Quellenzur Geschichte derMenschenrechte

Gladys Acosta

Seit den siebziger Jahren gab es verstärkt Bemühungen, Frauenrechte in Menschenrechts-Dokumente und -Konventionen einzuschreiben oder sie gleich in eigenständigen Normen als Menschenrechte zu definieren. Die Peruanerin Gladys Acosta spielte in diesen Bemühungen eine wichtige Rolle. Unter anderem nahm sie 1993 an der Wiener Menschenrechtskonferenz und 1995 an der Weltfrauenkonferenz in Peking teil, wo sie sich dafür einsetzte, Gewalt gegen Frauen als Menschenrechtsverletzung zu deklarieren. Ihre politischen Wurzeln hat Acosta in der peruanischen Linken, in der sie bereits während ihrer Schulzeit aktiv war. Erst später wandte sie sich dem Feminismus zu. In Acostas Biographie spiegeln sich somit Berührungspunkte und Reibungsflächen zwischen Linksaktivismus, Feminismus und Menschenrechten wider.

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Interview

Für das lebensgeschichtliche Interview traf Dr. Daniel Stahl, Wissenschaftlicher Sekretär des Arbeitskreises Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Frau Gladys Acosta am 23. Oktober 2015 in Genf. Das Gespräch dauerte drei Stunden und fand am Abend nach einer ganztätigen Sitzung des UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau statt, an der Frau Acosta teilgenommen hatte. Die Unterhaltung wurde auf Spanisch geführt. Den Kontakt zu Frau Acosta hatte Dr. Rainer Huhle hergestellt, der diese seit seiner Arbeit für eine peruanische Menschenrechtsorganisation kennt.

Daniel Stahl
Frau Acosta, in welchem Umfeld sind Sie aufgewachsen?

Gladys Acosta
Ich bin in der Provinz Cusco geboren und als sehr kleines Kind, ungefähr im Alter von anderthalb Jahren, mit meiner Mutter und meinem Bruder, der sechs Monate alt war, nach Lima gezogen. Meine Mutter hatte sich damals von meinem Vater getrennt. Ich bin also in der Hauptstadt aufgewachsen. Meine Erziehung und Ausbildung war typisch für die damalige Mittelschicht in Peru: Ich ging auf eine private Grundschule, die sich in unserem Stadtviertel befand. Allerdings ist meine Mutter mit meinem Bruder und mir sehr oft umgezogen. Wir haben deshalb in der Grundschulzeit oft die Schule gewechselt. Zwischenzeitlich lebten wir etwas außerhalb von Lima. Dort ging ich auf eine kirchliche Schule, die von Spanierinnen geleitet wurde. Als ich elf Jahre alt war, zogen wir zurück in die Stadt und ich kam auf eine weiterführende Schule, die Secundaria[1] San José de Cluny. Diese Schule war auch kirchlich, wurde aber von Französinnen geführt. Dort blieb ich die gesamten fünf Jahre bis zum Abschluss der Secundaria. 

Insgesamt hatte ich eine sehr ruhige Kindheit, meine Großmutter wohnte immer bei uns. Nur Männer, die gab es bei uns zu Hause, abgesehen von meinem kleinen Bruder, eigentlich gar nicht. Ich bin also ohne Vaterfigur oder männliches Vorbild aufgewachsen. Der Ehemann meiner Tante war der einzige Mann in meinem Umfeld. Allerdings spielte er in meinem Leben nie eine große Rolle. Meine Bezugspersonen waren Frauen: meine Mutter, meine Großmutter, meine Tanten, die bei uns immer ein- und ausgingen, die Freundinnen meiner Mutter. Selbst in der Schule hatte ich nur Mitschülerinnen und Lehrerinnen um mich herum. Erst als ich auf die Universität ging, lehrten mich männliche Dozenten und Professoren. Bis ich fünfzehn Jahre alt war, war ich von einem sehr weiblichen Umfeld umgeben. Natürlich hatte ich auch Cousins und männliche Freunde aus unserem Viertel, aber die hatten keinen entscheidenden Einfluss auf meine persönliche Entwicklung. Meine Vorbilder waren immer Frauen. 

Ein zentrales Ereignis meiner Kindheit war die Entdeckung der Bücher. Bei mir zu Hause wurde eigentlich nicht gelesen. Meine Mutter war Sekretärin und hatte andere Interessen, wie zum Beispiel ins Kino zu gehen oder ähnliches. Man konnte sich zwar immer gut mit ihr unterhalten, aber gelesen hat sie nie. Allerdings hat sie sich trotzdem regelmäßig Büchersammlungen aufschwatzen lassen, weil sie jemand war, dem man nun einmal leicht Dinge verkaufen konnte. Eines Tages brachte sie zum Beispiel die Buchreihe Las tradiciones peruanas[2] mit nach Hause, hauptsächlich weil sie ihr sehr kostengünstig erschienen. Ich merkte erst später, wie bedeutsam dieses Werk tatsächlich ist. Die Bibel kaufte sie, weil sie das Buch schön fand. Ich las in meinen frühen Jahren einfach das, was da war, ohne jegliches Bewusstsein oder gezielte Auswahl. Das Lesen war für mich eine Art Flucht aus dem Alltag, ein probates Mittel, um mich vor den alltäglichen Aufgaben zu drücken. Ich war immer ein sehr fantasievolles Mädchen. Meine einzigen Möglichkeiten, das auszuleben, waren die Lektüre von Büchern und das Radiohören. Damals hatte das Radio in der Medienlandschaft eine große Bedeutung und ich interessierte mich immer sehr für das, was man darüber zu hören bekam.

Ich bin also einerseits in einem eher bodenständigen Umfeld aufgewachsen: Zu Hause wurden ausschließlich gewöhnliche, alltägliche Dinge besprochen. Der Haushalt wurde organisiert, Klatsch und Tratsch ausgetauscht, viel wurde auch über Geschichten von früher geredet. Andererseits flüchtete ich mich oft in die Welt der Bücher und des Radios. Ich hörte damals viele Hörspiele, wie zum Beispiel Der Graf von Monte Christo – auch hier habe ich erst später gemerkt, dass es ein sehr bedeutender Roman ist. Immer sonntags um 9 Uhr morgens kamen die Hörspiele, daran erinnere ich mich noch sehr gut.

Ich erzähle das alles, um zu zeigen, dass ich bereits zu Schulzeiten sehr strebsam war und mich schon damals von den Themen, die zu Hause besprochen wurden, distanzierte. Ich entwickelte früh eine große Neugier nach all dem, wovon meine Mutter nur sehr wenig oder nichts wusste. Ich verspürte den Drang danach, mir immerzu Wissen anzueignen. Und dafür suchte ich mir Bezugspersonen, die mir erklärten, wo ich Dinge, die mich interessierten, nachlesen konnte. Mir eröffnete sich damals eine Welt, die so gar nichts mit meinem privaten Umfeld zu tun hatte 

Ich bin zwar vom sozialen Status her in der Mittelschicht aufgewachsen, wirtschaftlich hatte meine Familie allerdings immer mit Problemen zu kämpfen. Mein Vater zahlte keinen Unterhalt, meine Mutter musste das wenige Geld, das er uns geben konnte, vor Gericht einklagen. Er hatte lange Zeit in den USA gelebt und war später Englischlehrer geworden. Er lebte in der Provinz Cusco und war nie präsent in unserer Familie – meine Mutter wollte das nicht.

Für mich persönlich wurde die Familie immer unwichtiger, je mehr ich in die Welt des Wissens eintauchte. Mein Wissen hatte damals allerdings weder Hand noch Fuß, keinerlei Ordnung oder Orientierung. Der Lehrplan der Schule war wahrscheinlich das Zielorientierteste, was ich mir aneignete. Ansonsten las ich einfach kreuz und quer, was mir in die Hände fiel. Ich wollte immer die beste Schülerin unserer Schule sein, weil man dafür Bücher geschenkt bekam. Und weil ich das auch regelmäßig schaffte, habe ich sehr früh sehr gute Literatur lesen können, wie zum Beispiel Werke von Jules Verne oder die Fabeln von Jean de La Fontaine.

Das alles war in den Jahren zwischen 1957 und 1961. Während meiner Kindheit bin ich mit meiner Familie so gut wie gar nicht verreist. Die einzige Ausnahme war, dass ich im Jahr 1956/57 aus gesundheitlichen Gründen für ein Jahr zu meiner Tante in die Provinz Cusco geschickt wurde. Das war ein sehr wichtiges Jahr für mich; ich lebte plötzlich in einem völlig neuen Umfeld. Mein Vater wohnte zwar damals in der Nähe, allerdings sah ich ihn nicht ein einziges Mal, weil meine Familie mich regelrecht vor ihm versteckt hielt. Dadurch, dass ich in einer neuen Stadt lebte, in der eine andere Sprache gesprochen wurde, bekam ich eine neue Sichtweise auf viele Dinge. Ich ging dort in den Kindergarten, wo alle Quechua sprachen – eine Sprache meines eigenen Landes, die ich nicht sprach, wie ich schmerzlich feststellen musste. Natürlich versuchte ich, mir diese Fähigkeit möglichst schnell anzueignen, um meine neuen Freunde verstehen zu können, und das klappte tatsächlich relativ gut. Als ich wieder nach Lima zurückging, störte sich meine Mutter allerdings sehr daran, dass ich Quechua gelernt hatte. Dafür bestrafte sie mich sehr hart. Sie verbot sogar unserem Kindermädchen, das auch aus dem Cusco kam, auf Quechua mit mir und meinem Bruder zu sprechen. Seit meiner Zeit im Cusco habe ich also nie wieder Quechua gesprochen und mittlerweile habe ich alles wieder verlernt.

In diesem Jahr habe ich viele Dinge erlebt, von denen ich mir nicht vorstellen konnte, dass es sie wirklich gab und die bei mir bleibenden Eindruck hinterlassen haben. Der Umgang mit der indigenen Bevölkerung dort war einfach nur furchtbar. 1956/1957 gab es noch unglaublich viele offene Aggression gegenüber der indigenen Bevölkerung. Mir wurde zu Hause nie erklärt, warum das so war. Wenn ich meine Tante damals danach fragte, bekam ich keine Antwort. Darüber wollte sie einfach nicht sprechen.

