Im Jahr 1973 entschloss sich eine Gruppe sowjetischer Dissidenten, den ersten Ableger von Amnesty International in der sozialistischen Welt zu gründen. Sie riefen die Zentrale in London an und diktierten einen Brief, der auf der Delegiertenkonferenz der Organisation im September verlesen wurde. Der Brief wirft ein Schlaglicht auf den entstehenden Dialog zwischen sowjetischen Dissidenten und westlichen Menschenrechtsaktivisten. Er verdeutlicht, dass die Sprache der Menschenrechte für die Dissidenten ein Instrument war, das ihnen zunächst als völlig ungewohnt und fremd erschien, das sich aber dennoch als anschlussfähig erwies. Die Wirkungsgeschichte des Briefes zeigt aber auch, welche Spannungen zwischen den Interessen westlicher Menschenrechtsaktivisten und sowjetischer Regimekritiker existierten.
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Moskauer Menschenrechtler an Amnesty InternationalDie Menschenrechtsorganisation Amnesty International präsentierte sich nach ihrer Gründung im Jahre 1961 durch den britischen Rechtsanwalt Peter Benenson als eine Bewegung, die sich aus »Menschen aller Nationalitäten, politischer Überzeugungen, Religionen oder sozialer Vorstellungen zusammensetzt, die entschieden sind, die Meinungsfreiheit zu verteidigen«.[1] Um diese vage Zielformulierung zu konkretisieren, konzentrierte sich Amnesty darauf, auf die Freilassung einzelner Gefangener hinzuwirken, die für ihre Überzeugungen verhaftet worden waren. Diese Gefangenen wurden als prisoners of conscience bezeichnet, insofern sie sich nicht für den Einsatz von Gewalt ausgesprochen oder gewalttätiger Mittel bedient hatten. In seinem Gründungsaufruf erklärte Benenson: »Der Druck der öffentlichen Meinung brachte vor hundert Jahren die Befreiung der Sklaven. Nun ist es an der Zeit für die Menschheit, dafür einzutreten, dass der Geist dieselben Freiheiten erhält, die damals für den Körper erkämpft wurden.«[2] Der achtzehnte und neunzehnte Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte bildeten das Fundament der Agenda von Amnesty International. Dort wird das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, auf freien Zugang zu Informationen und Gedankengut und auf deren Verbreitung definiert.
Trotz der Selbstbeschreibung als eine Bewegung, der Menschen aller Nationalitäten und Religionen angehörten, kamen die Mitglieder von Amnesty International anfangs fast ausschließlich aus der englischsprachigen Welt und Westeuropa. Bei der Auswahl der prisoners of conscience hingegen legte die Organisation großen Wert darauf, den Eindruck der Universalität und Überparteilichkeit aufrecht zu erhalten. Geleitet von den geographischen Vorstellungen des Kalten Krieges, wonach es neben einer ersten und zweiten auch eine »Dritte Welt« gab, verfolgten Benenson und seine Mitstreiter den Anspruch, die zu »adoptierenden« Gefangenen zu gleichen Teilen aus Entwicklungsländern, kapitalistischen und kommunistischen Staaten auszuwählen – ein Anspruch, der leichter zu formulieren denn umzusetzen war. Jede lokale Gruppe war gehalten, sich jeweils für drei Häftlinge einzusetzen – einer aus jeder Kategorie – und niemals für einen Häftling aus dem eigenen Land. »Es gibt Organisationen, die in einem sehr begrenzten ideologischen Rahmen arbeiten, um Menschen zu helfen, deren Überzeugungen mit ihren eigenen übereinstimmen. Unsere Stärke liegt darin, dass wir in solchen Fällen für keine Seite Partei ergreifen.«[3] Mit dieser spezifischen Mischung aus Engagement und Abstand praktizierte und institutionalisierte Amnesty eine gezielt distanzierte Empathie, eine neue Art der Nächstenliebe, die nur von Fremden kommen konnte.
