismaterial enthielt und sich nun auch gegen einige Rechtsberater der Bush-Administration richtete. In der Anklageschrift wurde argumentiert, dass immer noch keine Ermittlungsverfahren in den USA eingeleitet worden seien. Die Generalbundesanwaltschaft lehnte die Aufnahme von Ermittlungen erneut ab, da der Aufenthalt der Verdächtigen in der Bundesrepublik nicht zu erwarten sei. Im Dezember 2014 reichte das ECCHR erneut Strafanzeige gegen Rumsfeld, Tenet und andere ein und wirf ihnen darin Kriegsverbrechen der Folter nach § 8 Abs. 1 Nr. 3 Völkerstrafgesetzbuch vor. Diese Strafanzeige ist inzwischen Teil des Beobachtungsvorgangs, den der Generalbundesanwalt zu dem Tatkomplex angelegt hat. Dieser ermöglicht den deutschen Behörden, Informationen zu sammeln und auszuwerten, um anschließend in ein formelles Ermittlungsverfahren einzusteigen und Beweismittel zu sichern.
  28.  US-amerikanische Bürger- und Menschenrechtsorganisation.
  29.  Internationale Menschenrechtsorganisation.
  30. Die Klageschrift wurde von mehreren Rechtswissenschaftlern aus verschiedenen Ländern begutachtet, die ein Verfahren in Deutschland für rechtlich möglich erklärten.
  31. Spiegel 52/2004.
  32. Ein amerikanisches Militärgericht führte zwischen 2004 und 2005 gegen 15 Angehörige des Wachpersonals von Abu Ghraib Ermittlungen durch. Der als Rädelsführer geltende Charles Graner erhielt eine Haftstrafe von zehn Jahren, die aufgrund mehrerer kompromittierender Fotos prominente Lynndie England wurde zu drei Jahren verurteilt. Alle weiteren Angeklagten erhielten kürzere Haft- oder Geldstrafen oder wurden degradiert.
  33. Wolfgang Kaleck: Vom Sinn und Unsinn des Völkerstrafrechts, in: Freispruch 8/2013, S. 1-3.
  34. Alberto Fujimori (*1938), 1990-2000 peruanischer Präsident. 2009 wurde er wegen des Einsatzes von Todesschwadronen zu 25 Jahren Haft verurteilt.
  35. 2011 wurden zwei ranghohe Militärs in Kolumbien verurteilt wegen der Weitergabe von Namenslisten von Aktivisten und Gewerkschaftern an Todesschwadronen beziehungsweise wegen der Ermordung von Zivilisten, um den body count der Truppen im Kampf gegen die Guerilla zu erhöhen. Ein weiterer Militär wurde im selben Jahr wegen der Beteiligung am Verschwinden und Tod von elf Personen angeklagt.
  36. Juan María Bordaberry (1928-2011), 1972-1976 uruguayischer Präsident. 2010 wurde er wegen Verfassungsbruch und der Einführung einer zivil-militärischen Diktatur zu 30 Jahren Haft verurteilt.
  37. Efraín Ríos Montt (*1926), 1982-1983 Präsident Guatemalas. 2012 verurteilte ihn ein Gericht wegen Völkermords und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 80 Jahren Haft.
  38. Jean-Claude Duvalier (1951-2014), 1971-1986 Präsident Haitis. 2011 bis zu seinem Tod wurde gegen ihn wegen Korruption, Veruntreuung und Diebstahl ermittelt, allerdings nicht wegen der unter seiner Präsidentschaft begangenen Menschenrechtsverletzungen.
  39. Das Amtsgericht München erließ 2007 Haftbefehle gegen 13 CIA-Mitarbeiter wegen der Entführung Khaled El Masris. Der Deutsche war 2003 an der Grenze zwischen Serbien und Mazedonien entführt worden. Vier Monate wurde er in geheimen Verhörzentren der CIA wegen möglicher Mitgliedschaft in einer Terrorzelle vernommen und dabei auch misshandelt. 2004 kehrte er nach Deutschland zurück. Auch in Spanien wurden 2009 Haftbefehle gegen die an der Entführung beteiligten Agenten erlassen. Die Mailänder Justiz erließ 2008 Haftbefehle gegen 13 CIA-Agenten, denen vorgeworfen wird, Hassan Mustafa Osama Nasr wegen Terrorismus-Verdachts in Mailand entführt und nach Ägypten verschleppt zu haben. Die Anklage wurde später erweitert und im November 2009 verurteilte das Mailänder Gericht 22 CIA-Agenten und einen Angehörigen der US Air Force in Abwesenheit zu hohen Haftstrafen.