Diskriminierung und Rassismus waren an Perus Schulen etwas Alltägliches.

Diese unaufgearbeiteten Erlebnisse wurden für mich später in der Schulzeit wieder sehr wichtig, sie waren mir nach vielen Jahren noch sehr präsent. So machte ich mir damals schon viele Gedanken über Themen wie Diskriminierung, Rassismus und Ungleichheit. Diskriminierung und Rassismus waren an Perus Schulen etwas Alltägliches. Ich bekam oft mit, wie die Nonnen dunkelhäutige Mädchen anders behandelten als die mit heller Haut. Weil meine Haut aber nicht ganz so dunkel war, wie die anderer Mitschülerinnen, saß ich sozusagen immer ein wenig zwischen den Stühlen. Ich habe die Diskriminierung nie so am eigenen Leibe erlebt wie andere. Außerdem wurden meine Sinne schon in der Schulzeit für diese Probleme geschärft, weil ich viele Bücher von peruanischen Autoren wie José María Arguedas[3], einem indigenista[4], oder Ciro Alegría las[5]. Auch in den Tradiciones von Ricardo Palma[6] stieß ich auf das Thema der Ungleichbehandlung.

Die Schule war damals mein Leben. Wenn ich krank war, wollte ich nie zu Hause bleiben. Ich glaube, für meine Mutter war es oft sehr anstrengend, dass ich so schulfixiert war (lacht). Mit dem Übertritt in die Secundaria begann meine Jugendzeit. Ich schloss neue Freundschaften, sah mich als Teil eines größeren Umfeldes. Und auch die Art des Lernens veränderte sich: Ich investierte dafür deutlich mehr Zeit, begann, Dinge selbstständig zu hinterfragen. Die Jahre auf dieser französischen Schule waren für mich sehr wichtig. Ich war nie ein rebellisches Kind, sondern eher brav und ruhig. Ich mochte es zwar, mit den anderen Kindern zu spielen, besonderes Interesse daran hatte ich aber eigentlich nie. Lieber unterhielt ich mich. Außerdem war ich musikbegeistert. Ich wurde immer kritischer und entwickelte ein großes Interesse an der Politik und an den Geschehnissen in Peru.

Die Jahre zwischen 1962 und 1965 waren eine sehr bewegte Zeit in Peru. Es war die Zeit, als die linke Guerilla sehr aktiv war. Bei mir zu Hause wurde zwar nicht darüber gesprochen, aber ich informierte mich über Zeitungen und Radionachrichten. Damals begann ich mir komplexere Gedanken über das große Ganze zu machen. Seit der ersten Klasse der Secundaria war ich bei den Pfandfindern. Ich fuhr gerne auf Zeltlager, wusste wie man mit einem Messer umzugehen hatte oder wie man ein Lagerfeuer machte. Das war mein Hobby. Die Guerilla hatte deshalb eine besondere Anziehungskraft auf mich. Dass da Leute waren, die die Stadt verließen, um in der Wildnis zu kämpfen, fand ich faszinierend. Für mich stand das im engen Zusammenhang mit meinem Hobby und ich fragte mich manchmal, wie es wohl wäre, einfach aufs Land zu gehen und dort zu kämpfen. In meinen Augen stellte das nicht in erster Linie eine gefährliche Situation oder Bedrohung dar, ich romantisierte das sehr. Meine Mutter allerdings fürchtete die Guerilla. Ich sah zwar durchaus auch die Gefahr darin, allerdings kommunizierte ich das nicht. Ich war einfach sehr neugierig und wollte wissen, wie das Leben als Guerillero wohl so wäre.

In den Jahren 1965/66, als ich fünfzehn Jahre alt war, sind mir ein paar Dinge wiederfahren, die mich nachhaltig geprägt haben. Von der Schule aus besuchten wir jeden Samstag Kinder aus armen Familien, die in verschiedenen Nachbardörfern von Lima lebten, und lehrten ihnen den Katechismus. Wir gaben diese Stunden in einem Raum der jeweiligen Pfarrei und bearbeiteten gemeinsam mit den Kindern die Grundfragen des Katholizismus. Für uns war das ziemlich einfach, schließlich war das mehr oder weniger ein Frage-Antwort-Spiel. Viel bedeutender als diese Unterrichtsstunden an sich war für mich allerdings, überhaupt in Kontakt mit den verarmten Vierteln und Dörfern zu kommen – zu sehen, wie sich das Ambiente veränderte, je weiter man aus Lima herausfuhr. Dass es außerhalb von Lima nicht einmal mehr Straßen gab, schockierte mich zutiefst. Ich fragte mich: »Was ist hier los? Warum müssen diese Menschen unter diesen Umständen leben?« Und ich erinnere mich daran, dass die Nonnen aus der Schule sich sehr unwohl fühlten, wenn ich sie darauf ansprach. Sie wollten einfach nur, dass wir die Katechismus-Stunden gaben und wieder nach Hause fuhren. Dass wir die Umstände, unter denen die Menschen außerhalb Limas lebten, hinterfragten, gehörte nicht zu ihrem Plan.

Stahl
Gab es denn keine Lehrerin, die einen etwas kritischeren Blick auf diese Dinge hatte?

Acosta
Nicht zu dieser Zeit, nein. Das kam erst etwas später. Als wir die Katechismus-Stunden gaben, waren wir in der dritten Klasse der Secundaria. Damals war ich vierzehn Jahre alt. Im Schuljahr darauf bekamen wir erstmals pro Schulfach eine Lehrerin. So hatten wir Kontakt zu sehr vielen verschiedenen Lehrkräften und die ein oder andere gab immer mal kritische Kommentare ab. Allerdings wurde so etwas nie direkt und offensiv artikuliert. Die kritischen Anmerkungen kamen sehr vereinzelt und subtil. An dieser Schule hielt man sich sehr streng an den Lehrplan. Wir bekamen nicht viel beigebracht, was davon abwich. 

Zu unserem Stundenplan gehörten aber auch die retiros. Das waren Stunden, die eigentlich dem Glauben, der Spiritualität und der Reflexion vorbehalten waren. Die Nonnen, die uns darin betreuten, begannen in dieser Zeit allerdings damit, uns von der sozialen Realität in Peru zu erzählen. So stellten wir also nach und nach kritischere Fragen und machten uns Gedanken über einen sehr fortschrittlich ausgelegten Katholizismus. Und obwohl die Standpunkte, die wir dort diskutierten, deutlich progressiver waren, als es im eigentlichen Sinne unserer Schule gewesen sein konnte, bin ich der festen Überzeugung, dass uns die eine oder andere Nonne in der Schule durchaus im Ansatz zustimmte. So vertrat ich die Meinung, dass man mit Hilfe der Religion letztendlich eine sozial gerechte Gemeinschaft erreichen konnte und sollte.

Stahl
Meinen Sie damit eine Art Befreiungstheologie?

Acosta
Nein, nicht explizit. Damals wusste ich ja auch noch nichts davon. Zu der Zeit waren das noch eher erste Gedankengänge, die allerdings auch vom damaligen Papst Johannes XXIII. bekräftigt wurden, der ja in sozialer Hinsicht sehr fortschrittlich war. In der vierten Klasse der Secundaria begann ich also in den Philosophie- und Religionsstunden viele Fragen zu stellen, woran sich manche Lehrerinnen durchaus störten. Ich erinnere mich zum Beispiel noch ganz genau daran, wie mir eine Nonne explizit untersagte, weiterhin Fragen in ihren Unterrichtsstunden zu stellen. Da begann ich nach und nach rebellischer zu werden, was im Nachhinein betrachtet auch typisch pubertär war. Zu der Zeit fingen zu Hause die Probleme mit meiner Mutter an, weil ich mit ihr oft unterschiedlicher Meinung war. Meine Mutter begann machte sich damals Sorgen um mich.

Stahl
Über welche Themen diskutierten sie?

Acosta
Für mich war das zentrale Thema die soziale Ungleichheit. Das hing selbstverständlich eng mit dem zusammen, was ich im Cusco und in den Armenvierteln außerhalb Limas mitbekommen hatte. Ich nahm immer stärker wahr, dass wir Peruaner untereinander nicht alle gleich waren und dass es auch in der Religion nur eine Art falsche Gleichheit gab. In meinen Augen lebten die Menschen in Peru unter entscheidend ungleichen Voraussetzungen, die allerdings von niemandem thematisiert wurden. Mein Hauptanliegen war, dass man über diese großen Ungleichheiten sprechen musste. Ich begann, darüber mit meinen Mitschülerinnen zu diskutieren – die einen stimmten mir zu, andere nicht. Ich erinnere mich daran, dass es irgendwann darum ging, ob wir nach unserem Schulabschluss ein großes Fest ausrichten sollten. In meinen Augen war eine solche Feier vollkommener Quatsch. Wieso sollten wir ein großes Fest ausrichten, anstatt Wege zu suchen, um Menschen zu helfen, denen es nicht so gut ging wie uns? 

Zu dieser Zeit – etwa im Jahr 1966 – entdeckte ich auch immer mehr die Welt der Politik für mich. Damals trat ich der Gruppe Juventud Estudiantil Católica bei, der katholischen Schülerjugend, die innerhalb der Kirche eine sehr kritische Strömung war. Interessanterweise wählte ich in der vierten Klasse der Secundaria nicht den literarischen, sondern den naturwissenschaftlichen Zweig. Mir machte Mathematik, Physik und Chemie großen Spaß und ich dachte, dass ich später in diesen Bereichen arbeiten würde. Als ich durch die Aktivität in der katholischen Jugend allerdings immer mehr Bücher mit für mich neuen Erklärungsansätzen für die Unterentwicklung Perus entdeckte, die das politische und wirtschaftliche System des Landes analysierten, begann ich mich umzuorientieren. Ich war zwar immer noch eine gute und fleißige Schülerin der Naturwissenschaften, aber mir war seitdem klar, dass ich etwas anderes studieren wollte.

Stahl
Erinnern Sie sich noch an bestimmte Bücher, die Sie in dieser Zeit gelesen haben?

