Die gewaltsame Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung am 4. Juni 1989 durch die Regierung in Peking hatte zur Folge, dass Menschenrechte ein zentrales Thema in den Auslandsbeziehungen der Volksrepublik wurden. International wurde der chinesische Parteistaat für sein Vorgehen gebrandmarkt. Einige Staaten – darunter die Vereinigten Staaten von Amerika und alle Mitglieder der Europäischen Union – verhängten politische und wirtschaftliche Sanktionen. Die UN-Unterkommission zur Förderung und zum Schutz von Menschenrechten verabschiedete am 31. August 1989 eine kritische Resolution. Das Ansehen Chinas war nachhaltig beschädigt. Im November 1991 reagierte das oberste Verwaltungsorgan der Volksrepublik, der Staatsrat, auf die nicht ablassende internationale Kritik mit der Veröffentlichung eines Weißbuchs über Menschenrechte in China. Mit seiner relativistischen Position befeuerte es eine internationale Diskussion über die Universalität der Menschenrechte, die im Vorfeld der Wiener Menschenrechtskonferenz von 1993 kontrovers geführt wurde. Das Weißbuch aus dem Jahr 1991 prägt die Grundzüge der chinesischen Menschenrechtsdiplomatie bis heute und ist ein einschlägiges Beispiel für den Versuch autoritärer Staaten, internationale Menschenrechtskritik durch einen Gegendiskurs zu entkräften.
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Wirkungsgeschichte
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Das Weißbuch ist ein außenpolitischer Schlüsseltext aus dem post-maoistischen China. Unter Mao Zedong waren Menschenrechte noch als Slogan der Bourgeoisie abgetan worden; der Schutz individueller Rechte hatte im Klassenkampf keinen Platz. Wenige Jahre nach Maos Tod, am 4. Dezember 1982, trat im Rahmen der Reform- und Öffnungspolitik von Deng Xiaoping eine neue Verfassung in Kraft, die dem Klassenkampf geringere Bedeutung zumaß und den Grundrechten der Bürger ein eigenes Kapitel widmete. Darin enthalten sind zum Beispiel die Gleichheit vor dem Gesetz, Rede-, Versammlungs- und Glaubensfreit, das Recht auf Arbeit, Erholung, Bildung und Versorgung im Krankheitsfall oder Alter. Das Kapitel nennt jedoch auch Pflichten. Alle Bürgerrechte werden explizit den Interessen des Staates, der Gesellschaft und des Kollektivs untergeordnet (Art. 51). Im Gegensatz zur Idee der Menschenrechte, die einen universellen Gültigkeitsanspruch erhebt und jedem Individuum von Natur aus Rechte zugesteht, kennt die chinesische Verfassung von 1982 nur Bürgerrechte, die der Staat je nach Verhalten des Bürgers gewährt oder einschränkt. Diese Verfassung gilt in China bis heute. Sie wurde 2004 allerdings durch einen Zusatz ergänzt, der die Achtung der Menschenrechte verspricht. Das Weißbuch aus dem Jahr 1991 war das erste außenpolitische Regierungsdokument der Volksrepublik China, in dem der Begriff der Menschenrechte explizit anerkannt wurde.