Über weit entfernte Regionen zu arbeiten, stellte die Mitglieder vor besondere Herausforderungen. Wie sollte man rechtzeitig an belastbare Informationen über einen Häftling gelangen, der sich tausende Kilometer entfernt in der Hand eines Regimes befand, das großen Wert auf Geheimhaltung legte? Zur Zeit der Gründung von Amnesty kursierten unzählige Gerüchte und Spekulationen über überfüllte sowjetische Lager. Doch konkrete Informationen fehlten sowohl innerhalb als auch außerhalb der Sowjetunion fast vollständig. Auf dem 21. Parteikongress der KPdSU 1959 hatte Chruschtschow wortkarg erklärt, dass nicht nur der Personenkult um Stalin beendet worden sei, sondern dass es in der Sowjetunion auch keine politischen Gefangenen mehr gebe.[4]
Die Zahl der wegen »antisowjetischer Aktivitäten« inhaftierten Bürger war tatsächlich seit der Zeit Stalins zurückgegangen, wenn auch nicht in dem Ausmaß, wie Chruschtschow dies behauptete. In den Jahren 1957 und 1959 war sie allerdings erneut angestiegen; 2.380 Bürger wurden in diesem Zeitraum für »antisowjetische Aktivitäten« verurteilt.[5] Antireligiöse Kampagnen des Staates hatten beispielsweise zur Verhaftung hunderter Baptisten und anderen Christen geführt. Die Verhaftung der Schriftsteller Andrei Sinjavaski und Juli Daniel im September 1965 stieß eine Entwicklung an, die in der ersten öffentlichen Kampagne für Bürgerrechte hinter dem Eisernen Vorhang münden sollte. Getragen wurde sie von einer losen Koalition von Naturwissenschaftlern, Mathematikern und anderen Vertretern der städtischen Intelligenz.
Die Entstehung der Dissidentenbewegung, die nicht zuletzt eine Reaktion auf das Ende des Massenterrors war, traf sowohl die sowjetische Regierung als auch die westlichen Beobachter völlig unvorbereitet. Ein internes Memorandum von Amnesty erklärte, dass das zentrale Problem in Fällen sowjetischer Dissidenten darin liege, dass es keine substanziellen Informationen über die Sowjetunion gebe. Dokumente, die aus der Sowjetunion herausgeschmuggelt wurden, erreichten die Zentrale in London oft erst Jahre nach den Ereignissen, die sie schilderten. Doch das änderte sich Ende der sechziger Jahre, als Kopien der Chronik der laufenden Ereignisse und anderer Samisdat-Schriften im Westen Verbreitung fanden. Was als Informations-Rinnsal begonnen hatte, wurde innerhalb weniger Jahre zu einem ununterbrochenen Strom. 1970 lobten Amnesty-Mitarbeiter die »enormen Verbesserungen des Informationsflusses« aus der Sowjetunion.[6] Mitte der siebziger Jahre sahen sie sich bereits mit dem Problem konfrontiert, dass zu viele Samisdat-Schriften die Zentrale in London erreichten. Die eingehenden Texte konnten nicht mehr vollständig übersetzt und an die hunderten lokalen Gruppen verteilt werden, die einzelne sowjetische Häftlinge »adoptiert« hatten.[7] Die Ausbreitung der Samisdat-Schriften trug wesentlich zur Professionalisierung von Amnesty wachsender Forschungsabteilung bei, die 1970 einen Spezialisten für die Sowjetunion einstellte und ein Jahr später eine Arbeitsgruppe einrichtete, die die eingehenden Schriften sammelte und übersetzte.[8]