Acosta
Ja, ich erinnere mich zum Beispiel an den Titel El desarrollo del subdesarrollo[7] oder an Werke des Brasilianers Theotonio dos Santos[8], der viel über diese Themen geschrieben hat. Ein anderer Autor war Jorge Bravo Bresani aus Peru. Alles in allem waren es Titel aus Lateinamerika, die sich mit diesen Thematiken beschäftigten. Das war alles auch zu der Zeit der CEPAL[9], die sich intensiv mit der Problematik der Unterentwicklung des Kontinents beschäftigte. 

Stahl
Es ging also um dependenztheoretische Analysen[10].

Acosta
Ganz genau, das war die gängige Erklärung für die Unterentwicklung. Während der Zeit in der katholischen Jugend war ich politisch sehr aktiv. Ich verbrachte eigentlich meine gesamte Freizeit in der Jugendgruppe.

Stahl
Was genau machten sie dort?

Acosta
Wir organisierten hauptsächlich Treffen und Veranstaltungen. Eine Erfahrung hat mich aber besonders geprägt. Wir waren damals alle sehr naiv: Im Grunde dachten wir, wenn jeder von uns gegen die Armut ankämpfe, dann würde sie auch irgendwann verschwinden. Eines Tages erfuhren wir, dass eine Schule aus Schweden Geld für den Aufbau einer peruanischen Schule gespendet hatte. Für uns war das eine Schande. Wir waren der festen Überzeugung, dass solch eine Spende eigentlich von uns Peruanern selbst kommen musste und initiierten daraufhin eine Spendenaktion. Wir organisierten einen Tag der Schülerarbeit, an dem Schüler einen Tag lang arbeiten gingen und das damit erwirtschaftete Geld für den Aufbau einer Schule spendeten. Mit der Hilfe von ein paar Lehrern schafften wir es, zwischen fünfzig und hundert Schulen in ganz Lima zu mobilisieren. Wir arbeiteten als Autowäscher, Haushaltshilfen, Fensterputzer – welche Jobs auch immer wir fanden. Wir starteten dafür eine richtige PR-Kampagne, gingen in die Kirchen und zu den Rotary-Clubs, damit sie uns an diesem Tag unterstützten.

Im Nachhinein betrachtet, haben wir damals etwas Unglaubliches auf die Beine gestellt. Für mich war das so wichtig, weil es eine sehr gute Gelegenheit war, zu lernen, wie man so etwas organisieren und Kinder aus staatlichen und privaten Schulen in Kontakt miteinander bringen konnte. Ich merkte damals erst, wie viele Menschen an so einer staatlichen Schule arbeiteten und unterrichtet wurden. Meine Privatschule war ja sehr klein: Wir waren vielleicht vierzig Schüler pro Klasse. In den Klassen auf den staatlichen Schulen saßen achtzig oder noch mehr Schüler. Dieser Kontakt mit einer anderen sozialen Schicht war neu und ein einschneidendes Ereignis für mich und meine Mitstreiter. Alle aus dieser damaligen Gruppe sind auf irgendeine Art und Weise später in die Politik gegangen: Manche traten der APRA[11] bei, andere gingen zu den Nationalkonservativen, der Großteil von uns hat sich aber bei den Linken engagiert.

Die Guerilla in Peru verschwand Mitte der sechziger Jahre nach und nach, die Rebellen wurden getötet. 1967 wurde Ché Guevara umgebracht. Die starke Politisierung meiner Generation hängt eng mit all diesen so einschneidenden Geschehnissen zusammen.

Stahl
Würden Sie sagen, dass Ihre Generation besonders stark politisiert war?

Acosta
Ich glaube, wir interessierten uns mehr für Politik als die Generation vor uns. Aber ich bin auch der Meinung, dass das hauptsächlich an der veränderten Situation des Landes lag. Das alles war ja im Jahr 1966, als die Guerilla in Peru nach und nach wieder verschwand und die Rebellen getötet wurden. Als ich 1967 in der fünften Klasse der Secundaria war, wurde Ché Guevara umgebracht[12]. Das war eine heftige Nachricht damals, die bei uns regelrecht einschlug. Die starke Politisierung meiner Generation hängt eng mit all diesen so einschneidenden Geschehnissen zusammen.

Stahl
Haben Sie sich mit Kuba befasst? 

Acosta
Nicht unbedingt, nein. Aber das, was mit Ché Guevara passiert war, interessierte mich schon. Ich kannte mich mit Kuba zu dieser Zeit nur wenig aus, das wurde erst später für mich wichtig. Das war allgemein eine politisch sehr sensible und angespannte Zeit. 

Stahl
Wie standen Sie im Jahr 1968 zu den weltweiten Studentenprotesten?

Acosta
Wir bekamen mit, dass sie stattfanden. Aber in Peru gab es nichts Ähnliches. Als ich im Jahr 1967 die Schule beendete und beschloss zu studieren, wollte mich meine Mutter finanziell nicht mehr unterstützen. Sie war der Meinung, dass ich mit dem Schulabschluss auch mein eigenes Geld verdienen könnte. Wenn ich unbedingt auf die Universität gehen wolle, dann solle ich einen möglichst kurzen Studiengang wählen, um bald arbeiten gehen zu können. Sie ließ mich zwar noch bei sich wohnen, aber eine weiterführende Ausbildung wollte sie mir nicht bezahlen. Mich traf das sehr stark, weil für mich immer klar war, dass ich studieren würde. Ich wollte auf keinen Fall wie meine Mutter als Sekretärin arbeiten. Im ersten Moment verunsicherte mich die Einstellung meiner Mutter zum Studium zwar, aber ich fing mich relativ schnell wieder. Von da an wurden auch die Diskussionen mit ihr immer politischer, was ihr sehr unangenehm war – sie störte sich sehr an vielen meiner Standpunkte. Ich bereitete mich nach meinem Schulabschluss also auf den Aufnahmetest für die staatliche Universität vor. Meine Mutter hätte es lieber gesehen, wenn ich auf eine private Universität gegangen wäre, aber für mich stand das nicht zur Debatte.

Stahl
Wieso war Ihnen der Besuch einer staatlichen Universität so wichtig?

Acosta
Ich wollte endlich neue Erfahrungen sammeln, etwas Neues kennenlernen. Mir war in der Zwischenzeit der Unterschied zwischen den privaten und den staatlichen Einrichtungen bewusst geworden. Und ich verstand mich viel besser mit meinen Freunden, die auf staatliche Schulen gingen, als mit denen, die auf privaten Schulen waren. Ich hatte das Gefühl, dass sie mehr hinterfragten. Dadurch erschienen sie mir interessanter. Für mich stand fest, dass ich auf die staatliche Universität San Marcos gehen würde, die damals die beste und wichtigste unter den staatlichen Universitäten für Geisteswissenschaften war. Alle meine Freunde aus der katholischen Jugend, die auf Privatschulen gegangen waren, wollten an einer staatlichen Universität studieren. Gemeinsam haben wir damals für diesen sehr anspruchsvollen Aufnahmetest gelernt. Es war sehr schwer, angenommen zu werden, weil es sehr viele Bewerbungen gab. Ich glaube, es waren 8000 Bewerbungen auf 700 Plätze. Wir haben damals aber so viel gelernt, dass ein Freund von mir mit dem zweitbesten Testergebnis bestand. Ich schaffte es auf Platz sechs, ein anderer Freund von mir auf Platz zwölf.

1968 kamen wir also auf die Universität und erst dort erfuhren wir von den Studentenprotesten in Europa. Wir informierten uns natürlich, aber es kam uns doch sehr fern vor, sie waren nicht wirklich greifbar für uns. Die Universität als ein außerordentlich politischer Ort war für mich eine großartige Entdeckung. Weil mich meine Mutter finanziell nicht mehr unterstützte, fing ich an, als Plattenverkäuferin für eine amerikanische Kette zu arbeiten. Ich studierte und lernte jeden Tag bis circa 15 Uhr und nachmittags arbeitete ich, um mir das wenige Geld zu verdienen, das ich zum Leben brauchte. Die Gebühren für die Universität waren zwar sehr gering, aber ich musste ja trotzdem meine sonstigen Ausgaben decken. 

In dieser Zeit entfremdete ich mich immer mehr von meinem Zuhause. Im Grunde war ich nur noch zum Schlafen dort – ich stand früh auf und kam erst spät abends wieder. Meiner Mutter missfiel das sehr, was natürlich zu größeren Spannungen zwischen uns führte. In der Universität herrschte ein sehr linkes Klima. Linke Gruppierungen propagierten dort aktiv ihre Überzeugungen und stürzten sich regelrecht auf die Erstsemester, um sie für sich zu gewinnen.

Stahl
Waren die Linken in der Universität die am stärksten vertretene Strömung?

Acosta
Ja, auf jeden Fall. Zu dieser Zeit definitiv. Allerdings war die APRA[13] auch sehr aktiv und stark vertreten. Die APRA war eine Partei, die in den dreißiger und vierziger Jahren gemeinsam mit den Linken zentral für die politische Diskussion in Peru gewesen war. Eine wichtige Rolle spielten der Vorsitzende der APRA, Víctor Raúl Haya de la Torre[14], und der Anführer der sozialistischen, später dann kommunistischen Partei Perus, José Carlos Mariátegui[15]. Die Debatten von damals sollten sich über Jahrzehnte ziehen, beide Strömungen bestehen immer noch. Die Linke war allerdings sehr zersplittert und ich bemerkte, dass es für mich viele verschiedene Wege und Optionen gab.

Stahl
Wie war denn die damalige politische Situation in Peru? Hatten die Linken auch auf nationaler Ebene politische Macht? Oder beschränkte sich das auf das universitäre Umfeld?

Acosta
Nein, die Linken hatten zu der Zeit keine politische Macht auf nationaler Ebene. Wie ich ja schon sagte, es gab zwar eine Guerilla in Peru, allerdings war das eine sehr kleine Bewegung. Man führte deren Entstehen damals hauptsächlich auf den Einfluss Kubas zurück. Für mich war innerhalb dieser Guerilla-Bewegung eine Gruppierung besonders interessant: der Movimiento de la Izquierda Revolucionaria, die MIR[16]

Stahl
Die gab es doch auch in anderen Ländern, oder?