Weißbücher sind Grundsatzdokumente, die Leitlinien des politischen Handelns erklären und nicht zuletzt gegenüber dem Ausland rechtfertigen sollen. In welcher Form die Inhalte des Weißbuchs Menschenrechte in China vor der Veröffentlichung im November 1991 unter chinesischen Amtsträgern und Parteikadern erörtert wurden, ist schwer nachzuvollziehen, weil derartige Entscheidungsprozesse in China intransparent sind. Es gab vor der Veröffentlichung allerdings eine Serie von Menschenrechtskonferenzen, die das Weißbuch vermutlich beeinflusst haben. Zum Beispiel fand im Juni 1991 an der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften ein Symposium zum Thema statt.[1] Die Akademie ist keine unabhängige wissenschaftliche Forschungsstätte, sondern direkt dem Staatsrat unterstellt und dem politischen Kalkül des Parteistaates untergeordnet. Das Weißbuch war demnach das Ergebnis von Konsultationen zwischen regimetreuen Experten und Propagandafunktionären, die sich laut Marina Svensson seit dem Tiananmen-Massaker von 1989 wiederholt darüber ausgetauscht hatten, wie Chinas Regierung die internationale Menschenrechtskritik besänftigen könne.[2] Öffentliche Konsultationen mit unabhängigen chinesischen Rechtswissenschaftlern oder relevanten Akteuren der Zivilgesellschaft fanden hingegen nicht statt – die politische Steuerung eines solchen Prozesses wäre zwei Jahre nach dem Massaker für den Einparteienstaat viel zu riskant und im fortdauernden Klima der Angst praktisch unmöglich gewesen. Insofern sollte das Weißbuch aus dem Jahr 1991 nicht als Ausdruck einer innerchinesischen Debatte über Menschenrechte gelesen, sondern vielmehr als außenpolitisches Instrument des chinesischen Parteistaates verstanden und analysiert werden.
In der Volksrepublik China gibt es ein weit gefächertes Propagandasystem (xuanchuan xitong), in dessen Zentrum die Propagandaabteilung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas steht. Der Begriff Propaganda ist für chinesische Kommunisten im Einklang mit seiner leninistischen Tradition positiv belegt und bezeichnet die Vermittlung der kommunistischen Ideologie sowie die Zensur konkurrierender Ideen. Entsprechend taucht der Begriff im Eigennamen einiger Institutionen auf. Wegen der negativen Konnotation des Begriffs im Ausland bevorzugt der chinesische Parteistaat mittlerweile andere Übersetzungen – im englischen Sprachraum zum Beispiel ist vom »publicity department« statt vom »propaganda department« die Rede. Im Chinesischen wird der Propaganda-Begriff jedoch weiterhin unverändert genutzt.
Die Propaganda-Abteilung des Zentralkomitees ist für die sogenannte ideologische Arbeit zuständig und spielte eine zentrale Rolle in der Ausarbeitung des Weißbuchs. Im chinesischen Parteistaat sind Parteistrukturen und staatliche Organe eng miteinander verknüpft. So wird die bürokratische Umsetzung der Propaganda und Zensur von staatlichen Organen durchgeführt. Auch das Informationsbüro des Staatsrates, welches das Weißbuch im November 1991 herausgab, ist Teil des Propagandasystems. Das sogenannte Informationsbüro wurde am 25. Januar 1991 ins Leben gerufen, ist allerdings mit der am 8. April 1980 gegründeten Abteilung für Auswärtige Propaganda des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei identisch. Diese Art doppelte Namensführung ist in China keine Seltenheit. Die Praxis wird als yige jigou, liangge paizi bezeichnet – ein Organ, zwei Schilder. Dahinter verbirgt sich die Verquickung von staatlicher Verwaltung und kommunistischer Parteistruktur.[3]
Auch wenn das Weißbuch also offiziell unter dem unverfänglicheren Label eines staatlichen Informationsbüros veröffentlicht wurde, ist es dennoch ein Produkt des Propagandaapparats der Kommunistischen Partei Chinas. 1991, dem Erscheinungsjahr des Weißbuches, wurde das Informationsbüro beziehungsweise die Abteilung für Auswärtige Propaganda von Zhu Muzhi geleitet, einem langjährigen Kader der Propagandaabteilung der Kommunistischen Partei. In seinen Verantwortungsbereich fiel damals nicht nur die Erstellung von Weißbüchern, sondern auch die Entwicklung von Propaganda speziell für ausländische Journalisten, in China lebende Ausländer, Geschäftsleute und Touristen. Bereits am 17. Juni 1989, also nur wenige Tage nach dem Tiananmen-Massaker, hatte Zhu Muzhi andere Kader der Propagandaabteilung auf einen »Kampf um die globale öffentliche Meinung« eingeschworen.[4]Zwei Jahre später übernahm er das eigens zu diesem Zweck eingerichtete Informationsbüro und ließ das erste Weißbuch über Menschenrechte in China veröffentlichen. Später sollte Zhu Muzhi Ehrenpräsident der chinesische Gesellschaft für Menschenrechtsstudien werden, einer staatlich kontrollierten, als NGO auftretenden Institution. In dieser Rolle verteidigte Zhu Muzhi Chinas Menschenrechtslage gegenüber zahlreichen ausländischen Delegationen, die in den folgenden Jahren für Menschenrechtsdialoge nach China kamen.
