Bereits wenige Monate nach der Rückkehr zur Demokratie setzte Chiles neugewählter Präsident Patricio Aylwin Mitte 1990 eine Wahrheits- und Versöhnungskommission ein. Sie sollte die zwischen 1973 und 1989 begangenen politischen Morde und den Verbleib von Verschwundenen aufklären. Die Forderung, die »Wahrheit« über das Schicksal der Diktatur-Opfer öffentlich zu machen – seit den siebziger Jahren das Kernanliegen südamerikanischer Dissidenten –, hatte bereits in Bolivien und Argentinien zur Einsetzung von Kommissionen geführt. Neu war, dass die chilenische Kommission nicht nur die Aufklärung der »Wahrheit« als Ziel definierte, sondern auch die »nationale Versöhnung«: Mithilfe einer »offiziellen Wahrheit« sollte die Spaltung der Gesellschaft in zwei Lager mit jeweils unterschiedlichen Deutungen der Vergangenheit überwunden werden. Die Idee, dass die Aufdeckung der »Wahrheit« dazu beitragen könne, eine Gesellschaft zu »versöhnen«, wurde zur Grundüberzeugung der Transitional Justice Bewegung, die seit Mitte der neunziger Jahre in zahlreichen sogenannten Postkonflikt-Gesellschaften für die Einsetzung von Wahrheitskommissionen zur Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen warb.
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Einleitung zum Bericht der Nationalen Wahrheits- und Versöhnungskommission ChilesIm Oktober 1988 stimmten nach 15 Jahren der Diktatur 55 Prozent der Chilenen gegen die erneute Ernennung eines Präsidenten durch die Militärjunta. Das Plebiszit war in der unter Augusto Pinochet 1980 verabschiedeten Verfassung vorgesehen, allerdings hatte niemand in der Junta mit einem Nein des Volkes gerechnet. In den ein Jahr später stattfindenden Präsidentschaftswahlen gewann mit Patricio Aylwin der Kandidat des Bündnisses demokratischer Parteien, dem die ehemals oppositionellen Sozialisten und Christdemokraten angehörten. Doch der Gestaltungsspielraum der gewählten Regierung hatte deutliche Grenzen: Im Senat hatte das diktaturnahe rechte Parteienspektrum, das rund 39 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte, dank einer entsprechenden Regelung der Verfassung eine Mehrheit der Sitze und konnte somit alle Gesetze blockieren. Zudem änderte sich bei den Streitkräften personell kaum etwas. Nicht nur blieb Pinochet Oberbefehlshaber des Heeres; das Militär und die ihm nahestehenden Parteien verfügten nach wie vor über beträchtliche Interventionsmöglichkeiten und einen nicht zu ignorierenden gesellschaftlichen Rückhalt.
Die neue Regierung sah in dieser Konstellation eine ernst zu nehmende Gefahr. Drei Jahre zuvor hatten in Argentinien mehrere Hundert Angehörige des Militärs – meist mittlere Dienstgrade – den Aufstand geprobt und gefordert, die ständig wachsende Zahl von Verfahren gegen Angehörige der Streitkräfte wegen der Beteiligung an Junta-Verbrechen einzustellen. Die Regierung Aylwin befürchtete, etwas Ähnliches könnte auch in Chile passieren und die Demokratisierung des Landes beenden. Deshalb entschied sie sich für eine Politik des Konsenses: Wichtige Fragen verhandelte sie mit den Streitkräften und Oppositionsparteien jenseits der Öffentlichkeit. Die Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen der Diktatur-Periode – ein Thema, das der Präsident in seiner Antrittsrede zu den Prioritäten seiner Regierung gezählt hatte – war ein besonders heikles Thema: Eine strafrechtliche Ahndung der Verbrechen, wie sie die Opfer und ihre Angehörigen und Menschenrechtsorganisationen forderten, wäre den Streitkräften nicht zu vermitteln gewesen. Zudem waren die Gerichte nach wie vor mit Richtern besetzt, die in der Zeit der Diktatur installiert worden waren. Noch nach dem Plebiszit hatte Pinochet eine Reihe von Richtern für die Corte Suprema ernannt, um dort eine Mehrheit der ihm geneigten Richter auf Jahre hinaus sicher zu stellen.[1]