Acosta
Ganz genau. Allerdings unterschieden die sich von Land zu Land. Da gab es die chilenische, die bolivianische und eben die peruanische MIR. Diese Gruppierung innerhalb der peruanischen Guerilla erschien mir besonders interessant. 

In dieser Zeit wurde im universitären Umfeld die Meinung vertreten, dass man etwas im Land verändern könne, wenn man nur die Massen mobilisiere. Und ich glaube durchaus, dass das im engen Zusammenhang mit der Kubanischen Revolution stand. Der Option der Guerilla hatte man damals bereits abgeschworen, sie stand eigentlich nicht mehr zur Debatte. Die Bewegung war ja damals gerade erst von staatlicher Seite in Peru besiegt worden. Dazu kam die Ermordung Ché Guevaras im selben Zeitraum, die die Niederlage dieses Ansatzes in Bolivien symbolisierte. Wir waren also immer mehr der Überzeugung, dass das nicht der richtige Weg sei und interessierten uns vielmehr dafür, wie Arbeiter und Landbevölkerung organisiert werden könnten. 

Das war eine sehr interessante Zeit, zumal ich damals begann, in die akademische Welt einzutauchen. Ich war fasziniert von der Geschichte Perus. Zum ersten Mal hatte ich sehr gute Lehrer und Professoren, die mit richtigem Tiefgang lehrten. Das Niveau an der Universität war ein ganz anderes als auf der Schule. Die Universität San Marcos hatte damals ein sehr, sehr gutes Lehrpersonal in Fächern wie Philosophie, Linguistik, Geschichte, Geografie.

Wir sprachen an der Universität viel über die Aufstände der indigenen Bevölkerung, die in der Schule höchstens angedeutet worden waren.

 

Stahl
Wie wurde die Geschichte Perus gelehrt? Knüpfte sie an die Geschichte der Quechuas an oder war es eher eine Geschichte aus Sicht der spanischen Eroberer?

Acosta
Ich belegte Geschichte bei einem guten Historiker, Aranibar, der uns die peruanische Geschichte anhand des Buches La extirpación de idolatrías lehrte. Darin ging es um die Zeit, als die Spanier Peru eroberten und all das bekämpften, was sie Götzendienst nannten. Er diskutierte mit uns über diese vermeintlichen Rechtfertigungen der Kirche für die Eroberung Perus. Die Eroberungen standen zwar unter der Fahne des spanischen Königs, das Kreuz der katholischen Kirche war aber ihr ständiger Begleiter; sie hat die politische Macht der Spanier ausnahmslos begleitet und gestützt. Das war für mich, die ich immer auf katholische Schulen gegangen war, natürlich eine extreme Erkenntnis. Ich verschlang diese Bücher geradezu. Die Geschichtsstunden fanden immer um sieben Uhr morgens statt, aber das war mir egal, ich ging immer hin. Ich wollte all das unbedingt wissen. Mir wurde dort eine ganz andere Geschichte Perus beigebracht als die, die ich in der Schule gelehrt bekommen hatte. Dort war uns die offizielle Geschichtsschreibung vermittelt worden: Die Spanier besiegten die Inkas und Punkt. Man ging nicht ins Detail. In der Universität näherten wir uns der Geschichte als akademischer Disziplin an, was mir sehr entgegenkam – ich erhielt so einen ganz neuen Zugang zur Geschichte Perus. Zum Beispiel sprachen wir an der Universität viel über die Aufstände der indigenen Bevölkerung, die in der Schule höchstens angedeutet worden waren. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass diese Rebellionen alles andere als marginal waren – in den dreihundert Jahren der Geschichte Perus gab es schließlich hunderte davon. Das akademische Umfeld führte dazu, dass man sich als junger Mensch der Politik zuwandte. 

Stahl
Gehörten die Dozenten auch dem linken Spektrum an?

Acosta
Der ein oder andere war durchaus linkspolitisch engagiert, ja. Andere wiederum waren eher Intellektuelle, die sich der Wissenschaft verschrieben hatten. 

Stahl
Gab es dort Vertreter der Dependenztheorie?

Acosta
Ja, auf jeden Fall. Aníbal Quijano lehrte zum Beispiel Soziologie und war ein entschiedener Verfechter dieser Theorie. Sie gehörte zum Konsens in diesem universitären Ambiente. Für mich persönlich konkretisierten sich all die vereinzelten Gedanken, die in den zwei letzten Schuljahren entstanden waren. 

Stahl
Versuchten Sie, Ihr Studium zügig durchzuführen?

Acosta
Nein, im ersten Studienjahr begann ich eine Beziehung mit einem Aktivisten der katholischen Jugend, der deutlich älter war als ich. Er war Priester und legte für mich das Kirchenamt nieder, damit wir heiraten konnten. Ich war damals 17, er 33 oder 34 Jahre alt. Wir hielten unsere Beziehung lange Zeit geheim. Er wollte Peru verlassen und nach Frankreich gehen. Von diesem Plan war ich nicht begeistert: Jetzt wo es endlich interessant für mich wurde in Peru, sollte ich das Land verlassen? Aber er wollte das unbedingt und meinte, dass wir wieder zurückkommen würden. Damals hatte ich mich zwar schon sehr stark von meiner Familie abgewandt. Meine Mutter bekam aber trotz der Heimlichtuerei irgendwann Wind von der Geschichte, was ein großes familiäres Drama nach sich zog. Obwohl ich das eigentlich gar nicht vorhatte, heirateten wir daraufhin bevor wir nach Europa gingen. Allerdings bestand ich darauf, dass wir erst nach dem zweiten Studienjahr nach Frankreich zogen.

Mein Mann lehnte jeglichen politischen Kompromiss strikt ab und erlaubte mir nicht den Kontakt zu den politischen Gruppen, denen ich mich in Frankreich anschließen wollte.

In diesem zweiten Jahr an der Universität wurde ich politisch immer aktiver. Ich nahm an politischen Treffen teil, knüpfte Kontakte. Mir fiel der Abschied aus Peru daraufhin sehr, sehr schwer, aber ich ging trotzdem am Ende des Jahres nach Frankreich und dort begann ein neues Kapitel für mich. Ich schrieb mich an der Sorbonne für das Soziologiestudium ein und kam schnell in Kontakt mit der französischen Post-68er-Bewegung. Das war Anfang 1970 und die Sorbonne war natürlich voll mit gesellschaftskritischen Menschen. Für mich war das eine komplett neue Welt. 

Mein Mann lehnte jeglichen politischen Kompromiss strikt ab und erlaubte mir nicht den Kontakt zu den politischen Gruppen, denen ich mich in Frankreich anschließen wollte. Wir stritten uns darüber sehr oft und heftig, letztendlich aber musste ich mich seinem Willen irgendwann fügen. Ich beschloss, mich voll und ganz auf das Studium zu konzentrieren. Damals entfernte ich mich von der politischen Arbeit und widmete mich dem Studium. Allerdings musste ich mich auch sehr um meinen Mann kümmern. Wir studierten zusammen, er schrieb sich immer in dieselben Kurse ein wie ich. Und weil er große Probleme mit der französischen Sprache hatte, benötigte er in vielen Dingen meine Hilfe, was mich sehr nervte. Ich hatte Französisch in der Schule gelernt und vertiefte meine Kenntnisse selbstständig, weil es mir Spaß machte. Als ich in Frankreich an der Universität war, verbesserten sich meine Französisch-Kenntnisse natürlich schlagartig. Mein Mann begann erst in Frankreich, die Sprache zu lernen. Er besuchte zwar einen Sprachkurs, aber unsere Sprachniveaus waren sehr unterschiedlich. Für mich war das sehr anstrengend. Ich hatte immer das Gefühl, für uns beide zu studieren. Noch dazu ging nur ich arbeiten und Geld verdienen. Er konnte also kein Französisch, arbeitete nicht, studierte aber auch nicht richtig. Für mich wurde das alles sehr mühsam und nervenaufreibend.

Ich war damals ja noch ein Kind, ich hätte ihn nicht heiraten dürfen. Diese Ehe war ein Fehler. Aber er wollte Kinder haben und so habe ich meinen ersten Sohn in Frankreich zur Welt gebracht. Wir heirateten, als ich achtzehn Jahre alt war. Meinen Sohn bekam ich mit 21 Jahren, als ich mein Staatsexamen machte. Ich merkte natürlich, dass das mein Studium stark einschränkte, aber den Abschluss wollte ich trotzdem unbedingt machen. Schwangerschaft, Kind und Arbeit waren in meinen Augen keine Gründe für einen Studienabbruch und so führte ich mich und meinen Mann schließlich zum Abschluss.

Stahl
Hatten Sie damals ein Kindermädchen oder wie haben Sie das bewerkstelligt?

Acosta
Nein, nichts dergleichen. Ich nahm meinen Sohn mit zur Universität. Ich hatte eine Freundin, die auch ein Kind hatte und mit der ich mir manchmal die Kinderbetreuung teilen konnte. Wir hatten sehr wenig Geld zur Verfügung – auch wenn ich mit der Zeit immer bessere Jobs hatte: Ich arbeite erst als Haushälterin, später bekam ich eine Stelle in einer Bibliothek und schrieb für eine Zeitschrift, bis ich in einer Organisation arbeitete, die Stipendien vergab. Ich war dort in der Verwaltung tätig und bekam ein relativ gutes Gehalt, mit dem ich die Kosten für unseren Haushalt decken konnte. Mein Ehemann aber war ein Nichtsnutz, der nicht arbeiten ging und nichts auf die Reihe bekam. Er kümmerte sich noch nicht einmal um unseren Sohn.

Unsere Ehe war also sehr kompliziert, zumal er sich auch wieder verstärkt der Religion zuwandte, während ich mich in die entgegengesetzte Richtung entwickelte und Religion hinterfragte, obwohl ich sehr viel von den linksorientierten Katholiken in Frankreich hielt. Das waren sehr gute, interessante, fortschrittlich denkende Menschen, die in der Résistance und der Befreiung Frankreichs aktiv gewesen waren und im algerischen Unabhängigkeitskrieg geholfen hatten. Ich lernte wirklich tolle Persönlichkeiten in dieser Zeit kennen und alle gehörten sie dieser reformerischen katholischen Strömung an. Trotzdem wandte ich mich persönlich immer weiter dem linken Spektrum zu und wollte so schnell wie möglich zurück nach Peru. Ich hatte einen Professor, der mir nach meinem Abschluss eine Promotionsstelle anbot, aber daran war ich nicht interessiert.