Doch auch in die entgegengesetzte Richtung nahm der Informationsfluss zu. Anfang der siebziger Jahre hatte Andrei Twerdochlebow Kontakt mit der niederländischen Sektion von Amnesty und einem Ableger in New York aufgenommen, der Group 11, die beide ein besonderes Interesse an der Sowjetunion zeigten. Der Sohn eines Diplomaten und ehemaligen Vize-Kultusministers war in der Dissidentenbewegung aktiv und unterzeichnete Briefe zur Verteidigung seines Kollegen Andrei Sacharow, des Schriftstellers Alexander Solschenizyn oder des Theologen Anatolii Lewitin-Krasnow. Auf seine Anfrage hin ließen die Mitglieder der Group 11 ihm Veröffentlichungen von Amnesty zukommen, darunter auch das Jahrbuch und die US-Ausgabe des Handbook for Groups. 1973 begannen Twerdochlebow und der Ingenieur Wladimir Archangelski, die sich zu unersättlichen Konsumenten des Amnesty-Materials entwickelt hatten, Auszüge zu übersetzen und zusammen mit anderen Menschenrechtstexten in einer Samisdat-Schrift zu veröffentlichen, die sie schlicht Amnesty International nannten.[9] Das war zu viel für die Fünfte Abteilung des KGB, die 1967 speziell für die Aufgabe gegründet worden war, die »von auswärts kommende ideologische Expansion zu bekämpfen«.[10] In der Nacht vom 27. auf den 28. August 1973 durchsuchte die Sicherheitspolizei Twerdochlebows Wohnung und beschlagnahmte tausende Dokumente, darunter auch Material von Amnesty, den Vereinten Nationen und verschiedenen anderen Organisationen, die sich mit Völkerrecht befassten.[11]
Trotz, oder vielleicht auch gerade aufgrund dieser Hausdurchsuchung beschlossen Twerdochlebow, Archangelskii und mehrere andere Naturwissenschaftler eine neue Organisation, die Gruppa-73, zu gründen. Indem sie sich als Gruppe bezeichneten und eine Nummer verwendete, gaben sie zu verstehen, dass sie sich als lokalen Ableger von Amnesty verstanden. In ihrer Satzung hieß es, man habe »internationale Erfahrung bei der Hilfe von Häftlingen und deren Familien« und verwies auf »die Erfahrung von Amnesty International, deren Ziel es ist, prisoners of conscience und politischen Häftlingen Hilfe zu leisten.«[12] Archangelskii reichte beim Moskauer Stadtrat einen Antrag zur Einrichtung eines Bankkontos ein, um Spenden sammeln zu können. Nachdem dieser Antrag abgelehnt worden war,[13] griff Twerdochlebow am 10. September 1973 zum Hörer und diktierte den Amnesty-Mitarbeitern in London einen Brief in den Schreibblock. Wenige Tage später, am 15. September 1973, wurde dieser Brief vor hunderten Delegierten verschiedener lokaler Gruppen von Amnesty International aus zwei Dutzend Ländern verlesen, die sich zum jährlichen Treffen im Albert Schweitzer Haus in Wien versammelt hatten.
Das Schreiben der Gruppa-73 beginnt mit einer Litanei verschiedener Phrasen aus dem Lexikon des offiziellen sowjetischen Diskurses. Jeder Sowjetbürger, der das Erwachsenenalter erreichte, hatte solche Phrasen tausende Male in Radio- und Fernsehsendungen gehört oder in Zeitungen und auf Plakaten gelesen, die in Schulen, auf öffentlichen Plätzen oder auf dem Arbeitsplatz aushingen. Viele von ihnen hatten diese Phrasen selbst wiederholt, sei es auf Universitätsveranstaltungen oder in den obligatorischen Seminaren zur politischen Erziehung, an denen Fabrik- und Büroangestellte teilnehmen mussten. Die ständige Wiederholung hatte im Laufe der Zeit die Bedeutung ausgehöhlt und sie zu performativen Übungen werden lassen, mit denen man seine Übereinstimmung mit den offiziellen Normen bekundete. Wie es in dem Brief heißt, waren die »politische Massenaktion« oder der »Kampf für soziale Rechte« Themen, von denen man annahm, die Welt befasse sich mit ihnen – nicht Themen, mit denen sich die Autoren selbst befassten. Für viele Sowjetbürger ging es nicht um die Frage, ob man an den offiziellen Diskurs glaubte oder nicht. Vielmehr wurde er für selbstverständlich genommen und aus der Distanz beobachtet.
