Quellenzur Geschichte derMenschenrechte

Jimmy Carters Rede zur US-Außenpolitik

von Philipp Gassert

In seiner außenpolitischen Grundsatzrede an der Notre Dame Universität am 22. Mai 1977, wenige Monate nach dem Beginn seiner Amtszeit, unternahm Präsident Carter (1977-1981) den Versuch, die Politik der USA nach dem Ende des Vietnam-Kriegs auf eine neue Legitimationsbasis zu stellen und Amerikas Ansehen in der Welt zu heben, indem er für einen erneuten Einsatz der USA für Menschenrechte warb. Diese stellte er ins Zentrum seiner außenpolitischen Agenda. Carters Rede wies zahlreiche Facetten auf und führte dabei verschiedene Stränge und Traditionen zusammen. Erstens griff er in eine seit Anfang der siebziger Jahre intensiv geführte Debatte über eine moralische Erneuerung der US-Außenpolitik ein. Diese hatten in der Folge des Vietnamkriegs Kritiker der »imperialen Präsidentschaft« im US-Kongress dazu genutzt, die Exekutive in ihrem außenpolitischen Aktionsradius einzuhegen. Zweitens reagierte Carters Rede auf eine »Neuentdeckung« der Menschenrechte durch Nichtregierungsorganisationen, Kirchen, Regierungen und Wissenschaft in den frühen siebziger Jahren. Drittens nutzte der Präsident das Gewicht seines Amtes, um Menschenrechte ins Zentrum der Außenpolitik zu rücken. Dies sollte auch einer Erneuerung der westlichen Hegemonie in einer postkolonialen Welt nach dem Ende der Imperien dienen. Viertens stand die Rede im Zusammenhang eines inneramerikanischen Selbstverständigungsprozesses in einer Phase gesellschaftlicher Umbrüche. Fünftens setzt Carter einen wichtigen politischen Referenzpunkt, um Instrumente zur konkreten, globalen Durchsetzung von Menschenrechten inneradministrativ fester zu verankern. Von wirkungsgeschichtlichem Interesse ist schließlich sechstens Carters Verneinung eines zeitgenössisch viel diskutierten Zielkonflikts von humanitären Initiativen und Sicherheitspolitik, für deren angebliche Vernachlässigung ihn innenpolitische Gegner aufgrund des andauernden Ost-West-Konflikts kritisierten. Die Rede lässt sich daher auch als klassische Widerlegung der Formel vom »naiven Idealismus« der Menschenrechtspolitik lesen.

Entstehungsgeschichte
Inhalt
Wirkungsgeschichte
Kommentierte Literaturliste
Weitere Literatur

AutorIn
Prof. Dr. Philipp Gassert ist Professor für Zeitgeschichte an der Universität Mannheim.

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Carters Rede zur Außenpolitik

Entstehungsgeschichte

Mit seiner Rede vor Absolventen der Katholischen Universität von Notre Dame in South Bend, Indiana (USA) definierte Carter eine außenpolitische Agenda für seine Präsidentschaft. Wenige Tage zuvor hatte er eine vergleichbare Rede zu seinen innenpolitischen Zielen gehalten. Als Gouverneur des Staates Georgia war Carter zwar nicht durch außergewöhnliches Interesse an Menschenrechtsfragen aufgefallen. Doch als baptistischer Laienprediger und wiedergeborener Christ stand er durchaus in der Tradition eines moralischen Internationalismus.[1] Gegen Ende des Wahlkampfs 1976 hatte er sich in einem Fernsehduell mit dem amtierenden Präsidenten Gerald Ford (1974-1977) vehement für Menschenrechte in der Außenpolitik eingesetzt.[2] Während viele Demokraten eine moralische Flankierung der Außenpolitik befürworteten, war dies in der Republikanischen Partei noch umstritten. Reagan warf als innerparteilicher Herausforderer von Ford diesem und dessen Außenminister Henry Kissinger fehlendes Engagement für verfolgte Dissidenten in der UdSSR vor. Ford hatte sich kurz zuvor geweigert, den prominenten Regimekritiker und Autor des Archipel Gulag (1970), Alexander Solschenizyn, im Weißen Haus zu empfangen, um die Beziehungen zur UdSSR nicht zu belasten. Noch aber assoziierten die meisten Amerikaner mit dem Thema Menschenrechte innergesellschaftliche Fragen wie die Gleichstellung von rassischen Minoritäten, Homosexuellen und Frauen.[3] Dies änderte sich nicht zuletzt aufgrund von Carters prononciertem Agenda-Setting. Von nun an war Menschenrechtspolitik eindeutig außenpolitisch konnotiert. 