Nach zahlreichen Gesprächen mit Freunden, aber auch mit politischen Gegnern, entschied sich Aylwin, eine Kommission aus Personen des öffentlichen Lebens einzusetzen, die die Verbrechen der Junta-Jahre dokumentieren sollte. Ein Konzept, das seiner Konsenspolitik entsprach, lag bereits vor: Wenige Monate zuvor hatte die Comisión Chilena de Derechos Humanos, die den Präsidenten maßgeblich in vergangenheitspolitischen Fragen beriet, ein Memorandum für empfehlenswert befunden, das Vorschläge für eine Kommission machte. Das Papier stammte von José Zalaquett. Er gehörte zu jenen Juristen, die sich nach dem Putsch von 1973 dafür eingesetzt hatten, das Schicksal der Verschwundenen aufzuklären. Schließlich war er selber verhaftet und 1976 des Landes verwiesen worden. Von 1979 bis 1982 war er Vorsitzender des internationalen Exekutivkomitees von Amnesty International gewesen.[2]
Bereits auf einer 1988 in den USA stattfindenden Konferenz über staatliche Gewaltverbrechen hatte Zalaquett einen Vortrag über Prinzipien und politische Grenzen in der Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen gehalten. Die damals von ihm entwickelten Vorschläge nahmen das meiste von dem vorweg, was später in der chilenischen Wahrheits- und Versöhnungskommission umgesetzt werden sollte. Sein Ausgangsgedanke war, dass sich die Menschenrechtsbewegung angesichts der überall einsetzenden Demokratisierungsprozesse nicht mehr allein auf die Anprangerung von Menschenrechtsverletzungen beschränken dürfe, sondern politische Verantwortung übernehmen müsse. Oberstes Ziel sei es, die Wiederholung des Vergangenen vorzubeugen und den entstandenen Schaden so gut wie eben möglich zu beheben. Allerdings sei dies nur möglich, wenn die ganze Gesellschaft die uneingeschränkte Wahrheit erfahre.[3]
Die Forderung, die »Wahrheit« über die Menschenrechtsverletzungen unter den Diktaturen bekannt zu machen, gehörte zu den wichtigsten Anliegen der südamerikanischen Regimegegner. Die Konjunktur der Menschenrechte seit den siebziger Jahren hatte jenen Dissidenten Auftrieb gegeben, deren Widerstand nicht im gewaltsamen Kampf bestand, sondern in der Aufklärung über die Verbrechen der Juntas. Angesichts deren Methode, die Opfer der Gewalt klammheimlich verschwinden zu lassen, konzentrierte sich ein großer Teil des Aktivismus der Oppositionellen darauf, Auskunft über das Schicksal von Verschwundenen einzufordern. Wurde das Recht auf Wahrheit zunächst als ein Recht der Familien verstanden, Aufklärung über den Verbleib ihrer Angehörigen zu erhalten, so kam es im Zuge der in den achtziger Jahren einsetzenden Demokratisierungsprozesse zu jener Erweiterung des Konzepts, die sich auch bei Zalaquett beobachten lässt: Immer häufiger wurde im öffentlichen Diskurs betont, dass die Gesellschaft als Ganze die Wahrheit über die Junta-Verbrechen erfahren müsse.[4] »Jede Gesellschaft hat das unveräußerliche Recht, die Wahrheit über die zurückliegenden Ereignisse zu erfahren«,[5] hieß es beispielsweise in einem Bericht der Interamerikanischen Menschenrechtskommission, einem Organ der Organisation Amerikanischer Staaten, das seit 1959 über die Einhaltung der Amerikanischen Erklärung der Menschenrechte wachte.
Doch seit Mitte der achtziger Jahre zeigte sich immer deutlicher, dass eine öffentliche Debatte über die »Wahrheit« problematisch sein konnte. Nicht zuletzt der Bericht der argentinischen CONADEP – einer Kommission, die das Schicksal der Verschwundenen dokumentieren sollte – hatte dafür gesorgt, dass die Zahl der Anzeigen gegen Militärs sprunghaft angestiegen war. Die Streitkräfte drohten, der gesellschaftliche Friede stehe auf dem Spiel, und stellten dem Kommissionsbericht ihre eigene Wahrheit entgegen: Argentinien habe sich im Bürgerkrieg befunden und sei durch die Streitkräfte gerettet worden. Der argentinische Präsident Raúl Alfonsín, der sich stets für eine strafrechtliche Aufarbeitung der Verbrechen ausgesprochen hatte, versuchte zu beschwichtigen. Auch wenn ein Schlussstrich der Strafverfolgung per Dekret nicht infrage komme, sei eine »endgültige Versöhnung aller Argentinier« dringend notwendig.