Anschließend wenden sich die Verfasser einzelnen Wörtern zu, die ethische Normen benennen. Indem Begriffe wie »Gewissen«, »Würde« und »Überzeugung« ausschließlich in Bezug auf Individuen verwendet werden, setzen die Autoren sie in einen Gegensatz zum Staat und zur Gesellschaft. Deshalb lautet die zentrale Frage: Wer kann verhindern, dass diese Begriffe wie die offiziellen Phrasen ihrer Bedeutung beraubt werden und ihren moralischen Wert verlieren; wer außer die eigene Familie und die eigenen Freunde? Die völlig unerwartete Antwort lautet: der weit entfernt lebende Fremde von Amnesty International. Für Twerdochlebow, Archangelskii und andere wiederbelebte die Sprache von Amnesty – die Sprache eines engagierten Menschenrechtsaktivismus – bestimmte ethische Normen und verlieh ihnen über die private Sphäre hinaus eine öffentliche, ja globale Bedeutung. Ohne diesen Begriff zu verwenden, schwingt darin ein zentrales literarisches Konzept aus der russischen Tradition mit: Otstranenije – Entfamiliarisierung. Es bezeichnet die Praxis, Gegenstände oder Ideen aus einem ungewohnten Winkel zu betrachten und ihm auf diese Weise eine neue Bedeutung zu verleihen. Ludmilla Alexeyeva schrieb in ihren Memoiren über die Geburt der Dissidentenbewegung: »Das Wort glasnost hatte keine politische Bedeutung. Bevor der Dissident Alexander Jesenin-Wolpin es seiner gebräuchlichen Nutzung entfremdete, rief es keine Emotionen hervor.«[14] Amnestys Sprache hatte einen ähnlichen Effekt: Gewisse ethische Kategorien wurden aus der privaten Sphäre gerissen und in einem neuen Kontext verwendet.
Begriffe wie »Gewissen«, »Würde« und »Überzeugung« waren natürlich nicht neu. Im Gegenteil: sie waren festetablierte Elemente im öffentlichen Diskurs. Die Kommunistische Partei wurde nicht müde, sich selbst als »Geist, Ehre und Gewissen unserer Epoche« zu bezeichnen – eine Phrase, die in gigantischen Buchstaben auf Gebäuden prangte oder auf Postkarten und Kalendern zu finden war. In der nachstalinistischen Ära ordnete man solche Werte allerdings in der Regel dem privaten Bereich zu, dem Archipel kleinster Mikro-Welten, aus denen sich die sowjetische Gesellschaft zusammensetzte. Diese Entwicklung lässt sich wohl am besten mit dem von Max Weber geprägten Begriff der Entzauberung fassen, den er als einen Prozess definiert, durch den »gerade die letzten und sublimsten Werte zurückgetreten sind aus der Öffentlichkeit, entweder in das hinterweltliche Reich mystischen Lebens oder in die Brüderlichkeit unmittelbarer Beziehungen der Einzelnen zueinander.«[15]
Die Neuerung, die der Ansatz von Amnesty brachte, lag darin, dass er eine scheinbar private, apolitische, aus dem Bereich der Freundschaft und der Familie stammende Ethik auf die Beziehungen zu Fremden ausweitete. Für die Mitglieder der Gruppa-73 war nicht nur Amnestys Zielsetzung, sondern auch ihre Organisationsform ein Modell für eine zukünftige, globale Gesellschaft. »Amnesty ist ein bedeutsames neues Phänomen im internationalen Leben«, schrieben sie einige Jahre später an den Internationalen Rat. »Diese Organisation steht über den politischen Kämpfen und arbeitet gleichzeitig an der Lösung der wichtigsten politischen Probleme, nämlich solche, die die persönlichen Rechte betreffen. Das ist ein großes Unternehmen, dem eine große Zukunft bestimmt ist. Wir glauben, dass ein echtes Zusammenleben aller freien Menschen auf nationaler und globaler Ebene nur erreicht werden kann, wenn Menschen ihr Handeln an den Prinzipien und Methoden ausrichten, die Amnesty angenommen hat.«[16] Nun, da die Kommunikation zwischen sowjetischen Dissidenten und Amnesty nicht mehr über den Umweg geschmuggelter Dokumente, sondern innerhalb von Sekunden über Telefon hergestellt werden konnte, waren die technologischen Voraussetzungen für diese Gesellschaft geschaffen.