Menschenrechtsfragen waren seit den frühen siebziger Jahren in der US-Außenpolitik heiß umstritten. Sie waren untrennbar mit dem seit 1968 brodelnden, doch in der Endphase der Präsidentschaft von Richard Nixon (1969-1974) offen zum Ausbruch gekommenen und sich ab 1973 verschärfenden Machtkampf zwischen Legislative und Exekutive um Einfluss auf außenpolitische Entscheidungen (aber nicht nur allein auf diese) verknüpft. Vor dem Hintergrund des Vietnam-Desasters versuchte der Kongress die Kompetenzen der von dem Historiker und ehemaligen Kennedy-Berater Arthur Schlesinger 1973 als »imperiale Präsidentschaft« gebrandmarkten Exekutive zurückzuschneiden. 1973 wurde die War Powers Resolution verabschiedet, welche die Mitwirkungsrechte des Kongresses bei der Entsendung von Truppen nach Übersee stärkte. Auslandshilfe war seit 1973 an die Überprüfung der Menschenrechtssituation in Empfängerländern geknüpft. Hierbei machte der Kongress von seinem Budgetrecht gezielt Gebrauch.[4] Einen öffentlichen Durchbruch stellten die vom Vorsitzenden des House Subcommittee on International Organizations and Movements, Donald Fraser, im Herbst 1973 anberaumten Anhörungen über die globale Menschenrechtssituation dar. Das Thema war damit politisch prominent platziert.[5] Angesichts der »Politisierung der Menschenrechte« überrascht es nicht, dass mächtige Senatoren mit Präsidentschaftsambitionen wie Edward Kennedy (Massachusetts) oder Henry Jackson (Washington) sich als Anhänger einer humanitären Außenpolitik profilierten und nicht mit Kritik an der »amoralischen« Außenpolitik Nixons und seines als »europäischen Realpolitiker« gebrandmarkten Sicherheitsberaters Kissinger sparten. Letzterem wurde ein zu enges Verhältnis zu repressiven, rechtsgerichteten Diktaturen in Lateinamerika und Asien vorgeworfen. Hinzu kamen Skandale und Enthüllungen wie die um die Pentagon Papers, die Verwicklung der CIA z.B. in den Putsch gegen Allende in Chile und die dunklen Geschäfte amerikanischer Rüstungskonzerne wie Lockheed und ITT. Das Thema Menschenrechte hatte vermehrt politischen Signalcharakter. Auch Carters späterer Sicherheitsberater, der Politologe Zbigniew Brezezinski, sprach pointiert davon, Kissinger, Nixon und Ford hätten »Amoralität zum Prinzip« der Außenpolitik erhoben.[6]

Carter sprang also auf einen fahrenden Zug auf, als er dem Thema Menschenrechte zu Beginn seiner Amtszeit in der Politik des Weißen Hauses neue Sichtbarkeit verlieh. Im Wahlkampf war er als Außenseiter und Anti-Establishment-Politiker aufgetreten, dem es auf der ganzen Linie um eine moralische Erneuerung Amerikas ging. Er wollte nach Vietnam und Watergate einen neuen Ton in die Politik bringen. Auch wusste er aufgrund von Umfragen, dass er mit Menschenrechtspolitik punkten konnte.[7] Schon bei seiner Amtseinführung am 20. Januar 1977 hatte er sich überraschend deutlich für einen kompromisslosen Einsatz für die Menschenrechte ausgesprochen: »Our commitment to human rights must be absolute«. Er kündigte eine klare Bevorzugung derjenigen Staaten an, die wie die USA einen »beständigen Respekt für individuelle Menschenrechte« zeigten.[8]

Während dies auf ein enges Menschenrechtsverständnis hindeutet, war innerhalb der neuen Administration unklar, wie der von Carter geforderte Menschenrechtsschutz zu fassen sein würde. Fielen soziale und ökonomische Rechte und der Einsatz für »die Armen der Welt« darunter? Wie spiegelte sich diese Agenda in der operativen Außenpolitik wider? Wie sollten sich die USA gegenüber engen Verbündeten wie der südkoreanischen Militärdiktatur und dem Marcos-Regime auf den Philippinen verhalten, denen Menschenrechtsverletzungen nachgewiesen worden waren? Nach welchen Kriterien würde Auslandshilfe künftig vergeben? Noch während die Carter-Administration laut darüber nachdachte, die Wirtschafts- und Militärhilfe für rechtsgerichtete Diktaturen in Lateinamerika zu kürzen, wurde dagegen von (neo-)konservativer Seite vehement Front gemacht. Von außenpolitischem Moralismus profitiere die UdSSR, die keine vergleichbaren Bedenken hege. Amerika könne sich im Ost-West-Konflikt seine Verbündeten nicht aussuchen, Menschenrechtspolitik dürfe strategisch nicht nachteilig sein.[9] 

Trotz der prononcierten Menschenrechtsrhetorik der Inaugurationsrede hatte die Carter-Administration die Regierungsgeschäfte aufgenommen, »ohne über eine klares Konzept für eine aktive Menschenrechtspolitik zu verfügen.«[10] Die Notre Dame-Rede ist daher sowohl Teil eines inneradministrativen Ringens um eine Gesamtkonzeption für eine neue außenpolitische Agenda als auch einer sich verschärfenden Debatte über Möglichkeiten und Grenzen »moralischer Außenpolitik«. Ins unmittelbare Umfeld fallen weitere programmatische Reden von Regierungsmitgliedern, vor allem Außenminister Cyrus Vance‘ Ansprache auf dem Law Day der University of Georgia in Athens am 30. April sowie die des stellvertretenden Außenministers (Deputy Secretary of State) Warren Christopher am 9. August 1977 vor den Delegierten der American Bar Association in Chicago.