Die derart vorangetriebene Verstärkung der auswärtigen Propaganda ging auf eine Anweisung des damaligen Generalsekretärs des Zentralkomitees und späteren chinesischen Präsidenten Jiang Zemin zurück.[5] Sie war eine Reaktion auf Chinas internationale Isolation nach dem Tiananmen-Massaker, die sich nach dem Fall der Mauer in Deutschland und der Überwindung des Kommunismus in Osteuropa Ende 1989 nochmals verstärkt hatte. Chinas Ansehen im Ausland war Anfang der neunziger Jahre durchaus wichtig für die politische Führung in Peking, denn ohne ausländische Investitionen konnte die Kommunistische Partei den Modernisierungsprozess und den wirtschaftlichen Aufschwung nicht vorantreiben. Weil auch die inländische Legitimität der Partei nach dem Massaker von 1989 stark beschädigt war, wurde der wirtschaftliche Aufschwung als regimestabilisierender Faktor umso wichtiger. Es war daher eine Frage des Regimeerhalts, ob es dem Parteistaat gelingen würde Kritik abzuwehren, die eigene Reputation im In- und Ausland zu retten und ausländische Investitionen zu sichern. Aus diesem Grund wurde erstmals in der Geschichte der Volksrepublik ein außenpolitisches Grundsatzdokument über Menschenrechte veröffentlicht. Das Weißbuch von 1991 sowie weitere Weißbücher in den folgenden Jahren lieferten Parteikadern und Diplomaten einen detaillierten Argumentationsleitfaden für den Umgang mit internationaler Kritik an Chinas Menschenrechtssituation.
Das Weißbuch ist in ein Vorwort und zehn Kapitel aufgeteilt. Im Vorwort werden »die drei Berge« Imperialismus, Feudalismus und Kapitalismus für Menschenrechtsverletzungen in Chinas Geschichte verantwortlich gemacht. Es fasst die offizielle Historiographie der Partei zusammen und stellt die Gründung der Volksrepublik als Ausganspunkt für die Verbesserung von Chinas Menschenrechtssituation dar.
Obwohl sich der chinesische Parteistaat im Vorwort zum Weißbuch explizit zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte bekennt, betont er gleichzeitig, dass unabhängige Staaten aufgrund von historischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Unterschieden die Menschenrechte auf ihre jeweils eigene Art interpretieren und umsetzen müssten. Darauf aufbauend wird der Begriff »chinesische Menschenrechte« eingeführt. Insofern ist das Weißbuch der kulturrelativistischen Denkschule zuzuordnen. Außerdem wird die Souveränität eines jeden Staates als unabdingbare Voraussetzungen für den Menschenrechtsschutz bezeichnet. Anders als das Selbstbestimmungsrecht der Völker betont die Volksrepublik nationale Unabhängigkeit, nicht jedoch die Selbstbestimmung eines jeden Volkes als Voraussetzung für die Menschenrechte. Obwohl das Argument in gewisser Weise an die seit den fünfziger Jahren von dekolonisierten Staaten vertretene Betonung der Selbstbestimmung anknüpft, so liegt der Fokus des Weißbuchs eindeutig auf der staatlichen Souveränität. Das liegt daran, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker für den Vielvölkerstaat China mit großen autonomen Gebieten und teilweise sezessionistischen Bestrebungen ein verfängliches, staatspolitisch heikles Konzept ist. Mit dem Verweis auf die staatliche Souveränität und nationale Unabhängigkeit charakterisiert der chinesische Parteistaat die Menschenrechte nicht als emanzipatorisches Konzept, sondern als innere Angelegenheit. Damit verwehrt er sich gegen jegliche Kritik aus dem Ausland.