Am 6. Oktober 1973, weniger als einen Monat nachdem der Gruß aus Moskau auf dem Wiener Treffen verlesen worden war, baten die Mitglieder der Gruppa-73 darum, als lokale Amnesty-Gruppe registriert zu werden.[17] Die Reaktionen in der Londoner Zentrale gingen weit auseinander. Auf der einen Seite bot die Anfrage aus Moskau eine Möglichkeit, auf die Vorwürfe zu reagieren, dass Amnesty nicht wirklich eine internationale Bewegung sei, sondern letztlich westlichen Interessen im Kalten Krieg diene und ein Instrument des Neokolonialismus sei. Bisher gab es in keinem sozialistischen Land eine Filiale und lediglich eine Handvoll Einzelmitglieder. Bereits 1969 hatte Amnesty in seinem Jahresbericht von der Notwendigkeit geschrieben, »die Verbindungen mit Ländern zu verstärken, in denen wir bisher nicht Fuß fassen konnten.«[18] Nach wie vor war Amnesty fast ausschließlich eine Organisation der »Ersten Welt«. Aus diesem Teil der Welt kamen 1.801 der insgesamt 1.817 lokalen Gruppen.[19] Diejenigen, die aus anderen Regionen kamen, spielten fast ausschließlich als Hilfsempfänger eine Rolle. Sie wurden von Aktivisten aus dem Westen »adoptiert« – um eine aus dem Bereich der Familie entlehnte Metapher von Amnesty zu nutzen. Für Amnesty waren Menschenrechte weniger ein Instrument der Selbstverteidigung, als vielmehr ein Mittel, um die internationale Politik moralischer zu machen.[20]
Moralische Autorität oder – etwas anders ausgedrückt – die Investition in moralisches Kapital spielte eine zentrale Rolle in der Arbeit von Amnesty. Das war der Grund, warum sich die Mitglieder der Gruppa-73 von einer Anerkennung aus London einen lohnenden Ertrag versprachen. Eine Amnesty-Gruppe in Moskau würde selbstverständlich kaum Zugang zu den sowjetischen Massenmedien erhalten und deshalb wenig Einfluss auf die öffentliche Meinung im eigenen Land ausüben können. Aber sie hätte einen »gewaltigen Zugang zur internationalen Presse, um den es viele andere Amnesty-Gruppen beneiden würden«, wie es Dirk Börner von der Hamburger Gruppe ausdrückte. Bezugnehmend auf eine bekannte britische Atomgegnerin, die bereits mehrmals verhaftet worden war, bemerkte er: »Die britische Regierung wird sich sicherlich nicht von irgendeinem Protest gegen Pat Arrowsmiths Inhaftierung beeindrucken lassen, der in der Prawda abgedruckt wird. Aber sie würde gehörig in Verlegenheit geraten, wenn diese Kritik von einer sowjetischen Dissidentengruppe käme und in der Londoner Times abgedruckt wäre. So eine Amnesty-Gruppe könnte sicherlich mehr erreichen als zehn deutsche Gruppen.«[21] Eine Filiale in Moskau bedeutete deshalb nicht nur, dass man im Epizentrum der sozialistischen Welt vertreten wäre, sondern sie könnte gerade jenseits dieser Welt enormen moralischen Einfluss ausüben.