Vance‘ Law Day-Rede wird große Bedeutung zugemessen, weil er zum ersten Mal überhaupt in der Geschichte der amerikanischen Außenpolitik eine autoritative Definition dessen gab, was unter Menschenrechten zu verstehen sei.[11] Er subsumierte darunter nicht nur die Freiheit der Person und deren Unantastbarkeit durch Folter oder andere grausame und entwürdigende Behandlung sowie die klassischen bürgerlichen Freiheiten und Rechte, sondern auch die Erfüllung lebenswichtiger Bedürfnisse wie Nahrung, Wohnung und Gesundheitsfürsorge. Mit der Inklusion sozialer Rechte zog Vance die Grenzen weit. Andererseits machte er im Kontrast zum Menschenrechtsabsolutismus der Inaugural-Ansprache deutlich, dass die Administration dieses Instrument flexibel anwenden müsse und dass der jeweilige Kontext zu berücksichtigen sei.[12] 

Auch wenn die Carter-Administration für einen neuen Anfang in der amerikanischen Menschenrechtspolitik steht und diese zum »Fixpunkt« (Eckel) der internationalen Beziehungen zu machen versuchte,[13]griff sie selbstverständlich auch Traditionen und rhetorische Konventionen eines demokratischen Internationalismus auf, der meist mit dem Namen Woodrow Wilsons verbunden wird.[14] Auch institutionell setzte Carter nicht am Nullpunkt an. Der viel geschmähte Kissinger hatte in Reaktion auf Kongress-Forderungen Kritik an seiner als zu »realpolitisch« charakterisierten Außenpolitik zu unterlaufen versucht, indem er, wenn auch zögerlich und in Reaktion auf die Fraser-Hearings, im State Department ein Bureau of Human Rights and Humanitarian Affairs einrichten ließ.[15] Die Carter-Administration baute diese Bürokratie zügig aus, bis 1979 auf drei Dutzend Mitarbeiter. Carters Koordinatorin für Menschenrechte, die Bügerrechtsaktivistin Patricia Derian, wurde zur Assistant Secretary of State (Referatsleiterin) befördert und in der ministerialen Hierarchie durch »direkten Zugang« zum Präsidenten aufgewertet, d.h. sie durfte ihm ohne Beachtung des Dienstwegs direkt berichten.[16] Auch die vom Kongress schon vorher verlangten Einschätzungen der Menschenrechtssituation in betroffenen Ländern wurden bei Entscheidungen über Auslands- und Entwicklungshilfe standardisiert berücksichtigt. Carter fand keine menschenrechtspolitische tabula rasa vor, verhalf jedoch durch sein Werben für eine moralische Außenpolitik den Menschenrechten zu neuer Sichtbarkeit in den internationalen Beziehungen der USA. 

Carters menschenrechtspolitische Offensive blieb auf halbem Weg stecken. Die Gründe sind vielfältig: Typische bürokratische Konflikte engten die Möglichkeiten der Menschenrechtskoordinatorin ein, die sich durch einen maximalistischen Ansatz ihrerseits Feinde machte.[17] Gegenüber Lateinamerika konnten sich die USA aus sicherheitspolitischen Überlegungen nur schwer von traditionellen Hegemonie-Konzepten verabschieden, sodass der Einsatz für Menschenrechte bei verbündeten Partnern nicht immer mit dem nötigen Nachdruck erfolgen konnte.[18] Carter selbst brüskierte anfangs die sowjetische Führung mit menschenrechtspolitischen Forderungen. Er sah sich bald zu mehr Rücksichtnahme auf Moskauer Befindlichkeiten gezwungen, um die ihm noch wichtigeren Fortschritte bei der nuklearen Abrüstung nicht zu gefährden.[19] Ob man indes die Verschlechterung des Ost-West-Klimas primär auf Carters humanitären Aktivismus zurückführen kann, lässt sich bezweifeln: Hier spielten geostrategische Fragen wie der Einmarsch der Roten Armee in Afghanistan eine erhebliche Rolle. Im Falle Südkoreas hatte die Carter-Administration Erfolge vorzuweisen, während das südafrikanische Apartheidsregime mauerte und sich international so immer stärker isolierte.[20] Als Problem erwies sich, dass Menschenrechtsaktivisten schnelle Erfolge erwarteten, Carter diese nicht vorzuweisen hatte. Der Einsatz für Menschenrechte erforderte einen längeren Atem. 

Inhalt

Einleitend geht Carter auf den Anlass ein, die Graduationsfeier an der wichtigsten katholischen Universitäten der USA. Derartige commencement speeches stellen ein typisches Forum für programmatische Ankündigungen amerikanischer Präsidenten dar. Der commencement speaker wird in aller Regel mit einem Ehrendoktortitel ausgezeichnet. Carter erwähnt daher autobiographische Details wie seine eigene Graduierung als Student an der Naval Academy in Annapolis und das Werfen von Erdnüssen seitens der Studierenden, eine Anspielung auf seinen beruflichen Hintergrund als Erdnussfarmer. Vor allem würdigt er das Engagement des Universitätspräsidenten, des katholischen Priesters Theodore Hesburgh (1917-2015), der 35 Jahre lang (1952-1987) an der Spitze von Notre Dame stehen sollte. Als Mitglied seit 1957 und Vorsitzender seit 1969 der Civil Rights Commission der USA hatte Father Hesburgh als Berater verschiedener US-Präsidenten gedient. Von Nixon war er aufgrund seiner Kritik an der Ausweitung des Krieges in Indochina entlassen worden. Wie Carter erwähnt, hatte Hesburgh dafür gesorgt, dass prominente katholische Kämpfer für die Menschenrechte in der »Dritten Welt«, an gleicher Stelle zuvor geehrt worden waren. Carter stellt seine eigene Rede damit in die lokale Tradition des Eintretens für Menschenrechte, notabene, in mit den USA eng verbündeten Diktaturen wie Südkorea. Demgegenüber spricht er weder hier noch im weiteren Verlauf der Rede die Verletzung von Menschenrechten im sowjetischen Machtbereich an. 