In den folgenden zehn Kapiteln des Weißbuchs werden unterschiedliche Menschenrechtsthemen abgehandelt und gängige Kritikpunkte an Chinas Menschenrechtssituation zurückgewiesen. Laut Vorwort ist das explizite Ziel dieser Abhandlung, dass die internationale Gemeinschaft Chinas Menschenrechtssituation richtig verstehen möge. In den Kapiteln werden politische Rechte genauso angesprochen wie wirtschaftliche, kulturelle und soziale Rechte, das Recht auf ein faires Verfahren vor Gericht, Arbeitsrechte, Religionsfreiheit, Minderheitenrechte, Familienplanung und die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Das Weißbuch führt dabei viele Zahlen und Statistiken an, die den Fortschritt seit Gründung der Volksrepublik belegen sollen. Informationen, die nicht zum Narrativ der stetigen Verbesserung unter der Herrschaft der Kommunistischen Partei passen, werden verschwiegen. Zum Beispiel nennt das Weißbuch die Opferzahlen von Hungersnöten in den Jahren 1943 und 1946 – also kurz vor der Gründung der Volksrepublik – aber die größte Hungerkatastrophe in der Geschichte Chinas, die als Folge von Mao Zedongs Kampagne »Großer Sprung nach vorn« in den Jahren 1958 bis 1962 stattfand und laut Schätzungen Opfer in zweistelliger Millionenhöhe forderte, bleibt unerwähnt (erstes Kapitel).
Die zehn Kapitel des Regierungsweißbuches sind nicht nur von selektiver Information geprägt, an mehreren Stellen werden auch falsche Behauptungen aufgestellt. Im dritten Kapitel steht zum Beispiel geschrieben, dass es in China keine Zensur der Medien gebe und die Meinungsfreiheit geachtet werde. Zur Meinungsfreiheit findet der aufmerksame Leser allerdings eine deutliche Einschränkung, denn das Weißbuch erläutert an anderer Stelle das Konzept der Einheit von zivilen Rechten und Pflichten, das wie erwähnt auch die Verfassung der Volksrepublik prägt. Demnach dürften chinesische Bürger ihre individuellen Rechte und Freiheiten nur ausüben, solange sie damit weder die Interessen des Staates, noch der Gesellschaft, des Kollektivs oder die Rechte anderer Bürger verletzten. Wenngleich diese Einschränkung nur vage formuliert und versteckt platziert ist, so deutet das Weißbuch hiermit die Unterordnung des Individuums unter das Primat des Parteistaates an (drittes Kapitel).