Auf der anderen Seite würde die Anerkennung der Gruppa-73 einen sorgfältig gepflegten Informationskanal in den Kreml torpedieren, den das von Seán MacBride geleitete Exekutivkomitee über Jahre hinweg aufgebaut hatte. Aus Sicht MacBrides und anderer selbsternannter Realisten bei Amnesty war es unabdingbar, funktionierende Verbindungen mit Staaten aufzubauen, gerade dann, wenn diesen grausame Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen wurden. Schließlich waren politische Häftlinge fast immer Häftlinge eines Staates, und nur Staaten konnten über eine Freilassung entscheiden. Anfang der siebziger Jahre hatte MacBride die Sowjetunion in seiner Funktion als Vorsitzender des International Peace Bureau mehrmals besucht, um den »Weltkongress der Friedenskräfte« zu planen, der im Oktober 1973 in Moskau stattfinden sollte. Seine Verbindungen ermöglichten es ihm, mit dem sowjetischen Botschafter in London und staatlichen Stellen in Moskau über die Aktivitäten von Amnesty zu sprechen. Die Moskauer Behörden stellten für ihn Kontakte zur Gesellschaft Sowjetischer Juristen her, die sie für ein Pendant der westlichen Menschenrechtsorganisation hielten. Auch wurden Vertreter von Amnesty zu Sitzungen des Weltkongresses eingeladen, auf denen das Thema Menschenrechte verhandelt wurde. Es war das erste Mal, dass es Amnesty erlaubt wurde, eigene Mitarbeiter in ihrer offiziellen Funktion und nicht als Touristen in die Sowjetunion zu entsenden.
Innerhalb Amnestys kam es zu einer tiefen Spaltung zwischen jenen, die für einen Beitritt der Gruppa-73 waren, und jenen, die sich von einem Dialog mit staatlichen Stellen mehr versprachen. MacBride argumentierte, dass Amnesty-Gruppen in Ländern, in denen »demokratische Institutionen und bürgerliche Freiheiten entweder schwach oder nicht existent waren«, schlicht nicht funktionieren konnten.[22] Angesichts von Manipulationen durch den Staat oder aber auch durch seine Gegner wären solche Gruppen gar nicht in der Lage, die für die Arbeit von Amnesty so zentrale ideologische Neutralität aufrecht zu erhalten. Andere Mitglieder bestanden darauf, dass die eigenen Prinzipien es verlangten, die Anfrage aus Moskau anzuerkennen. Beide Seiten waren sich einig, dass man nicht beides haben konnte: eine eigene Filiale in Moskau und Beziehungen zu staatlichen Stellen. Der Kreml würde jede Organisation meiden, die Kontakte zu sowjetischen Dissidenten unterhielt. Aus diesem Grund lehnte es MacBride bei seinen Reisen nach Moskau auch ab, sich mit Twerdochlebow zu treffen.
Amnesty stand unter Handlungsdruck: Dieselben Mechanismen, die die Verbreitung von Samisdat-Schriften im Westen ermöglichten, konnten jederzeit dafür sorgen, dass die Anfrage der Gruppa-73 öffentlich bekannt wurde. Bei einer Ablehnung war mit der Abwendung der sowjetischen Dissidenten von Amnesty zu rechnen. Sie hätte zudem das Image beschädigt, eine unparteiische Organisation zu sein, die sich für universale Rechte einsetzte. Im September 1974 trat MacBride von seinem Posten als Vorsitzender des Exekutivkomitees zurück, woraufhin die Gruppa-73 formal anerkannt wurde – nicht als nationale Sektion, sondern als lokale Gruppe.