Im Hauptteil betont Carter zunächst, dass amerikanische Außenpolitik kongruent zum »Charakter der amerikanischen Nation« sein müsse, d.h. demokratisch, auf einem Kanon fundamentaler Werte beruhend; Macht müsse menschenfreundlichen Zielen dienen. In der Tradition des tief in der zivilreligiösen Rhetorik der USA wurzelnden Bildes des »Leuchtturms der Freiheit« ermutigt Carter seine Landesleute, selbstbewusster an die Vorbildfunktion demokratischer Methoden zu glauben und auf die Stärke der amerikanischen Demokratie zu vertrauen. Auch könne man Hoffnung aus dem Fortschritt der siebziger Jahre ziehen, als die südeuropäischen Staaten Portugal, Spanien und Griechenland eine demokratische Transition erlebten. Zum ersten Mal seit 25 Jahren, so ergänzt er an einem anderen Punkt, seien alle Mitglieder der NATO Demokratien. Die Zukunft gehöre dem demokratischen System: »Our spirit of confidence is spreading.« Zugleich kritisiert er den bisherigen blinden Antikommunismus in den USA. Kommunistenfurcht habe zu historisch inakzeptablen Kompromissen geführt, weil »Feuer mit Feuer« bekämpft worden sei. Der Vietnam-Krieg, den er weiter unten eine »profunde moralische Krise« nennt, sei das beste Beispiel für den fehlgeleitenden Ansatz eines irrenden Antikommunismus: »This approach failed, with Vietnam the best example of its intellectual and moral poverty«. Doch Amerika lerne aus seinen Fehlern. Es finde den Weg zurück zu seinen Prinzipien und Werten. 

Das epochal Neue, auf das Carter in seiner Rede mehrfach eingeht, ist der Abschluss der Dekolonisierung mit dem Ende des portugiesischen Kolonialreichs 1975. Er sieht Grund zu Optimismus, weil die Welt sich dramatisch gewandelt hat. Hier ergäben sich Chancen, nicht zuletzt für die USA: »It is a new world, but America should not fear it«. Die alte Politik sei in der postkolonialen Ära nicht mehr zeitgemäß. Zwar dauere der Ost-West-Konflikt an. Doch werde dieser nach dem Ende der europäischen Imperien vom Aufstieg von mehr als hundert neuen Staaten überlagert, mit ihrer jeweils eigenen Identität, ihren eigenen Hoffnungen und ihren eigenen Ausbrüchen aus traditionellen Bindungen.

Die Aspirationen dieser jungen Völker vergleicht er, aus heutiger Sicht zu kurz greifend, doch für sein Publikum plausibel nachvollziehbar, mit denen der Amerikaner. Er greift damit auf das historisch postkoloniale Selbstverständnis der USA zurück als der in der amerikanischen Sicht ersten, aus einem Unabhängigkeitskrieg hervorgegangenen Nation der Welt (das niederländische Vorbild wird in aller Regel ignoriert). Wie einst die Amerikaner strebten auch diese neuen Nationen nach »sozialer Gerechtigkeit«.[21] Diese neue, postkoloniale Welt müsse Amerika nicht fürchten – sie erfordere eine neue Außenpolitik Zugleich könnten die USA aufgrund ihrer Geschichte und ihres demokratischen Systems diese auch gestalten, sofern sie sich an ihre eigenen Werte hielten:»It is a new world that calls for a new American foreign policy – a policy based on constant decency in its values and on optimism in our historical vision«. 

Es geht auch um Amerikas Selbstverständnis: Mit der »Idee eines neuen Anfangs« verwendet Carter einen gängigen Topos, der paradoxerweise auf einer Bekräftigung im amerikanischen Sinne »althergebrachter«, historischer Grundwerte beruht. Zwar spricht Carter über Außenpolitik, aber er meint im Grunde Amerika selbst. Das zeigt ein direkter Vergleich mit der berühmten Inaugurationsrede von John F. Kennedy 1961, die in ähnlicher Diktion amerikanische Traditionen von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten bemüht. Auch Kennedy zielte vor dem Hintergrund des historisch Neuen des Dekolonisierungsprozesses auf eine Erneuerung des amerikanischen Selbstverständnisses und eines liberalen Patriotismus.[22] Auch Kennedy hielt Moral und zivilen Umgang in den internationalen Beziehungen für kein Zeichen von Schwäche. Hierzu konform stellt Carter an erste Stelle seiner außenpolitischen Agenda eine Bekräftigung der amerikanischen Selbstverpflichtung zu den Menschenrechten: »we have reaffirmed America’s commitment to human rights as a fundamental tenet of our foreign policy«. Amerika als eine multiethnische, religiös und kulturell vielfältige Gesellschaft, die nicht auf einem mystischen Glauben von Blut und Boden basiere, werde durch den Glauben an die menschliche Freiheit zusammengehalten. Carters Ausführungen stellen eine Variante amerikanischen Exzeptionalismus dar, wonach die USA aufgrund ihrer einzigarten historischen Erfahrung als ein Vorbild für andere Völker in einer vielfältigen, heterogenen Welt dienten.[23] 

Verschiedentlich antizipiert Carter Kritik an seiner Menschenrechtsagenda. So warnt er vor Illusionen, vor »rigiden Maximen« in einer komplexen, verwirrenden Welt. Moralische Appelle seien begrenzt wirksam: »I understand fully the limits of moral suasion. We have no illusion that changes will come easily or soon.« Zugleich erinnert er die Amerikaner daran, dass von Thomas Paine Common Sense (1776) bis Martin Luther King I have a Dream (1964) klassische Freiheitsreden reale historische Folgen hätten. Es sei Aufgabe der jetzigen Amerikaner, diese Tradition lebendig zu halten und es liege im Interesse der USA, international auf Freiheit und Menschenrechte zu drängen: »I believe it is incumbent on us in this country to keep that discussion, that debate, that contention alive«. Nicht zuletzt ist es neben den traditionellen Werten vor allem der Reichtum und die militärische Stärke der USA, die ihnen moralisches Agieren in der Außenpolitik erlaubt. Wilson indirekt zitierend schließt er mit den Worten: »Our policy is designed to serve mankind. And it is a policy that I hope will make you proud to be Americans.« 