Der Topos einer nationalen Versöhnung gehörte bereits seit einiger Zeit zum diskursiven Instrumentarium der Militärs, mit dem sie sich gegen eine Aufklärung der Vergangenheit zur Wehr setzten. Erstmals war er in Südamerika von einer uruguayischen Kommission verbreitet worden, die 1983 noch unter der Militärregierung ein Dokument mit dem Titel »Amnestie und nationale Versöhnung« veröffentlicht hatte. Darin wurde für einen Schlussstrich unter die unmittelbare Vergangenheit plädiert – so, wie es in Spanien einige Jahre zuvor geschehen war, wo auf der Grundlage des Versöhnungsdiskurses eine Amnestie ausgehandelt worden war. Angesichts der Drohgebärden lateinamerikanischer Militärs in Reaktion auf erste Ahndungsbemühungen fand die Versöhnungsrhetorik Mitte der achtziger Jahre auf dem ganzen Kontinent Verbreitung. Dazu trug nicht zuletzt die katholische Kirche bei, die den Diskurs religiös auflud. Besonders eindrücklich konnte das 1987 beim Lateinamerika-Besuch von Papst Johannes Paul II beobachtet werden. Selbst die Interamerikanische Menschenrechtskommission, die sich stets für eine Strafverfolgung eingesetzt hatte, erklärte, die »Notwendigkeit einer nationalen Versöhnung und sozialer Befriedung müsse mit dem unvermeidlichen Bedürfnis nach Wahrheit und Gerechtigkeit in Einklang gebracht werden«.[6] Alfonsín nutzte die Versöhnungsrhetorik nicht viel, wie die Militärrebellion im April 1987 zeigte. Zwar gelang es der Regierung, die Aufständischen zur Aufgabe zu überreden, trotzdem intensivierte sie nun ihre Bemühungen, einen Schlussstrich unter die strafrechtliche Ahndung zu ziehen.[7]
Ende der achtziger Jahre war von der zu Anfang des Jahrzehnts unter Menschenrechtlern und ehemaligen Dissidenten verbreiteten Hoffnung, in Lateinamerika könnten die Diktatur-Verbrechen umfassend strafrechtlich aufgearbeitet werden, nicht viel übrig geblieben. Für einige Menschenrechtsorganisationen waren die zahlreichen Widerstände auf nationaler Ebene Anlass, ihr Engagement für einen internationalen Strafgerichtshof zu intensivieren, um auf diese Weise die Frage der Ahndung von Menschenrechtsverletzungen dem Einflussbereich lokaler Interessengruppen zu entziehen.[8]
José Zalaquett, der sich für das Völkerrecht nicht als ein zu entwickelndes Instrument, sondern lediglich als etabliertes Normengefüge interessierte, schlug eine andere Lösung vor. Er versuchte 1988, die Forderungen der Menschenrechtsbewegung und ehemaliger Regimegegner mit den Argumenten der immer zahlreicher werdenden Aufarbeitungsskeptiker zu versöhnen: Wenn es das oberste Ziel jedes Demokratisierungsprozesses sei, eine Wiederholung der Verbrechen zu verhindern, dann müsse man sich fragen, ob von einer Regierung die uneingeschränkte strafrechtliche Aufklärung der Verbrechen gefordert werden dürfe, solange dies ihren Bestand gefährde. Es gelte, abzuwägen, inwiefern vergangenheitspolitische Instrumente wie Strafverfolgung, Amnestien und Wiedergutmachungszahlungen umgesetzt werden könnten. Alle Maßnahmen müssten darauf zielen, eine »nationale Versöhnung« zu erreichen. Das heiße allerdings nicht, Abstriche bei der Aufklärung der Wahrheit zu machen. Um eine Wiederholung der Verbrechen verhindern zu können, müsse man erst wissen, was passiert sei. Dazu könne es unter Umständen hilfreich sein, über Amnestien für jene Täter nachzudenken, die bei der Aufklärung der Wahrheit kooperierten. Auf jeden Fall aber dürfe nicht der Fehler gemacht werden, durch eine rigorose strafrechtliche Ahndung der Verbrechen die Rekonstruktion des Geschehenen zu erschweren. Den Fehler der Regierung Alfonsín sah er deshalb auch nicht darin, dass sie Amnestien gewährt hatte, sondern darin, dass diese erst unter dem Druck der Militärs zustande gekommen waren und somit nicht dazu beigetragen hätten, die ganze Wahrheit ans Licht zu bringen.[9]