Ich war dem Feminismus in Frankreich gegenüber sehr misstrauisch eingestellt. Für mich war die Klassengesellschaft das zentrale Problem. In meinen Augen verstanden Feministinnen nicht, was es bedeutete, in Armut zu leben.

Trotzdem habe ich in Frankreich sehr viel gelernt. Zu meinen Lehrern in Paris gehörten Pierre Bourdieu[17], Jean Claude Passeron[18] und Jean-Toussaint Desanti[19]. Das war eine exzellente Zeit damals an der Sorbonne mit vielen Diskussionen und Debatten. Es gab unzählige linke Gruppierungen, die sich alle untereinander stritten – eine unglaubliche Zeit. Ich lernte Menschen aus allen Parteien kennen: Trotzkisten, aus der Kommunistischen Partei Frankreichs, etc.

Die einzige Denkrichtung, die mich in dieser Zeit nicht überzeugte, was erstaunlicherweise der Feminismus. All das, was später so wichtig für mich wurde, interessierte mich damals überhaupt nicht. Für mich war die Klassengesellschaft das zentrale Problem. In meinen Augen verstanden Feministinnen nicht, was es bedeutete, in Armut zu leben. Ich glaubte, dass sie andere Forderungen stellen würden, wenn sie in einem verarmten Umfeld, wie zum Beispiel in Peru, leben würden. Erst Jahre später lernte ich diese Feministinnen persönlich kennen und musste feststellten, dass ich mit dieser Meinung mehr als falsch lag. 

Stahl
Wie würden Sie Ihre Begegnung mit dem Feminismus in Frankreich genauer beschreiben?

Acosta
Ich war dem Feminismus in Frankreich gegenüber sehr misstrauisch eingestellt. Damals stand ich unter dem Einfluss meines Mannes, der sehr religiös war. 

Stahl
Hatten Sie denn direkten Kontakt mit der feministischen Bewegung?

Acosta
Ja, ich blieb bei diesen Veranstaltungen aber immer nur sehr kurz. Ich hatte damals eine Freundin aus Venezuela, mit der ich mich oft darüber austauschte und die mich von den feministischen Standpunkten überzeugen wollte. Wir wurden beide zur gleichen Zeit schwanger. Leider ging unsere Freundschaft dadurch auseinander, dass sie eine Totgeburt hatte, während ich einen gesunden Sohn zur Welt brachte. Das sollte für immer zwischen uns stehen, wir haben seitdem nicht mehr miteinander gesprochen. Und weil sie mein einziger Kontakt zur Frauenrechtsbewegung war, verlor ich den Draht dazu. Mir gefielen Simone de Beauvoir[20] und Jean-Paul Sartre[21] zwar durchaus, wenn ich sie bei Demonstrationen sah und hörte. Mit ihren Schriften aber beschäftigte ich mich erst Jahre später, als ich wieder in Peru war.

Wir gingen 1973 wieder zurück. Ich war damals schwanger mit meinem zweiten Sohn. Mein erster Sohn war zehn Monate alt. Wir reisten mit dem Schiff, was eine sehr interessante Erfahrung für mich war. Ich hatte ja schon immer eine große Sensibilität für die jeweiligen Gegenwarten, habe immer sehr bewusst und reflektiert gelebt. Mich faszinierte alles an dieser Reise, ich analysierte alles, was um mich herum geschah. Wir fuhren mit einem alten peruanischen Schiff, das sich auf seiner letzten Reise nach Peru befand, weil es an Chinesen verkauft worden war. Die Chinesen kauften damals alte Schiffe auf, um sie an ihren Küsten einzusetzen. Das wäre heute unvorstellbar (lacht).

Wir starteten in Antwerpen. Als wir dort am Hafen ankamen, sahen alle Schiffe so schön und modern aus – nur unseres nicht. Ich wunderte mich darüber, wie dieses alte verrostete Schiff den ganzen weiten Weg über den Ozean bis nach Peru schaffen sollte. Ich war im ersten Moment wirklich etwas besorgt. Es war ein Transportschiff, das Erdöl beförderte. Die Besatzung bestand aus 52 Matrosen und einem Kapitän, wir hatten weder Arzt noch Krankenschwester an Board. Ich war schwanger und mit einem kleinen Baby unterwegs und dachte mir, sollte irgendetwas passieren, würde es keine Hilfe oder Rettung geben.

Andererseits aber machte ich mir viele Gedanken darüber, wie das denn überhaupt alles möglich sein konnte. Für mich war das in dem Moment eine Art Kulturschock. Vier Jahre lang hatte ich in der hochentwickelten Welt gelebt. Meinen ersten Sohn hatte ich in einem modernen Pariser Krankenhaus zur Welt gebracht, in dem alles sauber und hübsch war. Und dann sah ich plötzlich dieses Schiff aus Peru, das so sinnbildlich für mein Land stand: mit dieser offensichtlichen Armut auf der einen und einer so herzlichen Besatzung auf der anderen Seite, die uns immer wieder sagte: »Machen Sie sich keine Sorgen, wir werden uns gut um sie kümmern. Das ist alles überhaupt kein Problem, Sie werden schon sehen.« Eigentlich war ich mit meinen 22 Jahren auch noch ein Kind. Selbstverständlich fiel der Motor manchmal auf hoher See aus und wenn wir nachfragten, was denn los sei, versuchten sie uns immer mit einer unglaublichen Gelassenheit zu beruhigen, so als wäre es das normalste der Welt und alles überhaupt gar kein Problem (lacht). Es war also wirklich eine durch und durch peruanische Rückkehr in die Heimat. Wir aßen den gesamten Monat, den die Überfahrt dauerte, jeden Tag dasselbe: Reis mit Bohnen. Glücklicherweise hatte ich genug Essen und Wasser für das Baby eingepackt.

Nach Peru gelangten wir über Panama. Wir kamen im Hafen von Piura an. Als wir das Schiff verließen und in die Stadt gingen, sah ich diese große Armut und dachte mir: Das ist also Peru. Es überwältigte mich und holte mich so schlagartig und drastisch auf den Boden der Tatsachen zurück: Das ist also mein Land. Auf der Reise nach Lima hielten wir dreimal, unter anderem im Hafen von Chimbote, über den es einen Roman von José María Arguedas[22] El zorro de arriba y el zorro de abajo gibt. All diese Erlebnisse brannten sich bei mir ein und bestätigen mich in meinen Standpunkten bezüglich der Unterschiede zwischen der entwickelten und der nicht entwickelten Welt, die ich mir bis dahin erarbeitet hatte. Für mich persönlich war also diese Rückkehr mit dem Schiff perfekt. Wenn ich mit dem Flugzeug zurückgekehrt wäre, wäre ich in Lima aus dem Flughafen spaziert, ohne diese Übergangsphase erlebt zu haben.

Wie kann es nur sein, dass die Reichen so moderne Orte haben, um ihre Kinder zur Welt zu bringen, und die Armen in diese heruntergekommen Kliniken gehen müssen?

Wir kamen also 1973 wieder in Peru an als ich hochschwanger war. Meinen Sohn wollte ich aber nicht in einer Privatklinik bekommen. Ich dachte mir: »Ich habe vielleicht einen hohen Bildungsgrad, reich bin ich aber trotzdem nicht.« Ich wollte mein Kind wie die armen Frauen in Peru im Hospital de la Beneficiencia auf die Welt bringen. Um dort einen Termin für eine Kontrolluntersuchung zu bekommen, musste man sich um fünf Uhr morgens in eine Schlange mit bestimmt 200 Menschen stellen und um elf Uhr war man dann immer noch nicht dran. Dort meinen Sohn auf die Welt zu bringen, war eine extreme Erfahrung für mich. Die Art, wie man dort mit einem umging, die Armut, die fehlende Hygiene – das war das komplette Kontrastprogramm zur ersten Geburt in Paris. Als der Arzt irgendwann merkte, dass ich einer anderen sozialen Klasse angehörte, schickte er uns nach 24 Stunden nach Hause. Er führte damals als Grund an, dass mein Sohn und ich dort krank werden könnten und es besser für uns sei, zu gehen

Stahl
Wie differenzierten sich die gesellschaftlichen Schichten damals in Peru? Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, dass Sie zwar kein Geld hatten, trotzdem aber zu einer anderen sozialen Klasse gehörten?

Acosta
Wir hatten zwar kein Geld, mein Mann kam aber aus einer reichen Familie. Es wäre also ein Leichtes gewesen, jemanden zu finden, der uns das Geld für eine Geburt in einer Privatklinik gegeben hätte. Jeder in der Familie hätte uns geholfen. Aber ich wollte das nicht. Ich war entsetzt über die dortige Situation: Wie kann es nur sein, dass die Reichen so moderne Orte haben, um ihre Kinder zur Welt zu bringen, und die Armen in diese heruntergekommen Kliniken gehen müssen? Wie kann es nur innerhalb eines Landes diese zwei vollkommen voneinander getrennten Realitäten geben? 

In Peru gibt es noch Krankenhäuser einer mittleren Qualitätsstufe für Angestellte mit Sozialversicherung. In solch einer Einrichtung habe ich mein drittes Kind zur Welt gebracht. Die hospitales de la benificiencia sind für Menschen, die gar nichts haben – weder Arbeit noch Versicherung. Finanziert werden diese Krankenhäuser mit Geld, das für die Armen zurückgelegt wird; die gibt es bis heute. Die soziale Schere in Peru klafft seitdem immer weiter auseinander. Es gibt immer mehr herausragende, moderne Einrichtungen für die reiche Bevölkerung und Privatversicherte. Dieser ganze Sektor wurde seitdem stark verwirtschaftlicht.