Neben dem menschenrechtlichen Aspekt, der Gegenstand dieses Kommentars ist, ging Carter weiter auf die Zusammenarbeit zwischen Demokratien, den Rüstungswettlauf, Probleme der nuklearen Proliferation, den Friedensprozess im Nahen Osten und neue Strukturen der internationalen Kooperation ein. Besonders hervorgehoben wurde von ihm abschließend noch einmal die Situation im südlichen Afrika, für das er Demokratie forderte, nicht zuletzt weil der Menschenrechtsaktivismus seines Gastgebers, Father Hersburgh, hier einen besonderen Schwerpunkt aufwies.

Wirkungsgeschichte

Zeitgenössisch erhielt Carter durchaus Zuspruch, wurde aber von neokonservativer Seite auch scharf angegriffen.[24] Das kann angesichts der erwähnten Politisierung der Menschenrechte seit den frühen siebziger Jahren auch nicht überraschen. Reagans spätere UNO-Botschafterin Kirkpatrick warf ihm »selektive Beschwörung universaler Werte« vor.[25] Carters Vertrauen in das demokratische Beispiel sei Wunschdenken. Fortschritten in Westeuropa stünden Rückschritte im Ostblock, Afrika und Lateinamerika gegenüber. Erwartungsgemäß wurde Carter machtpolitische Naivität und »Rückzug aus der Realität« vorgeworfen. Nixons ehemaliger UNO-Botschafter, Senator Daniel Patrick Moynihan (New York), ein Demokrat, der jedoch zu den intellektuellen Gründervätern des amerikanischen Neokonservatismus gehört, kritisierte die Überbetonung des Nord-Süd-Konflikts, sei doch die zentrale Konfliktlinie die Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Totalitarismus. In der Tat war es eine spezifische und vor dem Hintergrund des katholischen Charakters der Gastinstitution erstaunliche Lücke, Polen, die CSSR, Ungarn und andere kommunistische Staaten nur indirekt auf die Einhaltung von Menschenrechten zu verpflichten und die UdSSR vor allem für ihre Militärinterventionen zu kritisieren. Dies erstaunt auch deshalb, weil Carters polnisch stämmiger Nationaler Sicherheitsberater Brzezinski zu den Kritikern von Kissingers Beschweigen der Menschenrechtslage in Osteuropa gehört hatte. 

Andererseits begrüßten auch Kritiker wie Kirkpatrick und Moynihan grundsätzlich die von Carter geforderte moralpolitische Wende der US-Außenpolitik. Dass Carter einen relativ breiten Konsens bedienen konnte, hing mit dem generellen Bedürfnis nach Erneuerung infolge von Watergate und Vietnam zusammen.[26] Er fand angesichts der Umbrüche der siebziger Jahre Zuhörer, weil er Sehnsüchte nach einem Neuanfang anfangs glaubwürdig verkörperte und Selbstkritik mit einer Lobpreisung des amerikanischen Traums verband. Damit erneuert er die Idee der amerikanischen Sendung. Er macht seinem Publikum das attraktive Angebot, einerseits das »schlechte Beispiel« der antikommunistischen Feldzüge des Kalten Krieges hinter sich zu lassen, doch andererseits den Führungsanspruch der USA moralpolitisch zu erneuern. Sein Internationalismus legte weniger Wert auf militärische Mittel, scheute aber vor außenpolitischem Druck auch nicht zurück. Auch versuchte er einer postkolonialen Kritik am US-Imperialismus etwas entgegenzusetzen. Die Rede kann daher auch als Ausdruck eines Ringes um kulturelle Hegemonie in einer postkolonialen Welt gelesen werden, in der die USA ihren Führungsanspruch mit einer Menschenrechtsoffensive erneuerte, die sich auch gegen postkoloniale Regime richtete.[27]

Carters Agenda geriet vorhersehbar in schweres Wasser, als seine Administration die Menschenrechtspolitik operationalisierte. International kam seine Politik rasch an Grenzen. Er stieß auch relativ unverdächtige Verbündete wie die Bundesregierung vor den Kopf, wenn sich der Bundeskanzler Helmut Schmidt und Außenminister Hans-Dietrich Genscher von der christdemokratischen Opposition unter Helmut Kohl im Bundestag vorgeführt sahen, sie sollten dem Beispiel Carters folgend in ihren Gesprächen mit dem Kreml nachhaltiger auf den Schutz der Menschenrechte pochen.[28] Moskau zeigte sich in Menschenrechtsfragen dickfellig, zumal sich ab 1979 das Ost-West-Verhältnis aufgrund des sowjetischen Einmarsches in Afghanistan und des NATO-Doppelbeschlusses ohnehin verschlechterte. Aber auch in bürokratischen Kämpfen innerhalb der Administration fand sich die Menschenrechtspolitik an den Rand gedrängt, so die Einschätzung des Historikers Scott Kaufman: »Human rights took second place to national security issues.«[29] In der kurzfristigen Betrachtung glückte Carter weder im südlichen Afrika ein entscheidender Durchbruch, noch in Lateinamerika.[30] Erfolge verbuchte er in Südkorea, wo die USA aufgrund ihrer wirtschaftlichen Bedeutung als Verbündeter am längeren Hebel saßen und mit einer Kürzung ihrer Militärhilfe glaubwürdig drohen konnten.[31]