Inhaltlich von zentraler Bedeutung ist das sogenannte Recht auf Subsistenz (shengcun quan), dem prominent das erste Kapitel des Weißbuchs gewidmet ist. Dieses Recht sei das wichtigste, denn ohne eine Sicherung der Subsistenz wären die anderen Menschenrechte ohne jeglichen Wert. Eine Definition gibt das Weißbuch nicht, allerdings wird an einer Stelle auf Artikel 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verwiesen, dem Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person. Im Text wird jedoch deutlich, dass das sogenannte Recht auf Subsistenz vor allem eine Grundversorgung bezeichnen soll. Unter welchem Einfluss dieser Begriff einen so prominenten Platz im Weißbuch erhielt, ist unklar. Zhu Muzhi hat ihn nicht erfunden. Ann Kent vermutet einen Einfluss des amerikanischen Philosophen Henry Sue, der Anfang der 1980er Jahre in seiner Arbeit über grundlegende Rechte die zentrale Bedeutung von Subsistenz hervorhob.[6] Marina Svensson beschreibt in ihrem Buch über den Menschenrechtsdiskurs in China allerdings, dass der Begriff shengcun quan bereits in den 1920er Jahren an Einfluss gewann, Stephen Angle wiederum argumentiert, dass diese Idee noch ältere Vorläufer im chinesischen Rechtsdiskurs habe.[7]
Das Weißbuch von 1991 verortet das Recht auf Subsistenz nicht in einer langen chinesischen Tradition, sondern bezeichnet seinen Vorrang schlicht als »einfache Wahrheit«. Der Aspekt des Rechtsanspruches spielt dabei allerdings keine Rolle, das Weißbuch betont vielmehr die faktische Gewährleistung einer Grundversorgung mit Kleidung und Nahrung. Die von der Volksrepublik auf diesem Gebiet bereits erzielten Erfolge könnten nur von einem souveränen, unabhängigen Staat vorangetrieben werden, der die Gefahr einer imperialistischen Unterjochung abwehre. Das Weißbuch warnt jedoch nicht nur vor ausländischen Akteuren, die China unter dem Deckmantel der Menschenrechte Schaden zufügen wollten, es betont auch, dass sozialer Aufruhr in China das Recht auf Subsistenz gefährden würde und dass das Gebot der politischen Stabilität in Chinas Menschenrechtspolitik die oberste Priorität behalten müsse (erstes Kapitel). Implizit wird hier die gewaltsame Niederschlagung der Tiananmen-Bewegung von 1989 gerechtfertigt.
Der Verweis auf historische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Unterschiede, das Konzept der »chinesischen Menschenrechte« und der Entwurf einer Hierarchie, bei der das Recht auf Subsistenz an oberster Stelle aller Menschenrechte stehe, geben Chinas Diplomaten eine Argumentationsgrundlage, um nicht nur die Niederschlagung der Tiananmen-Bewegung, sondern auch die anhaltende Einschränkung politischer und bürgerlicher Rechte in China zu rechtfertigen. Sie machen davon in bilateralen Begegnungen mit Politikern und Diplomaten aus liberalen Demokratien bis heute Gebrauch und vertreten diese Sichtweise auch in den Menschenrechtsgremien der Vereinten Nationen.
Das Weißbuch von 1991 ist eine Handreichung für Chinas auswärtige Menschenrechtspolitik und daher kein Schlüsseltext für den innerchinesischen Menschenrechtsdiskurs. Gleichwohl gab es vereinzelte Reaktionen im Inland. Eine Gruppe chinesischer Dissidenten in Peking, die eine liberale Oppositionspartei gründen wollte, veröffentlichte zum Beispiel umgehend eine Erklärung: Das Weißbuch sei zwar voller Lügen und Deuteleien, trotzdem sei es ein wichtiger Erfolg, dass der Parteistaat in Reaktion auf den inländischen und ausländischen Druck die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte explizit anerkannt habe. Nun müsse die chinesische Regierung die Artikel der Erklärung achten und umgehend alle politischen Häftlinge freilassen. Die beteiligten Dissidenten wurden wenig später verhaftet.[8]