Das war also meine Rückkehr nach Peru. Und ich war, wie immer, sehr radikal in meinem Verhalten. Meine Mutter störte sich sehr daran, dass ich mein Kind in dem Krankenhaus der Wohlfahrt bekommen wollte. Als sie mich dort unter diesen Umständen liegen sah, fing sie an zu weinen und schrie meinen Ehemann an: »Wie kannst du das alles hier nur zulassen?« Das war sehr typisch für jemanden aus der Mittelschicht, der nun mal in einer ganz anderen Welt lebte.

Meine Überzeugungen waren also noch dieselben, wie zu der Zeit, als ich aus Peru weggegangen war. Allerdings hatte ich in den Jahren den Kontakt zu all den Gruppen verloren, in denen ich damals aktiv gewesen war. Das musste ich mir nach und nach erst wieder aufbauen, was natürlich mit zwei kleinen Babys sehr schwer war. Fast zweieinhalb Jahre hatte ich nur sehr wenig Zeit für andere Dinge als Kindererziehung. Als dann meine Tochter zur Welt kam, beschloss ich, dass das mein letztes Kind sein würde. 

Bereits während meiner dritten Schwangerschaft merkte ich, dass ich das Bedürfnis hatte, wieder arbeiten zu gehen. Und da bekam ich zum ersten Mal zu spüren, was es bedeutet, eine Frau zu sein: In den Bewerbungsverfahren bestand ich die schriftlichen Aufnahmetests mit den besten Ergebnissen und schaffte es, in die nächste Runde zum persönlichen Gespräch eingeladen zu werden. Sobald die Arbeitgeber aber sahen, dass ich schwanger war, hieß es immer sofort: »Wie schade, Sie sind schwanger. Diese Stelle ist dann wohl leider nichts für Sie.« Ich war darüber sehr erstaunt und erwiderte: »Entschuldigen Sie, glauben Sie, dass ich mein Leben lang schwanger sein werde? Ganz sicher nicht. Ich werde dieses Kind bekommen und dann werde ich wohl nicht mehr schwanger werden. Wo ist denn das Problem?« Aber da war nichts zu machen. Ich bewarb mich auf drei Stellen und wurde dreimal wegen der Schwangerschaft abgelehnt. Von Mal zu Mal wurde ich wütender, weil ich es einfach nicht fassen konnte, wie rückständig Peru in dieser Hinsicht war. Glaubten die denn wirklich, dass man als schwangere Frau nichts im Kopf hatte? Das war der Zeitpunkt, an dem ich begann, mich für den Feminismus zu interessieren. 

Stahl
Wie weit war der Feminismus damals in Peru verbreitet?

Acosta
Selbstverständlich gab es damals schon Vertreter der Feminismus in Peru und in der Theorie wusste ich auch davon. Seit meiner Zeit in Frankreich kannte ich mich ja grob und oberflächlich damit aus. Als ich diese Erfahrungen während der Bewerbungsverfahren machte, merkte ich plötzlich: Das ist also damit gemeint. Ich erinnerte mich daran, was ich in Frankreich von den Feministinnen gehört hatte. Damals konnte ich wenig damit anfangen, dass diese sich aus Protest auf der Straße auszogen. Diese Art des Feminismus habe ich nicht verstanden und gemocht, die Aktionen erschienen mir grotesk. Aber nun begann ich, durch meine eigenen Erfahrungen zu erkennen, dass es wahr war, dass wir Frauen anders beziehungsweise schlechter behandelt wurden als Männer. Und da trat in meinen persönlichen Überzeugungen eine essentielle Veränderung ein. 

Ich stellte fest, dass mein Denken bis dahin sehr wirtschaftszentriert und etwas simpel gewesen war. Es griff zu kurz, in Peru ausschließlich die Armut bekämpfen zu wollen. Ich war bis dahin ja immer der Überzeugung gewesen, dass Gesellschaften durch wirtschaftliche Reformen verändert werden konnten. Das lag wohl nicht zuletzt daran, dass ich eine strenge, klassisch-marxistische Ausbildung erhalten hatte und dass ich immer eine sehr fleißige Studentin gewesen war. Wenn mir etwas beigebracht wurde, dann hatte ich den Anspruch an mich selbst, es mit all seinen Facetten zu lernen. Ich hatte dabei allerdings wenig über den Tellerrand geschaut. Rassismus und Feminismus waren für mich bis dahin zwei komplett unterschiedliche Paar Schuhe gewesen, mit denen ich nur wenig anzufangen wusste. Erst jetzt bemerkte ich, dass man all diese vermeintlich unterschiedlichen Thematiken als Teil desselben Problems begreifen musste. Um das tatsächlich zu verstehen und mit meinen Überzeugungen zu vereinen, habe ich mit Sicherheit zwei, drei weitere Jahre gebraucht. Ich war von vorne bis hinten mit den Kindern beschäftigt. Zeit zum Lesen und Weiterbilden bleibt einer Mutter mit zwei Babys eigentlich überhaupt nicht. Es gab Zeiten, da bin ich nicht einmal zum Zeitunglesen gekommen. Als ich dann mein drittes Kind bekam, konnte ich mir glücklicherweise eine Haushaltshilfe leisten. Für mich und meinen Mann alleine wäre das nicht mehr machbar gewesen. 

Zu dieser Zeit, das war etwa im Jahr 1976/77, wurde Peru politisch tief erschüttert. Die Zeit der Militärjunta neigte sich ihrem Ende zu, die Transition begann. 1977 kam es zu einem historischen Generalstreik, der ein großer Erfolg für die linke Bewegung in Peru war. Der Weg in die Demokratie wurde nach und nach geebnet. Ich war währenddessen zwar immer noch hauptsächlich mit Windelwechseln beschäftigt, hatte mittlerweile aber einen Job gefunden. Noch hatte ich nicht wieder Kontakt zur linken Bewegung aufgenommen, aber als meine Tochter ungefähr sieben Monate alt war, fand ich eine Arbeitsstelle. Schließlich war ich nicht mehr schwanger (lacht). Ich erwähnte in den Bewerbungsgesprächen nicht einmal, dass ich Kinder hatte. Wenn man so jung Mutter wird, dann erholt man sich sehr schnell von einer Geburt. Bei den Bewerbungsgesprächen merkte niemand mehr etwas davon, dass ich erst kürzlich ein Kind zur Welt gebracht hatte.

Mit meinen Kenntnissen konnte ich das staatliche Informationsbüro sehr beeindrucken. Es herrschte eine politisch sehr aufgeheizte Stimmung in Peru, in der viel Kritik am bestehenden System artikuliert wurde. Die Militärjunta suchte Leute, die ihr genau sagen konnte, was in Fernsehen und Radio thematisiert wurde.

Stahl
Was war das für eine Arbeitsstelle?

Acosta
Von 1977 bis 1979 arbeitete ich in der Oficina Central de Información[23]. Das war schon in der Endphase der Militärregierung, die zu der Zeit Leute suchte, die die Radio- und Fernsehübertragungen inhaltlich auswerten konnten. Ich hatte irgendwann einmal eine Arbeit zu dieser Art der Medienanalyse geschrieben. Mein Dozent damals war kein geringerer als Roland Barthes[24] gewesen, ein berühmter Semiologe. Als ich im Bewerbungsgespräch über Bildsprache und -analyse referierte, fielen mir plötzlich wieder all die Dinge ein, die ich bei Barthes gelernt hatte. Mit meinen Kenntnissen konnte ich das Gremium sehr beeindrucken. Es herrschte ja, wie gesagt, eine politisch sehr aufgeheizte Stimmung in Peru, in der viel Kritik am bestehenden System artikuliert wurde. Die Militärjunta suchte Leute, die ihr genau sagen konnte, was in Fernsehen und Radio thematisiert wurde. Das war an und für sich schon sonderbar, weil es eigentlich ein Zensurgesetz gab. Doch die Militärregierung Perus war doch etwas anders als die anderer lateinamerikanischer Länder. Sie hatte anfangs durchaus fortschrittliche Elemente integriert, allerdings gingen die mit den Jahren wieder verloren. Als ich für den Staat arbeitete, war von den progressiven Gedanken nichts mehr übrig. 

Stahl
Hatten Sie denn kein Problem damit, für eine Militärregierung zu arbeiten?

Acosta
An erster Stelle stand für mich damals die Suche nach Arbeit. Und ich war fälschlicherweise der festen Überzeugung, dass man die Dinge immer richtig machen kann, wenn man nur intelligent genug ist. Ich stellte mir vor, dass ich der Militärregierung nur unproblematische Medieninhalte weitergeben würde. Kritischere Inhalte wollte ich einfach nicht melden – so hatte ich mir das anfangs zumindest vorgestellt. Ich war ja intellektuell gesehen eine durchaus agile Frau, insofern wusste ich mit der Situation angemessen umzugehen. 

Durch meinen Posten bei der Behörde bekam ich also mit, wie der Zensurapparat funktionierte. Wir arbeiteten in Gruppen zusammen, um Filme zu zensieren. Weil ich gerne ins Kino ging, meldete ich mich oft für diese Zensurgruppen. Ich machte mich dafür stark, gute Filme nicht verbieten oder zensieren zu lassen. Damit will ich sagen, dass es zwar durchaus feste Strukturen innerhalb dieses militaristischen Systems gab, allerdings waren die nicht ganz so festgefahren und in sich abgeschlossen, wie es zu anderen Zeiten mit Sicherheit der Fall gewesen wäre. Die militärischen Elemente waren aber durchaus spürbar: Mein Vorgesetzter zum Beispiel war ein Schiffskapitän der peruanischen Flotte, ein sehr netter und intelligenter Mensch. Er bemerkte, dass ich ein ganz anderes Denken als die anderen hatte und gab mir immer sehr interessante Fälle und Aufträge. Da die Transition damals schon im vollen Gange war, stellten die Militärs durchaus auch bewusst fortschrittlich denkendes Personal ein, um zu erfahren, wie das bevorstehende System wohl aussehen könnte und mit welchen persönlichen Konsequenzen sie nach der Machtübergabe zu rechnen hatten. In der Oficina Central de Información arbeitete ich bis zum Ende der Militärregierung im Jahr 1979.