Die Vorhersagen zum hohen moralischen Stellenwert der Moskauer Gruppe erwiesen sich als zutreffend: Innerhalb weniger Jahre trug sie zur Befreiung von Häftlingen in Spanien, Sri Lanka und Uruguay bei. Eine Pressemitteilung der Londoner Zentrale von 1976 ließ keine Zweifel an den Vorteilen: »Uruguayische Regierung und Medien hatten Amnesty wiederholt als ›kommunistisch inspiriert‹ denunziert – ein Vorwurf, den Amnesty mit Verweis auf seine Arbeit für Häftlinge in allen Teilen der Welt, auch in der Sowjetunion, zurückgewiesen hat. Die Tatsache, dass zahlreiche prominente sowjetische Bürger die Petition an Präsident Bordaberry unterzeichnet haben, die unter hohem persönlichen Risiko für Menschenrechte in der UdSSR kämpfen, ist ein Beleg dafür, dass die Sorge über die Folter von Häftlingen in Uruguay auf einen universalen Humanitarismus gründet. Sie zeigt, dass der Vorwurf der uruguayischen Regierung, Amnestys Kampagne sei ›kommunistisch motiviert‹, nicht zutrifft.«[23]
Allerdings trafen auch die Vorhersagen zu, dass der modus operandi von Amnesty im sowjetischen Umfeld nicht lange funktionieren konnte. In einem Memorandum vom April 1975 kamen der KGB-Vorsitzende Juri Andropow und Staatsanwalt Roman Rudenko zu dem Schluss, dass die Mitglieder der Gruppa-73 mit ihrem Antrag versucht hätten, »ihre antisowjetischen Aktivitäten zu legalisieren und ein gewisses Maß an Immunität für eine Gruppe von Renegaten zu erlangen.«[24] In einer erstaunlichen Fehlinterpretation von Amnestys Namen und Mission warfen Andropow und Rudenko der Organisation vor, seinen Mitgliedern eine Art extraterritorialen Status sichern zu wollen, wie er während des neunzehnten Jahrhunderts für die Bürger der europäischen Kolonialmächte in China, Japan, Nordafrika und im Osmanischen Reich üblich gewesen war. In den Augen der sowjetischen Behörden stellte die »distanzierte Empathie« Amnestys eine Art heimlicher neokolonialer Einflussnahme auf einen souveränen Staat dar.
Innerhalb weniger Monate nach der Anerkennung der Moskauer Gruppe verhaftete der KGB die Mitglieder Sergei Kowaljow und Andrei Twerdochlebow. Walentin Turtschin verlor seinen Job als Software-Designer und wurde auf eine Schwarze Liste gesetzt, wodurch er Gefahr lief, wegen »Parasitarismus« – sprich Arbeitslosigkeit – verhaftet zu werden. Die Veröffentlichung des Buches Politische Gefangene in der UdSSR, ihre Behandlung und ihre Haftbedingungen (1975) in acht verschiedenen Sprachen, entfesselte die Wut der Sowjetregierung gegen die Moskauer Gruppe endgültig. Die elf Gründungsmitglieder sahen sich ständigen Drohungen ausgesetzt. Sergei Kowaljow wurde zu sieben Jahren Haft in Perm 36 verurteilt, einem berüchtigten Straflager im Ural, sowie zu drei weiteren Jahren Exil. Juri Orlow erhielt ein ähnliches Urteil und wurde ins nicht weit entfernt davon gelegene Perm 35 geschickt. Andrei Twerdochlebow befand sich fast drei Jahre im Gefängnis und sibirischen Exil, bevor er in die USA emigrierte. Nach Jahren der Arbeitslosigkeit und Haftandrohungen akzeptierte Walentin Turtschin schließlich das Angebot des KGB, zu emigrieren. Wladimir Albrecht wurde auf eine Schwarze Liste gesetzt und ständig von KGB-Agenten beschattet, die sich keine Mühe gaben, unerkannt zu bleiben. Sie drohten, ihn zu schlagen oder vor eine U-Bahn zu stoßen. Ein Agent informierte ihn: »Sobald ich den Befehl erhalte, töte ich dich.«[25] Nach vier Jahren im Gefängnis emigrierte Albrecht in die USA. In seiner Jahresübersicht 1982 hielt der neue KGB-Vorsitzende Wiktor Tschebrikow fest, dass die »sogenannte russische Sektion von Amnesty International aufgelöst worden sei und gegen seine aktivsten Mitglieder strafrechtlich vorgegangen werde.«[26] Dieser Erfolg sollte sich als Pyrrhus-Sieg erweisen.