Seine eigentliche Wirkung entfaltete das Weißbuch auf internationaler Ebene. Die Kernargumente fanden kurz nach der Veröffentlichung in einer Rede des chinesischen Premierministers Li Peng im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen Erwähnung, als der Rat im Januar 1992 erstmals in seiner Geschichte auf der Ebene von Regierungschefs tagte. Während vor den Vereinten Nationen in New York Exil-Chinesen protestierten und – wie bereits während der Tiananmen-Proteste – eine aus Pappmaché gebastelte Göttin der Demokratie aufrichteten, erklärte der chinesische Premierminister im UN-Sicherheitsrat, dass die staatliche Souveränität und Unabhängigkeit sowie das Recht auf Subsistenz und Entwicklung von vorrangiger Bedeutung seien. Wegen unterschiedlicher historischer und nationaler Bedingungen sei es weder angemessen noch praktikabel, alle Länder an den gleichen Menschenrechtskriterien zu messen.[9]
Die relativistische Position der Volksrepublik China fand Anfang der neunziger Jahre auch Eingang in die These der sogenannten asiatischen Werte, die von China, Indonesien, Malaysia und Singapur vertreten wurde. In Asien, so die Verfechter, stünden die Interessen der Gemeinschaft traditionell über den Rechten des Einzelnen. Das chinesische Weißbuch lehnt die Idee universeller Menschenrechte hingegen nicht explizit ab, vielmehr steht es für eine Aneignung und Neuinterpretation der Menschenrechtsidee. Auf der Wiener Menschenrechtskonferenz im Jahr 1993 argumentierte der chinesische Vizeaußenminister Liu Huaqiu dann auch wie bereits im Weißbuch von 1991 ausgeführt, dass ein unterschiedlicher Entwicklungsstand sowie verschiedene historische und kulturelle Traditionen zu einem andersgearteten Verständnis von Menschenrechten führten.[10] Liu Huaqiu zeigte sich in Wien zunächst kompromisslos und brachte die Verhandlungen über das Abschlussdokument der Wiener Menschenrechtskonferenz ins Stocken. Die gemeinsame Erklärung musste bis zum 25. Juni 1993 verhandelt werden, und noch bis zum 20. Juni schrieben Konferenzbeobachter China öffentlich die Verantwortung für die Blockade zu.[11] Am 22. Juni deutete John Pace, Vorsitzende der Konferenz und ehemaliger Beamter des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte, schließlich an, dass es eine Einigung gegeben habe. Die Diplomaten der Volksrepublik hatten vermutlich in Reaktion auf Druck von zwei Seiten nachgegeben: Die chinesische Position war sowohl von der eigenen Zivilgesellschaft als auch und von westlichen Staatenvertretern kritisiert worden. Nicht zuletzt der amerikanische Unterstaatssekretär und Beauftragte für Menschenrechte, John Shattuck, hatte sich dafür stark gemacht, dass das Wiener Abschlussdokument die Menschenrechte ohne Einschränkung anerkennen müsse. Am 18. Juni 1993 hatten sich außerdem mehrere chinesische Exilorganisationen in einer gemeinsamen Erklärung zu Wort gemeldet. Die Dissidenten wiederholten ihre Auffassung, dass Menschenrechte universell und unteilbar seien. Keine Regierung dürfe unter dem Vorwand von spezifischen kulturellen, historischen oder nationalen Bedingungen internationale Standards verletzen. Auch dürfe keine Regierung willkürlich einzelne Rechtsgruppen gegeneinander ausspielen, denn bürgerliche, politische, wirtschaftliche und soziale Rechte würden einander gegenseitig bedingen.[12] So hielt es dann auch die Wiener Erklärung von 1993 fest: Sie bekräftigte, dass die Menschenrechte universell, unteilbar und miteinander verknüpft seien. Der Volksrepublik China gelang es 1993 also nicht, sich mit der relativistischen Position durchzusetzen.