Stahl
Die Militärregierung in Peru unterschied sich also sehr stark von den Militärregierungen in Chile oder Argentinien?

Acosta
Ja, das war etwas ganz anderes. Sie arbeitete aber andererseits durchaus manchmal mit anderen Militärdiktaturen wie der argentinischen zusammen, um Flüchtlinge, die nach Peru kamen, wieder zurückzuschicken. Allerdings geschah das erst in der zweiten Hälfte ihrer Regierungszeit, als die progressiven Elemente immer weiter verschwanden. 

Stahl
Sie sprechen von der Operación Cóndor?[25]

Acosta
Ja, auch, selbstverständlich. Sie waren schließlich auch Militärs. Allerdings waren sie bei ihrer Machtübernahme, im Gegensatz zu anderen Militärdiktaturen in Lateinamerika, sehr progressiv eingestellt. Ende der siebziger Jahre wandten sie sich immer stärker dem Militarismus zu. Allerdings war damals schon absehbar, dass sie ihre Macht nicht mehr lange halten konnten. Die Gegenbewegung war einfach zu stark geworden und ihnen war bewusst, dass sie die Macht früher oder später der Zivilbevölkerung übertragen mussten. Insofern kam es in Peru nicht mehr zu einer Phase der massiven Verfolgung, wie es in anderen Ländern der Fall war. 

Stahl
War denn eine antikommunistische Strömung zu spüren?

Acosta
Das auf jeden Fall, ja. Ich glaube fast, dass die Militärs hauptsächlich deshalb fortschrittliche Meinungen vertraten, um eine Radikalisierung der Gesellschaft vorzubeugen. Ich habe das Gefühl, dass sie dadurch den Sozialisten und noch viel mehr den Kommunisten den Wind aus den Segeln nehmen wollten.

Meiner Meinung nach haben die durch das Militär initiierten Reformen zu einer Modernisierung der peruanischen Wirtschaft geführt. Letztendlich haben sie ja die Aristokratie beseitigt, indem sie ihr ihre wirtschaftlichen Grundlagen durch eine umfassende Agrarreform entzogen. Großgrundbesitz wurde verstaatlicht, die Oberschicht aus Peru vertrieben. Diese reichen Familien haben sich in der Folge auf dem internationalen Finanzmarkt neue Betätigungsfelder gesucht und kamen nach dem Ende der Militärjunta mit diesen neuen Kenntnissen zurück nach Peru – einerseits um sich ihren Familienbesitz zurückzuholen, andererseits aber auch, um neue, global aufgestellte Geschäftsfelder von Peru aus zu initiieren. Die heutige wirtschaftsstarke Gesellschaftsschicht in Peru besteht letztendlich aus dem ehemaligen Adel. Dabei hat der mittlerweile zwar logischerweise ein anderes Interesse an seinem Großgrundbesitz, als noch vor einigen Jahrzehnten, aber die Leute sind dieselben. Alles in allem fand also durchaus eine Modernisierung des peruanischen Kapitalismus unter der Militärjunta statt. Das vorangegangene aristokratische Wirtschaftssystem war für das Land nicht förderlich gewesen. Das alles machte diese Epoche sehr interessant. Die Menschen in Peru orientierten sich in die unterschiedlichsten Richtungen

Ich integrierte mich nach und nach wieder in die peruanische Gesellschaft, ließ den einen oder anderen Kontakt aus früheren Zeiten wieder aufleben. Irgendwann bat ich meine Arbeitsstelle darum, mich für ein Jahr freizustellen, um beim Aufbau des ersten Komitees für Menschenrechte in Peru mithelfen zu können. Das sagte ich meinen Vorgesetzten so natürlich nicht. Denen erzählte ich, dass ich mich um familiäre Angelegenheiten kümmern wolle. Und tatsächlich kehrte ich nach der Initiierung dieses Komitees in meinen Job im Zensurapparat zurück. Das war im letzten Jahr der Militärregierung, als diese den Entwicklungen im Land freien Lauf ließ. 

Stahl
War das Ihre erste Tätigkeit, in der explizit auch der Bezug auf Menschenrechte vorkam?

Acosta
Ja, ich glaube, das war tatsächlich das erste Mal, dass ich systematisch mit der Thematik der Menschenrechte gearbeitet habe. Durch die aufgefrischten Kontakte zu meinen Mitstreitern von früher wurde an mich die Idee einer peruanischen Menschenrechtskommission herangetragen und mir erschien das auf Anhieb ein exzellentes Projekt. Letztendlich war diese Initiative politisch gesteuert. Und damals funktionierten wir im linken Spektrum so, dass wenn man eine Anweisung von oben bekam, man alles stehen und liegen ließ, um sie zu befolgen. Und so verließ ich meinen Job, um mich an der Entwicklung dieser Menschenrechtskommission zu beteiligen. 

Die Linken waren immer auf der Suche nach sinnvollen Arbeitsfeldern. Und als die Theorie des Menschenrechtschutzes aufkam, erschien ihnen das sofort ein sinnvolles Ziel zu sein, das man in Peru verfolgen musste. Damals begannen wir also, uns intensiv mit dem Begriff der Menschenrechte auseinanderzusetzen. Wir diskutierten so Grundsätzliches wie, dass er sich nicht nur auf politische und zivile Rechte beschränkte, sondern auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Aspekte dabei zu berücksichtigen seien.

Ich war innerhalb des Komitees für alles zuständig, was im Zusammenhang mit Bildung und Kultur stand. Nach einem Jahr suchte ich einen Nachfolger für das Amt, um in meinen Job im Informationsbüro zurückkehren zu können. Aber ich blieb natürlich weiterhin eng mit der Thematik der Menschenrechte verbunden. 

Stahl
Wie genau hat man sich die Arbeits- und Funktionsweise dieses Komitees vorzustellen?

Acosta
Damals ging es hauptsächlich darum, das Komitee überhaupt auf die Beine zu stellen. Wir mussten zunächst für uns selber herausfinden, welche Punkte und Arbeitsfelder sinnvoll waren, um einen Schutz der Menschenrechte in Peru aufbauen zu können. Und so nahmen wir Kontakt zu sehr vielen unterschiedlichen Organisationen auf: Arbeiterorganisationen, Genossenschaften, Berufsverbände. Mein Arbeitsfeld konzentrierte sich beispielsweise darauf, mit Forschungsinstituten die Thematik der Menschenrechte zu diskutieren und deren Blickwinkel und Standpunkte zu erfahren. Wir merkten schnell, dass wir die Sache systematisch angehen mussten, wenn wir wirklich einen umfassenden Schutz der Menschenrechte in Peru erreichen wollten. Eine übergeordnete Organisation wurde schnell notwendig, um nicht mehr nur als Einzelpersonen im Kleinen vor uns hinzuarbeiteten. Es ging also in der ersten Zeit darum, Kontakte zu knüpfen.

Ich habe das Gefühl, dass das fast immer mein Arbeitsfeld war: Kontakte knüpfen, Veranstaltungen und Gruppen organisieren. Ich glaube, dass es dabei durchaus von Vorteil war, dass dieses Menschenrechtskomitee von Anfang an unter einer politischen Führung stand und es immer einen Vorgesetzten gab. Das war so wichtig, weil wir innerhalb der Organisation ja nicht alle aus derselben politischen Gruppierung kamen. Uns einte alle lediglich ein gemeinsames Ziel: der Schutz der Menschenrechte in Peru.

Ich empfand damals den Schutz der Menschenrechte eher als eine gute Theorie, um den gesellschaftlichen Wandel voranzutreiben. Ich sah diese Arbeit damals noch als Mittel zum Zweck an, um politische Ziele zu erreichen.

Stahl
Gab es damals keine Differenzen darüber, was genau unter dem Begriff der Menschenrechte zu verstehen war? 

Acosta
Nein, die gab es nicht. Unser Verständnis des Menschenrechtschutzes bezog sich auf sehr konkrete Dinge. Wir wollten, dass die Menschen eine Möglichkeit der Verteidigung, also einen Rechtsschutz erhielten, der über das peruanische Gesetz hinausging. Wir begriffen den Schutz der Menschenrechte einerseits in einem internationalen Kontext, der anderseits auch im nationalen System propagiert und respektiert werden musste. Für uns stellte die Theorie der Menschenrechte eine hervorragende Gelegenheit dar, der peruanischen Gesellschaft und Politik korrekte Überzeugungen näher zu bringen, die nicht automatisch als extrem oder radikal abgetan werden konnten. Es sollte schlicht und ergreifend um die Menschenrechte gehen – nicht mehr und nicht weniger. 

Ich selber stieg in dieser Zeit natürlich auch immer weiter in diese Thematik ein, über die ich bis dahin eigentlich so gut wie gar nichts wusste. Ich merkte schnell, dass es dabei um etwas sehr Tiefgründiges ging. Anfangs verband ich das noch vor allem mit dem Recht auf Arbeit, was natürlich nicht so anspruchsvoll war. Uns wurde aber schnell die Komplexität der Menschenrechte bewusst, dass sie sich letztendlich auf ein unglaublich breites Spektrum verschiedenster Rechte bezogen. Wir diskutierten, welchen konkreten Rechten wir in unserer Arbeit Priorität einräumen sollten und einigten uns schnell darauf, dass vor allem das Recht auf Bildung besonders wichtig sei. Bildung war in unseren Augen die einzige Möglichkeit, die Idee der Menschenrechte zu verbreiten. In meinen Arbeitsbereich fiel zum Beispiel die Verbreitung der UN-Menschenrechtscharta und ich überlegte mir dazu Konzepte und Methoden für Kinder, für Erwachsene, für Analphabeten. Ich persönlich hatte in diesem ersten Jahr bereits das Gefühl, dass es um etwas viel Größeres ging, als um die Verbreitung oder Verteidigung einiger bestimmter Rechte.

Zu dieser Zeit gab es immer mehr Menschen, die konkrete Hilfe und juristischen Beistand brauchten. Das Komitee organisierte Anwälte für Personen, die unter der Willkür des Staates litten. Weltweit keimten immer mehr NGOs auf, die sich dem Schutz der Menschenrechte widmeten und mit denen wir uns vernetzen konnten. Wir waren Teil einer weltweiten Entwicklung, in deren Rahmen wir eine Organisation aufbauten.