Diese Ideen fügten sich problemlos in die Strategie der neugewählten chilenischen Regierung, die sich ebenfalls die Versöhnungsrhetorik zu eigen gemacht hatte. Präsident Aylwin und seine Vertrauten luden Zalaquett deshalb in den Regierungssitz ein, damit er ihnen sein Konzept einer Wahrheitskommission näher erläutere; er war dann auch der erste, der als Mitglied der zu gründenden Kommission angefragt wurde.[10] Die Auswahl der weiteren Mitglieder entsprach Zalaquetts Vorstellung von Überparteilichkeit: Als Vorsitzenden berief Aylwin Raúl Rettig, einen Politveteranen, der als einer der führenden Köpfe der ehemals einflussreichen Radikalen Partei in der Zeit vor der Diktatur an der Bildung zahlreicher politischer Bündnisse mit ganz unterschiedlichen Partnern maßgeblich beteiligt gewesen war. Er war bekannt dafür, nicht nur zu Salvador Allende ein gutes Verhältnis gepflegt zu haben, sondern auch zu Vertretern der Militärjunta.[11] Weitere Mitglieder waren der unter der Junta exilierte Menschenrechtler Jaime Castillo Velasco, aber auch Gonzalo Vial Correa, ein nationalkonservativer Historiker, der im Auftrag der Junta an einem offiziellen Bericht zur Legitimierung des Putsches von 1973 mitgearbeitet hatte, später zum Erziehungsminister berufen worden war, bevor er aufgrund des Verdachts auf Freimaurerei zurücktreten musste.[12]
Der Kommissionsbericht sollte unverkennbar Zalaquetts Handschrift tragen. Schon das Regierungsdekret, in dem die Regierung den Auftrag der Kommission formulierte, griff seine Kerngedanken und einige seiner Forderungen auf: Ziel des Kommissionsberichts sei es, eine »offizielle Wahrheit« über die Verbrechen zur Zeit der Militärdiktatur zu etablieren und auf diese Weise den Weg für eine »nationale Versöhnung« zu ebnen. Die Kommission solle sich dabei ausschließlich mit den »besonders schweren Menschenrechtsverletzungen« befassen und auch die Morde der Regimegegner in den Blick nehmen.
Diese von ihm selbst vorgeschlagenen Vorgaben des Regierungsdekrets erläutert und begründet Zalaquett zusammen mit den anderen Kommissionsmitgliedern im ersten von vier Teilen des Berichts, der drei Bände und rund zweitausend Seiten umfasst. Später sollte vor allem die Konzentration auf »besonders schwere« Verstöße gegen die Menschenrechte und die Berücksichtigung der Morde von Regimegegnern als Einknicken gegenüber den konservativen Kräften gedeutet werden. Doch waren dies nicht verhandelte politische Kompromisse, sondern vorweggenommene Zugeständnisse – formuliert von einem Dissidenten in den Jahren seines Exils und dankbar aufgegriffen von der ersten demokratisch gewählten Regierung. Dass allerdings auch die Namen der Täter nicht im Bericht genannt wurden, war Ergebnis einer heftigen kommissionsinternen Debatte. Noch 1988 hatte Zalaquett gefordert, alle Namen von Tätern müssten genannt werden.[13] Die Regierung Aylwin wollte dies jedoch vermeiden. In der Kommission kam es daraufhin zu einer langen, heftigen Debatte, an deren Ende man sich entschied, diesem Wunsch nachzukommen. Zalaquett machte sich nun den Standpunkt zu eigen, dass Namen nur in Gerichtsverfahren genannt werden dürften.[14]
Im zweiten und dritten Teil des Berichts unternimmt die Kommission den Versuch, eine offizielle Version der Geschichte der Militärdiktatur zu entwickeln. Dabei verbindet sie die Analyse institutioneller Rahmenbedingungen mit der Aufklärung einzelner Schicksale: Sie nimmt das Handeln von Regierung, Geheimdiensten, Justiz, Medien und gesellschaftlichen Interessengruppen wie der Kirche in den Blick und zeigt anhand der Rekonstruktion von 2.298 Einzelfällen, wie das Regime gegen Oppositionelle vorging. Diese Einzelfallanalyse basiert hauptsächlich auf Gesprächen mit Überlebenden und Familienangehörigen