Carters Rede bzw. sein programmatischer Ansatz in der Menschenrechtspolitik werden in Fortführung der zeitgenössischen Resonanz immer wieder angeführt, wenn es gilt, die Grenzen moralpolitischer Ansätze in der internationalen Politik zu demonstrieren und für »mehr Realismus« zu werben. Diese Kritik übersieht einerseits, dass Moralpolitik durchaus »harte« Interessenspolitik sein kann. Andererseits konnte Carter seine hochgesteckten Ziele aufgrund verschiedener Faktoren nicht verwirklichen. Es lag zum Teil an seiner Persönlichkeit, weil er zu viel auf einmal wollte und als ein mediokrer politischer Kommunikator galt; zum Teil waren institutionelle, inneradministrative Hemmnisse zu überwinden, weil die Menschenrechtsbürokratie im State Department noch nicht genügend verankert war; auch kontextbezogene Faktoren spielen eine Rolle, aufgrund der Verschlechterung der internationalen Lage und der Teheraner Geisel-Krise war Carter aus von ihm nicht zu verantworteten Gründen geschwächt. Seine Menschenrechtspolitik ist daher, sicher zum Teil zu Unrecht, eine Art Parabel »von der Moral in der Politik« geworden. Sie wirkt wie ein politisches Lehrstück, um vor der Naivität humanitärer Ansätze und fehlgeleiteter Demokratisierungshoffnungen zu warnen.

Andererseits hat Carter, indem er als erster US-Präsident dem internationalen Schutz der Menschenrechte als einem eigenständigen Ziel seiner Außenpolitik nicht nur Sichtbarkeit verlieh, sondern auch den Versuch einer Operationalisierung startete, einen wichtigen Referenzpunkt geschaffen, an den spätere Administrationen seit den neunziger Jahren wieder anknüpfen konnten. Die US-Menschenrechtspolitik erreichte eine qualitativ neue Stufe. Die unter Carter ausgebauten Strukturen wurden nicht abgeschafft. Bei Entscheidungen über Auslandshilfe werden Menschenrechtskataloge routiniert abgearbeitet. Seine Präsidentschaft stand relativ am Anfang einer Wieder- bzw. Neuentdeckung der Menschenrechte. Es dürfte auch seinem öffentlichen Eintreten für eine neue »moralische Orientierung« in der Außenpolitik zu verdanken sein, dass in den folgenden Jahrzehnten Menschenrechte eine starke Präsenz in der internationalen Politik entfalteten und von der Agenda vieler NGOs und Protestorganisationen wie Occupy im frühen 21. Jahrhundert kaum wegzudenken sind.

Zugleich muss kritisch angemerkt werden, dass der Einsatz für die Menschenrechte oft ein Instrument der Durchsetzung ökonomischer und politischer Interessen westlicher Länder wurde.[32] Carters Agieren in der Menschenrechtspolitik war auch ein Versuch, die moralische Führungsmacht zurück zu gewinnen, die die USA in der Welt direkt nach 1945 hatten. Diese »Ambivalenz des Guten« (Eckel) im Sinne einer machtpolitischen Instrumentalisierung von Menschenrechten ist bei Carter angelegt, wenn sie auch nicht in der Art und Weise intendiert gewesen sein dürfte, wie nach 9/11, als Menschenrechte zu kruden politischen Waffen umgedeutet wurden.

Kommentierte Literaturliste

Scott Kaufman: Plans Unravelled. The Foreign Policy of the Carter Administration. DeKalb 2008.

William Steding: The Center of the Carter Conundrum. Human Rights and Foreign Policy, in: Scott Kaufman (Hrsg.), A Companion to Gerald R. Ford and Jimmy Carter. Malden, Mass. 2016, S. 451-469. 

Die Außenpolitik der Carter-Administration ist auf Basis der seit längerem offenen Bestände in der Jimmy Carter Presidential Library in Atlanta, Georgia und der diplomatischen Akten in den National Archives gut erforscht. Ein Standardwerk ist die Arbeit von Kaufman, die der Menschenrechtspolitik einen prominenten Platz einräumt. Der Aufsatz von Steding bietet einen hilfreichen und vor allem den aktuellsten Überblick zur jüngsten Forschung, auch unter Einbeziehung der wichtigsten Quellen. Abgesehen von Schmidlis Arbeiten zu Lateinamerika (siehe Literaturverzeichnis) und Wiegrefe zur BRD fehlen Untersuchungen zu Reaktionen von Verbündeten und Gegnern der USA auf das prononcierte menschenrechtspolitische Agenda-Setting der Regierung Carter. 

Friedbert Pflüger: Die Menschenrechtspolitik der USA. Amerikanische Außenpolitik zwischen Idealismus und Realismus 1972-1982. Wien 1983

Mary E. Stucky: Jimmy Carter, Human Rights, and the National Agenda. College Station, TX 2008

Joe Renouard: Human Rights in American Foreign Policy. From the 1960s to the Soviet Collapse. Philadelphia 2016. 

Die publizierte Fassung der politikwissenschaftlichen Doktorarbeit des späteren CDU-MdB und Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesverteidigungsministerium Friedbert Pflüger ist aus dem Ringen um das Verständnis der Krisen des deutsch-amerikanischen Verhältnisses in den siebziger und achtziger Jahren entstanden und des deutschen Unverständnisses gegenüber der prononcierten Betonung von Menschenrechten unter Carter und Reagan hervorgegangen. Als genaue Analyse zeitgenössischer veröffentlichter Quellen ist sie nach wie vor ein guter Startpunkt für Forschungen zur Carters Menschenrechtspolitik. Die politikwissenschaftliche Studie von Stucky fokussiert auf die präsidentielle Rhetorik und die Fähigkeit Carters, die Menschenrechtspolitik auf die Agenda des politischen Systems der USA zu setzen. Renouards historischer Überblick ist wie die politikwissenschaftlichen Untersuchungen stark auf die politische Binnensicht des politischen Establishments in Washington zentriert, stellt jedoch die erste umfassende Darstellung der Menschenrechte in der US-Außenpolitik dar, die ganz aus den Archiven erarbeitet wurde. 