Aus dem Englischen von Daniel Stahl
Alexeyeva, Ludmilla / Goldberg, Paul: The Thaw Generation: Coming of Age in the Post-Stalin Era. Pittsburgh 1990.
Beyrau, Dietrich: Intelligenz und Dissens: Die russischen Bildungsschichten in der Sowjetunion 1917-1985. Göttingen 1983.
Boobbyer, Philip: Conscience, Dissent and Reform in Soviet Russia. London 2005.
Hornsby, Robert: Protest, Reform and Repression in Khrushchev’s Soviet Union. Cambridge 2013.
Beyraus Studie über die Entstehung des Dissenses in der post-stalinistischen Intelligenz bietet einen hilfreichen Überblick über das Milieu, aus dem Twerdochlebow und andere sowjetische Amnesty-Aktivisten kamen. Die Memoiren von Ludmilla Alexeyeva sind ein informativer und leicht zugänglicher Bericht einer solchen Aktivistin. Hornsby untersucht auf der Grundlage neu zugänglichen Archivmaterials andere, stärker verbreitete Formen des Protests, und fragt nach den Reaktionen der sowjetischen Regierung. Boobbyer analysiert die ethischen Normen der Dissidentenbewegung und betont deren neo-religiöse Orientierung.
Buchanan, Tom: »The Truth Will Set You Free«: The Making of Amnesty International, in: Journal of Contemporary History, 37:4 (2002), S. 575-597.
Clark, Ann Marie: Diplomacy of Conscience - Amnesty International and Changing Human Rights Norms. Princeton 2012.
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Hopgood, Stephen: Keepers of the Flame: Understanding Amnesty International. Ithaca 2006.
Den umfassendsten Überblick über die Geschichte von Amnesty International findet man bei Eckel. Buchanan untersucht die tiefreligiöse Orientierung des Gründers der Organisation, Peter Benenson. Hopgood analysiert in seiner informativen ethnographischen Studie Amnestys interne Kultur als eine Form säkularer Religion. Die Organisation habe vor der Herausforderung gestanden, moralisches Kapital in politische Autorität zu transformieren. Die Politikwissenschaftlerin Clark vertritt eine ähnliche Deutung, indem sie Amnesty als »moralischen Unternehmer« beschreibt. Als nichtstaatlicher Akteur habe die Organisation die Bedeutung menschenrechtlicher Normen in den internationalen Beziehungen mittels eines »kommunikativen Prozesses« im Sinne Habermas’ geprägt.
Annual Report of Amnesty International. London 1962-1985.
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Hopgood, Stephen: Keepers of the Flame. Understanding Amnesty International. Ithaca 2006.
Nathans, Benjamin: Die Entzauberung des Sozialismus: Sowjetische Dissidenten, Menschenrechte und die neue globale Moralität, in: Jan Eckel und Samuel Moyn (Hg.): Moral für die Welt? Menschenrechtspolitik in den 1970er Jahren. Göttingen 2012, S. 100-119.
Power, Jonathan: Like Water on Stone: The Story of Amnesty International. Boston 2001.
Wawra, Ernst: Die Entidologisierung des Menschenrechtsbegriffs der sowjetischen Andersdenkenden, in: Norbert Frei, Annette Weinke (Hg.): Toward a New Moral World Order? Menschenrechtspolitik und Völkerrecht seit 1945. Göttingen 2013, S. 193-202.
Benjamin Nathans: Moskauer Menschenrechtler an Amnesty International, in: Quellen zur Geschichte der Menschenrechte, herausgegeben vom Arbeitskreis Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Mai 2015, URL: http://geschichte-menschenrechte.de/moskau-menschenrechtler-amnesty-int/
Moskauer Menschenrechtler an Amnesty International
von Benjamin Nathans