sowie auf den von Menschenrechtsorganisationen während der Militärdiktatur verfassten Berichten. Das Militär hingegen sträubte sich auch weiterhin, seine Archive zugänglich zu machen. Anders als im Regierungsdekret festgelegt, setzt der Bericht bereits in der Zeit vor dem Putsch am 11. September 1973 ein. Die Kommission argumentiert, dass die bereits unter Allende einsetzende Polarisierung der Gesellschaft wichtig sei, um die Menschenrechtsverletzungen zu erklären – eine Interpretation, die gleichzeitig die Dringlichkeit einer Versöhnung betont und somit als Legitimation der Kommissionsarbeit verstanden werden kann. Das zweite Kernargument des Berichts besteht darin, die von den Militärs behauptete Legalität der Repressionsmaßnahmen zu wiederlegen: So habe es nach dem Putsch keinen nennenswerten bewaffneten Widerstand gegeben, der es erlaube, von einem »inneren Krieg« zu sprechen. Folglich sei die Berufung der Militärs auf den Kriegszustand rechtswidrig gewesen. Diese streng legalistische Argumentation knüpft direkt an die Strategie der Menschenrechtsbewegung an, die sich bereits in den siebziger Jahren etabliert hatte und die darin bestand, der Militärregierung vor der Weltöffentlichkeit Verstöße gegen geltendes Recht vorzuwerfen.
Der vierte Teil des Berichts formuliert Empfehlungen zum Umgang mit den Folgen der Militärdiktatur und konzentriert sich dabei auf zwei Aspekte: Auf die Entschädigung der Opfer und ihrer Familienangehörigen sowie auf Maßnahmen zur Verhinderung einer Wiederholung der Ereignisse unter der Militärdiktatur. Dazu zählen vor allem die Reform des chilenischen Rechtssystems und Bildungswesens auf der Grundlage menschenrechtlicher Normen. Der Aspekt der strafrechtlichen Ahndung von Menschenrechtsverletzungen wird dabei zwar nicht ausgeklammert, jedoch im Sinne Zalaquetts dem Versöhnungsaspekt untergeordnet.
Von Versöhnung war in den Reaktionen auf den Kommissionsbericht, die unmittelbar auf seine Veröffentlichung folgten, allerdings nicht viel zu bemerken. Während die Regierung ihn als offizielle Wahrheit zu etablieren suchte, lehnten ihn die Diktaturanhänger und Militärs rundheraus ab: Er enthalte Halbwahrheiten und spiegele eine extreme Position wieder, weshalb die Darstellung der Streitkräfte nach wie vor ein wichtiges Korrektiv sei. Die Menschenrechtsorganisationen und ehemaligen Dissidenten hingegen forderten, dass das Militär nun endlich seine Verweigerungshaltung bei der Aufklärung der Wahrheit aufgeben solle.[15] Die Beschränkung des Berichts auf politische Morde wurde häufig als ungenügend gebrandmarkt. 2003 kam es deshalb zur Einsetzung einer weiteren Kommission, die sich mit den Themen Haft und Folter befasste.[16]
Die Rezeption des Berichts war jedoch nicht auf Chile beschränkt – die wohl nachhaltigste Wirkung hatte er im Ausland und auf internationaler Ebene. Der Vortrag, in dem Zalaquett die konzeptionellen Grundlinien entwickelt hatte, war auf einer Tagung präsentiert worden, die international vergleichend Antworten auf Probleme von Demokratisierungsprozessen suchte. Damals - Ende der achtziger Jahre – war dies noch ein Thema gewesen, dass vor allem Lateinamerika betraf. Doch mit dem Ende der Diktaturen in Osteuropa und der Apartheid in Südafrika gewann es Anfang der neunziger Jahre an globaler Relevanz. Experten verschiedener Staaten trafen sich zu internationalen Konferenzen, um darüber zu diskutieren, wie der Übergang zur Demokratie zu bewerkstelligen sei und welche Rolle dabei die Auseinandersetzung mit vergangenen Verbrechen zu spielen habe. Diesem Austausch lag die Annahme zugrunde, man könne aus dem Vergleich unterschiedlicher Transitionsprozesse generalisierbare Lehren ableiten. Zalaquett gehörte von Beginn an zu diesem sich herausbildenden Expertennetzwerk. Er war überzeugt davon, dass sein Konzept nicht nur für Lateinamerika von Interesse sei.[17]