Barbara Keys: Reclaiming American Virtue. The Human Rights Revolution of the 1970s. Cambridge, Mass., 2014

Jan Eckel: Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940ern. Göttingen 2014. 

Keys historische Monographie ordnet Carters Menschenrechtspolitik in ihren längerfristigen Kontext ein und betont die inneramerikanischen Gründe der Auseinandersetzung um die Menschenrechte. Sie sieht, völlig zu Recht, den wachsenden moralischen Aktivismus in der Außenpolitik als Teil der Verarbeitung der sozialen und kulturellen Umbrüche der sechziger und siebziger Jahre, sowohl der »Civil Rights Revolution« als auch der »Bewältigung« von Vietnam. Fast ausschließlich auf amerikanischen Quellen basierend, sieht sie Menschenrechte als einen diskursiven Fokus, an dem sich liberale und konservative Positionen schärften. Eckels Studie, das deutschsprachige Standardwerke zur internationalen Menschenrechtspolitik seit den 1940er Jahren, ordnet die Entwicklung in den USA stärker in ihre internationalen Bezüge und Kontexte ein und leistet insofern einen Beitrag zur Korrektur der stark Washington-zentrierten Forschungsliteratur der meisten amerikanischen Studien. Auch Eckel untersucht detailliert den Entscheidungsprozess in Washington. Er widmet Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International mehr Raum als Keys, die zivilgesellschaftliche Engagements vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Umbrüche zwar integriert, aber eben aus der US-Binnensicht. Demgegenüber ermöglicht Eckels globalgeschichtlicher Ansatz, der die postkolonialen Staaten, Osteuropa und Asien miteinbezieht, die bisher beste vergleichende Einordnung des Aufstiegs der Menschenrechte in der internationalen Politik seit den siebziger Jahren und damit auch von Carters Initiativen.

Zachary Manfredi: Recent Histories and Uncertain Futures. Contemporary Critiques of Human Rights and Humanitarianism, in: Qui Parle: Critical Humanities and Social Sciences 22, no. 1 (Fall/Winter 2013), S. 3-32. 

Hopgood Stephen: The Endtimes of Human Rights. Ithaca, NY 2013.

In den postkolonialen cultural studies vor allem der USA und Großbritanniens gibt es einen starken Widerstand gegen eine naiv-positivistische Deutung von Menschenrechtspolitik seitens der US-Regierungen beginnend mit Jimmy Carter. Diese werden als ideologische Bemäntelungen westlicher Imperialismen gelesen. Studien wie Moyns Last Utopia, die den Bruch der siebziger Jahre betonen, werden als historische Entsorgung der emanzipatorischen Ideale der kolonialen Befreiungsbewegungen kritisiert. Manfredi gibt in diesem Aufsatz, in Auseinandersetzung auch mit Moyns Thesen, einen guten Überblick über die wichtigsten kritischen Einwände gegen die westliche Wiederaneignung des Menschenrechtsdiskurses seit den siebziger Jahren.  Auch Hopgood sieht den »Triumph der Menschenrechte« äußerst kritisch. Eine Gruppe elitärer Aktivisten habe sich in den siebziger Jahren der Mittel des amerikanischen Staates versichert, um ein westliches Verständnis von Demokratie und Menschenrechten nicht zuletzt zur Erreichung (neo-)liberaler ökonomischer Ziele zu exportieren, ohne Rücksicht auf lokale Gegebenheiten und ohne auch für diese Ziele in gleicher Weise inneramerikanisch zu kämpfen. Den Einsatz für Menschenrechte, die Hopgood (wie übrigens auch Moyn) als eine Art säkulare Religion der Moderne begreift, sieht er als krudes Mittel zur Sicherung des amerikanischen Einflusses in der Welt. In dieser Verallgemeinerung lässt sich dem schwer widersprechen, obwohl Hopgood kein Beweismaterial für die wirtschaftspolitische Komponente vorlegen kann. Dass Menschenrechtsaktivisten in postkolonialen Staaten oft auf die Unterstützung westlicher Regierungen und NGOs setzen, wird von Hopgood nur marginal einbezogen (zumal hierzu Untersuchungen fehlen). Auch ordnet er Carter in ein lineares Narrativ vom Aufstieg und Fall »der« Menschenrechte ein. Diese hätten in den siebziger Jahren ihre hohe Zeit erreicht. Mit dem (angeblichen, von ihm überschätzten) amerikanischen Niedergang seit 9/11 sagt er das Ende des westlichen Menschenrechtsregimes voraus. Letztlich sind auch diese kritischen Ansätze einer innerwestlichen (in seinem Fall britischen) Perspektive verpflichtet. Es wäre aufgrund des politischen Streits um die Menschenrechte eine wichtige Aufgabe für die Geschichtswissenschaft, die Reaktionen und Perspektiven der postkolonialen Staaten selbst stärker in die Forschung zu integrieren als dies bisher, auch aufgrund der zum Teil extrem schwierigen Quellenlage, geschehen konnte. 

Weitere Literatur

Brzezinski, Zbigniew: America in a Hostile World, in: Foreign Policy, Heft 23 (1976), S. 65-96.