Bis heute haben Chinas Stellungnahmen in Menschenrechtsgremien der Vereinten Nationen einen ähnlichen Inhalt. Der vom Propagandaapparat entworfene Gegendiskurs stellt die Idee der Menschenrechte zwar nicht grundsätzlich in Frage, China vertritt allerdings eine eigene Normauslegung, in der das Recht auf Subsistenz über bürgerliche und politische Rechte gestellt wird. Chinesische Diplomaten betonen weiterhin die Bedeutung von historischen, kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Unterschieden, interpretieren die staatliche Souveränität als absolut und weisen internationale Kritik an Menschenrechtsverletzungen als illegitime Einmischung in innere Angelegenheiten zurück.[13] Auf internationalem Parkett hält sich die Volksrepublik somit seit mehr als zwei Jahrzehnten an die Kernpunkte des Weißbuchs von 1991. Spätere chinesische Weißbücher zum Thema unterscheiden sich in diesen wesentlichen Punkten kaum von der unter Zhu Muzhi entwickelten Linie. Trotz der Bemühungen von chinesischen Dissidenten im In- und Ausland, die vom Informationsbüro des Staatsrates herausgegebenen Weißbücher als Propagandainstrument zu enttarnen, dienen sie chinesischen Diplomaten und Politikern weiterhin als bewährte Argumentationshilfe. So hilft die auswärtige Propaganda der Kommunistischen Partei, internationale Kritik an Chinas Menschenrechtssituation abzuwehren und die Fortführung autoritärer Herrschaft zu stützen.
Marina Svensson: Debating Human Rights in China: A Conceptual and Political History. Lanham/Oxford 2002.
Stephen C. Angle: Human Rights and Chinese Thought. Cambridge 2002.
Die Studien von Svensson und Angle gehen der Frage nach, wie Menschenrechte in China diskutiert und verstanden werden. Sie fragen auch, ob es ein distinktiv chinesisches Verständnis der Menschenrechte gibt. Beide setzten sich kritisch mit der offiziellen Menschenrechtsrhetorik der Volksrepublik auseinander und geben einen differenzierten Einblick in den chinesischen Menschenrechtsdiskurs.
Ann Kent: China, the United Nations and Human Rights: The Limits of Compliance. Philadelphia 1999.
Kent schildert und analysiert das Verhalten der Volksrepublik China in Menschenrechtsgremien der Vereinten Nationen. Für eine politische Einordnung des Weißbuchs von 1991 ist insbesondere das fünfte Kapitel relevant, das der chinesischen Theorieentwicklung, Politik und Diplomatie vor der Wiener Menschenrechtskonferenz im Jahre 1993 gewidmet ist.
Pinghua Sun: Human Rights Protection System in China. Berlin/Heidelberg 2014.
Sun Pinghua hat eine grundlegend andere – der offiziellen Propaganda sehr nahe stehende – Interpretation des Menschenrechtsschutzes in China vorgelegt. Die Studie wurde mit staatlichen Fördermitteln aus China finanziert und 2014 in einem deutschen Verlag publiziert. Dem Weißbuch von 1991 ist das dritte Kapitel gewidmet. Sun Pinghua stellt es als Meilenstein des Menschenrechtsschutzes in China vor.
Brady, Anne-Marie: Marketing Dictatorship: Propaganda and Thought Work in Contemporary China. Lanham 2008.
Information Office of the State Council of the People’s Republic of China: Human Rights in China (White Paper of the Government). Peking, November 1991, china.org.cn/e-white/7/index.htm (abgerufen am 25.10.2015).
Kinzelbach, Katrin: Will China’s Rise Lead to a New Normative Order? An Analysis of China’s Statements on Human Rights at the United Nations (2000-2010), in: Netherlands Quarterly of Human Rights 30:3 (2012), S. 299-332.
Shaumbaugh, David: China’s Propaganda System Institutions. Processes and Efficacy; in: The China Journal 57 (2007).
United Nations Security Council: Provisional Verbatim Record of the Three Thousand and Forty-Sixth Meeting, UN Dok.-Nummer: S/PV.3046, New York: 31.01.1992.
Katrin Kinzelbach: Weißbuch Menschenrechte in China, in: Quellen zur Geschichte der Menschenrechte, herausgegeben vom Arbeitskreis Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Dezember 2015, URL: www.geschichte-menschenrechte.de/weissbruch-menschenrechte/
Weißbuch Menschenrechte in China
von Katrin Kinzelbach