Das sah auch Alex Boraine so. Der ehemalige Vorsitzende der Methodistischen Kirche Südafrikas und liberale Abgeordnete hatte 1986 das Institute for a Democratic Alternative for South Africa gegründet mit dem Ziel, dort Strategien für einen Übergang zur Demokratie zu entwickeln. Im Februar 1994 – die ersten demokratischen Wahlen standen unmittelbar bevor – versammelte er Experten aus verschiedenen Ländern zu einer Konferenz in Südafrika, um über Erfahrungen im Umgang mit Verbrechen in postautoritären Gesellschaften zu diskutieren. Auch Zalaquett war eingeladen. Er konnte darauf verweisen, dass seine Ideen mit Erfolg umgesetzt worden waren. Mit der Autorität des Praktikers vertrat er seine bereits 1988 formulierte Position: dass eine »offizielle Wahrheit« dazu beitragen könne, gespaltene Gesellschaften zu versöhnen und dass sich die Politik an der Maxime orientieren müsse, eine Wiederholung des Geschehenen vorzubeugen. Die Rebellion des argentinischen Militärs 1987 führte er als warnendes Beispiel dafür an, was passieren könne, wenn die strafrechtliche Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen nicht diesem Ziel untergeordnet werde; den chilenischen Weg präsentierte er als folgerichtige Lehre. Juan Méndez widersprach. Der aus Argentinien angereiste Jurist und Menschenrechtler, der während der Militärdiktatur im amerikanischen Exil für Human Rights Watch gearbeitet hatte, zog ganz andere Lehren aus der südamerikanischen Erfahrung: »I do not agree with José Zalaquett that Argentina is a case where ›to much was attempted‹. It was indeed a mistake and an embarrasment to have backtracked, but I do not agree that this was necessary in the context of the political realities of 1986 and 1987. With more vision, courage and will it would not have happened.« Die strafrechtliche Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen sei indiskutabel und dürfe nicht zum Gegenstand von Verhandlungen gemacht werden.[18]
Schnell zeichnete sich ab, zu welcher der beiden Positionen Boraine tendierte: Er bezeichnete Zalaquetts Standpunkt als weise[19] und lud ihn zusammen mit Aylwin zu einer zweiten Konferenz ein, auf der anhand der diskutierten Länderbeispiele ein Konzept für den Aufarbeitungsprozess Südafrikas erarbeitet werden sollte. Auch die neue südafrikanische Regierung machte sich Sorgen, eine umfassende strafrechtliche Aufarbeitung der unter dem Apartheidregime begangenen Verbrechen könne zu schweren Unruhen im Land führen. Eine Wahrheitskommission nach dem Vorbild Chiles schien einen Ausweg zu bieten. Schon der Name der 1995 eingesetzten südafrikanischen Truth and Reconciliation Comission (TRC) verweist auf den Einfluss, den die von Zalaquett entwickelten und in der chilenischen Kommission erstmals umgesetzten Ideen auf den südafrikanischen Umgang mit den Verbrechen der Apartheid hatten. Auch jene Ideen Zalaquetts, die in Chile nicht umgesetzt worden waren, fanden nun Anwendung: Wer sich bereitfand, die »Wahrheit« über die begangenen Verbrechen zu erzählen, konnte mit einer Amnestierung rechnen.[20]
Indem es Boraine und den anderen Kommissionmitgliedern gelang, die aus Chile entlehnte Kompromisslösung als Erfolg zu definieren, trug die TRC wesentlich dazu bei, dem Modell einer Wahrheitskommission international Legitimität zu verleihen. Ein unter dem Label Transitional Justice arbeitendes internationales Netzwerk setzte sich nun dafür ein, diese Form der Vergangenheitsaufarbeitung auch in anderen Postkonflikt-Gesellschaften zu etablieren. Begleitet wurden diese Bemühungen von einer rapide wachsenden Zahl von Wissenschaftlern, die es sich zum Ziel setzten, anhand empirischer Studien das Konzept der Wahrheitskommissionen weiterzuentwickeln.