Borstelmann, Thomas: The 1970s. A New Global History from Civil Rights to Economic Inequality. Princeton, NJ 2012.

Eckel, Jan: Schwierige Erneuerung. Die Menschenrechtspolitik Jimmy Carters und der Wandel der Außenpolitik in den 1970ern, in: GWU 66, H.1/2 (2015), S. 5 – 24.

Emmerich, Alexander/Gassert, Philipp: Amerikas Kriege. Darmstadt 2014.

Glad, Betty: An Outsider in the White House. Jimmy Carter, His Advisors, and the Making of American Foreign Policy. Ithaca/London 2009. 

Hartmann, Hauke: Die Menschenrechtspolitik unter Präsident Carter. Moralische Ansprüche, strategische Interessen und der Fall El Salvador. Frankfurt/Main 2004.

Hebel, Udo: Einführung in die Amerikanistik/American Studies, Stuttgart 2008.

Keys, Barbara: Kissinger, Congress, and the Origins of Human Rights Diplomacy, in: Diplomatic History 34, no. 5 (November 2010), S. 823-851.

Kirkpatrick, Jeane J.: Dictatorships and Double Standards, in: Commentary 69:5 (1979), S. 34-45.

Moyn, Samuel: The Last Utopia. Human Rights in History. Cambridge, Mass. 2010.

Schmidli, William Michael: The Fate of Freedom Elsewhere. Human Rights and U.S. Cold War Policy toward Argentina. Ithaca, NY 2013.

Smith, Tony: America’s Mission. The United States and the Worldwide Struggle for Democracy in the Twentieth Century. Princeton, NJ 1994.

Wiegrefe, Klaus: Das Zerwürfnis. Helmut Schmidt, Jimmy Carter und die Krise der deutsch-amerikanischen Beziehungen. Berlin 2005.

Zitation

Philipp Gassert: Jimmy Carters Rede zur US-Außenpolitik, in: Quellen zur Geschichte der Menschenrechte, herausgegeben vom Arbeitskreis Menschenrechte im 20. Jahrhundert, August 2016, URL: www.geschichte-menschenrechte.de/carter-rede-usaussenpolitik/

  1. Vgl. Kaufman: Plans Unravelled, S. 11 f.; Steding: Human Rights, S. 453; Eckel: Ernerung, S. 9 f.
  2. Vgl. Hartmann: Menschenrechtspolitik, S. 45 f.
  3. Vgl. Keys: Reclaiming American Virtue, S. 222 f.; Borstelmann: 1970s, S. 185
  4. Vgl. Renouard: Human Rights, S. 125 ff.; Keys: Reclaiming American Virtue.
  5. Diese wurden unter dem Titel Human Rights in the World: A Call for U.S. Leadership, Washington 1974 veröffentlicht. Viele der Schlussfolgerungen stellen eine kaum verhüllte Kritik an der Außenpolitik der Nixon-Administration dar.
  6. Brzezinski: America.
  7. Vgl. Renouard: Human Rights, S. 125 f.
  8. »Our moral sense dictates a clearcut preference for those societies which share with us an abiding respect for individual human rights«, Jimmy Carter, Inaugural Address, 20. Januar 1977.
  9. Am prominentesten von Reagans späterer UNO-Botschafterin Jeane J. Kirkpatrick formuliert (vgl. Kirkpatrick: Dictatorships).
  10. Hartmann: Menschenrechtspolitik, S. 68.
  11. Vgl. Pflüger: Menschenrechtspolitik, S. 238 ff.
  12. Cyrus Vance »Human Rights Policy Speech on Law Day at University of Georgia Law School«, 30. April 1977.
  13. Eckel: Erneuerung, S. 7.
  14. Zum Wilsonianismus Smith: America’s Mission; Emmerich/Gassert: Amerikas Kriege.
  15. Vgl. Keys: Kissinger, S. 823 ff.
  16. Vgl. Stucky: Carter, S. 112-116.
  17. Vgl. Eckel: Ambivalenz, S. 480 f.
  18. Vgl. Renouard: Human Rights, S. 149ff.; Schmidli, Fate of Freedom, S. 115ff.
  19. Vgl. Pflüger: Menschenrechtspolitik, S. 224 f.
  20. Vgl. Kaufman: Plans Unravelled, S. 239.  
  21. Damit zeigt Carter erstaunlich viel Verständnis für den sozialrevolutionären Anspruch antikolonialer Freiheitsbewegungen, eine inneramerikanisch in der Deutung von »1776« historisch höchst umstrittene Position, die vor allem seine neokonservativen Kritiker nicht teilten. 
  22. Kennedy’s Inaugural Address, 20. Januar 1961.
  23. Zum Exzeptionalismus Hebel: Einführung, S. 312 ff.
  24. Das folgende bei Pflüger: Menschenrechtspolitik, S. 243 f.
  25. J.J Kirkpatrick, Selective Invocation of Universal Values, zit. bei Pflüger: Menschenrechtspolitik, S. 243.
  26. So Eckel: Ambivalenz, S. 507. 
  27. Vgl. Hopgood: Endtimes of Human Rights.
  28. Vgl. Wiegrefe: Zerwürfnis, S. 139. 
  29. Kaufmann: Plans Unravelled, S. 64 ff.
  30. Siehe auch Schmidli: Fate of Freedom Elsewhere, S. 180 f. 
  31. Vgl. Renouard: Human Rights, S. 140; dies gilt analog in den 1980er Jahren für die Philippinen, ebd., S. 273.
  32. Für diese kritische Sicht vor allem Hopgood: Endtimes.