Gairdner, David: Truth in Transition. The Role of Truth Commissions in Political Transition in Chile and El Salvador. Bergen 1999.
Klumpp, Guido: Vergangenheitsbewältigung durch Wahrheitskommissionen – das Beispiel Chile. Berlin 2001
Die Studien von David Gairdner und Guido Klumpp folgen den Ansätzen der Transitional Justice Forschung und fragen nach den Lehren aus der chilenischen Erfahrung. Gairdner argumentiert anhand eines Vergleichs der Transitionsprozesse in Chile und El Salvador, dass Wahrheitskommissionen das Potential hätten, Demokratisierungsprozesse zu fördern. Guido Klumpp kommt zu dem Schluss, der Umgang mit den Tätern sei in Chile »weitgehend misslungen«, dafür habe aber die Wahrheitskommission dazu beigetragen, zukünftige Verbrechen vorzubeugen.
Ruderer, Stephan: Das Erbe Pinochets. Vergangenheitspolitik und Demokratisierung in Chile 1990-2006. Göttingen 2010.
Stern, Steve J.: Reckoning with Pinochet. The Memory Question in Democratic Chile, 1989-2006. Memory Box of Pinochet’s Chile Bd. 3. Durham 2010.
Skeptischer hinsichtlich des Erfolgs der Wahrheitskommission zeigt sich die Geschichtswissenschaft, die Entstehung und Rezeption bisher vor allem als Teil der chilenischen Geschichte in den Blick genommen hat: Steve Stern analysiert sie vor dem Hintergrund des Kampfes um die Deutung der Junta-Zeit und kommt zu dem Schluss, sie habe den Beginn einer »Erinnerungssackgasse« markiert: Es sei nicht gelungen, die Erzählung der Militärs von der Rettung des Vaterlandes zu delegitimieren. Stephan Ruderer deutet die Einberufung der Kommission als Ausdruck der »Konsenspolitik« der Regierung Aylwin und als misslungenen Versuch, die Debatten über die Vergangenheit zu beenden.
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Aylwin Azócar, Patricio: Raúl era un gran lobbista, in: Serrano, Margarita: La historia de un »bandido«: Raúl Rettig. Santiago de Chile 1998, S. 109-110.
Boraine, Alex / Levy, Janet / Scheffer, Ronel (Hg.): Dealing with the Past. Truth and Reconciliation in South Africa. Cape Town 1994.
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CONADEP (Hg.): Nunca Más. Informe de la Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas. Buenos Aires 1984.
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Fuchs, Ruth: Umkämpfte Geschichte. Vergangenheitspolitik in Argentinien und Uruguay. Berlin 2010.
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Scheuzger, Stephan: Wahrheitskommissionen, transnationale Expertennetzwerke und nationale Geschichte, in: Berthold Molden, David Mayer (Hg.): Vielstimmige Vergangenheiten – Geschichtspolitik in Lateinamerika. Wien/Berlin 2009, S. 215-238.
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Zalaquett, José: Derechos humanos y limitaciones políticas en las transiciones democráticas del Cono Sur, in: Colección Estudios Cieplan 33 (1991), S. 147-186. Eine gekürzte Fassung in englischer Sprache erschien wenige Jahre später: Confronting Human Rights Violations Committed by Former Governments: Principles Applicable and Political Constraints, in: Neil J. Kritz (Hg.): Transitional Justice. How Emerging Democracies Reckon with former Regimes, Bd. 1: General Considerations. Washington 1995, S. 3-31.
Daniel Stahl: Bericht der chilenischen Wahrheitskommission, in: Quellen zur Geschichte der Menschenrechte, herausgegeben vom Arbeitskreis Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Mai 2015, URL: www.geschichte-menschenrechte.de/chilenischen-wahrheitskommission/
Bericht der chilenischen Wahrheitskommission
von Daniel Stahl