Stahl
Wenn Sie die Arbeit dieses Menschenrechtskomitees mit den Tätigkeitsfeldern anderer Organisationen vergleichen, wie würden sie diese beschreiben? Beschäftigten Sie sich auch mit Menschenrechtsverletzungen durch die Regierung, wie die Gruppe, in der Rainer Huhle aktiv war?

Acosta
In diesem Komitee nicht vordergründig, nein. Aber ich stand ja in Kontakt mit vielen verschiedenen Organisationen, die sich unter anderem auch mit solchen Fällen von Menschenrechtsverletzungen beschäftigten. Und weil mich schon immer vor allem konkrete Fälle interessierten, informierte ich mich immer wieder bei meinen Kontaktpersonen über bestimmte Vorfälle. Ich war damals aber noch keine Anwältin, sondern nur Soziologin. Ich beobachtete diese Dinge aus einem systemischen Blickwinkel, mich interessierten vor allem die systemischen Verletzungen der Menschenrechte. Als ich dann später anfing, Jura zu studieren und die Leute um Rainer Huhle kennenlernte, begann für mich ein neues Kapitel. Ich empfand damals den Schutz der Menschenrechte eher als eine gute Theorie, um den gesellschaftlichen Wandel voranzutreiben. Ich sah diese Arbeit damals noch als Mittel zum Zweck an, um politische Ziele zu erreichen. Ich erkannte erst später, dass es sich dabei um eine alleinstehende Aufgabe handelt. 

Ich glaube, damals ging es vordergründig darum, eine Struktur zu schaffen, um Menschen – an erster Stelle Peruaner – zu beschützen und zu helfen. Uns war zu dieser Zeit bereits bewusst, dass es in naher Zukunft zu immer mehr Menschenrechtsverletzungen in Peru kommen würde, und dafür wollten wir gewappnet sein. Mit dieser Organisation wollten wir auch offensiv vermitteln, dass wir dazu bereit waren, uns bei Bedarf für den Schutz der Menschenrechte einzusetzen.

Stahl
Was genau meinen Sie mit beschützen? Auf welche Situationen beziehen Sie sich?

Acosta
Ich meine damit zum Beispiel Gewerkschaften, die von staatlicher Seite sanktioniert wurden. Wir wollten all jenen unter die Arme greifen, die von staatlicher Seite dafür bestraft wurden, für bestimmte Rechte einzutreten. Unser Hauptanliegen war damals, ein möglichst weites Netzwerk aufzubauen. Wir hatten eine sehr utilitaristische Sicht auf die Menschenrechte: Für uns war das, wie gesagt, eine nützliche Theorie, um als Organisation politischen Einfluss auf nationaler Ebene auszuüben, um wiederum die Menschen in Peru vor politischer Willkür beschützen zu können. Mit den Jahren aber entfernte ich mich immer weiter von dieser Organisation. 

Was mein Privatleben betrifft, trennte ich mich damals von meinem Ehemann. Als wir bereits längere Zeit getrennt lebten, erfuhr er von unseren Kindern, dass ich einen neuen Freund hatte, woraufhin er mir die Kinder wegnahm. Ich musste bis vor Gericht ziehen, bis er sie wieder in meine Obhut gab. Während dieses Prozesses, der sich von 1980 bis 1982 zog, lernte ich das peruanische Justizsystem von innen kennen. Ich hatte zwar vor allem während meiner Zeit beim Menschenrechtskomitee immer mal wieder Geschichten aus Gerichtsprozessen gehört. Was für ein Labyrinth die peruanische Justiz tatsächlich war, begriff ich aber erst durch diese Verhandlung gegen meinen Exmann – als ich persönlich in die Mühlen dieses Systems geriet. So konnte mir zum Beispiel, obwohl ich so viele Kontakte aus meiner Zeit beim Komitee hatte, in juristischer Hinsicht niemand richtig helfen, weil niemand ein praktizierender Rechtsanwalt war. Ich musste schließlich einen Anwalt engagieren, der einen hohen Posten innerhalb APRA innehatte, was natürlich eine sehr bizarre Situation für mich war. Ich sagte ihm ganz klar, dass wir gerne über alles reden konnten, aber nicht über Politik. Er war ein sehr guter Anwalt und als wir den Fall gewonnen hatten, legte er mir ans Herz, Jura zu studieren. Er meinte, ich wäre dafür sehr geeignet, und so begann ich 1982 mit 31 Jahren ein Studium der Rechtswissenschaften. 

Nach meiner Tätigkeit im Informationsbüro der Militärjunta, nahm ich einen Job in der Firma meiner Familie an, wo ich insgesamt zwei Jahre arbeitete. Ich langweilte mich dort sehr. In dieser Zeit unternahm ich viel mit einer Gruppe von Frauen, mit der wir auch eines Tages ein tolles Musikfestival anlässlich des Weltfrauentags am 8. März organisierten, um Spendengelder zu sammeln. Wir nannten es »Canto a la vida« – Lied auf das Leben.

Stahl
War das eine feministische Gruppierung?

Acosta
Ja, genau. 

Stahl
Den Feminismus hatten Sie in den vorangegangenen Jahren aus den Augen verloren?

Acosta
Ja, das war bei mir nur noch sehr marginal präsent. Als ich zum Beispiel im Informationsbüro arbeitete und die vielen Zeitungen bis auf das Kleingedruckte durchlas, erfuhr ich unter anderem auch von zahlreichen feministischen Kolumnen. Weil mir deren Aussagen sehr gut gefielen, suchte ich oft den Kontakt zu den jeweiligen Autorinnen. So lernte ich schließlich auch diese feministische Gruppe kennen, die Spenden für eine große nationale Versammlung der peruanischen Feministinnen im Jahr 1983 sammeln wollten. Damals hatte ich bereits viele Erfahrungen in der Organisation von Veranstaltungen gesammelt und dank meiner Arbeit im Familienbetrieb wusste ich auch, wie man bei Banken einen Kredit beantragte. So kam es dazu, dass ich mich sehr für das Musikfestival engagierte. Mit fiel das leicht. Das Festival war ein absoluter Erfolg, wir nahmen dabei sehr viel Geld ein. Die Eintrittspreise waren zwar nicht sehr hoch, aber weil wir über ausreichend Raum verfügten, floss trotzdem viel Geld in unsere Kassen.

Durch die Organisation des Festivals lernte ich wiederum viele neue Leute kennen und so kam ich das erste Mal in Kontakt mit der Gruppe Flora Tristán, die damals noch in den Kinderschuhen steckte und die mir einen Job anbot, um ihnen zu helfen, ihre Organisation aufzubauen. Also kündigte ich meine Stelle in unserem Familienunternehmen und arbeitete am Aufbau der Verwaltung des Centro de la Mujer Peruana Flora Tristán mit, das die erste Anlaufstelle für peruanische Frauen werden sollte.

Stahl
Was stand als ursprüngliche Idee hinter der Organisation von Flora Tristán?

Acosta
Die Gruppe Flora Tristan formierte sich im Jahr 1979 aus Frauen, die in Den Haag am Institute of Social Studies studiert hatten. Sie hatten dort Kontakte zum Finanzinstitut Nove geknüpft, das Projekte in Lateinamerika unterstützte. Bei ihrer Rückkehr nach Peru konnten sie mit deren Hilfe die erste Gruppierung zur Stärkung der Frauenrechte gründen.

Stahl
Was war ihre Vision?

Acosta
Sie wollten ein Zentrum für die Frau mit verschiedenen Arbeitsfeldern gründen: mit einem Forschungsbereich, einer Informationsstelle, einem Kulturprogramm, einer Bücherei. Eine Abteilung sollte Frauen in der Arbeitswelt unterstützen, die Rechtsabteilung war spezialisiert auf Prozesse gegen Frauen, etc. Die Vision von Flora Tristán war von Beginn an ein sehr breit gefächertes Institut. Wir fingen natürlich klein an, letztendlich wurde es aber die größte Anlaufstelle für Frauen in ganz Peru.

Während meines Jurastudiums und meiner Arbeit für Flora Tristán hatte ich immer die Thematik der Menschenrechte im Hinterkopf. Mein Studienpraktikum absolvierte ich zum Beispiel in einem Frauengefängnis, wo ich sehr viele Dinge lernte und erlebte. Ich half den Insassinnen zwar vordergründig in juristischen Fragen, die meisten waren dort wegen Terrorismus inhaftiert. Mit der Zeit lernte man sich aber besser kennen, freundete sich an. Ich brachte ihnen oft Sachen, damit sie ein etwas besseres Leben im Gefängnis führen konnten. Es war zwar kein Hochsicherheitsgefängnis, aber doch ein sehr hässlicher Ort. Damals unterstützte ich auch Frauen, die, wie sich erst später herausstellen sollte, zum Sendero Luminoso[26] gehörten. Im Jahr 1980 wurden die Senderisten immer aktiver und viele ihrer Anhänger kamen in Haft. Durch diesen Kampf gegen den Terrorismus wurden allerdings auch sehr viele unschuldige Menschen verhaftet. Mein Praktikum im Frauengefängnis absolvierte ich ursprünglich mit der Absicht, diesen unschuldigen Häftlingen zu helfen. 

Zu dieser Zeit erreichten uns bei Flora Tristán schließlich immer mehr Fälle von Frauen, die ohne Grund in Haft geraten waren. Ein sehr berühmter Fall aus dieser Zeit ist der von Uchuraccay. Damals wurden in dem abgelegenen Dorf Uchuraccay in der Region Ayacucho Menschen umgebracht und man wusste nicht genau, ob der Sendero Luminoso oder die Regierung für die Ermordung dieser Dorfbewohner verantwortlich war. Acht Journalisten verschiedener Zeitungen reisten schließlich in dieses Dorf, um den Fall aufzuklären und wurden während ihrer Recherchen samt ihrem Reiseführer ebenfalls ermordet. Die staatliche Aufklärungskommission, die daraufhin eingesetzt und von Mario Vargas Llosa[27] geleitet wurde, machte die indigene Bevölkerung dieses so abgelegenen Dorfes für alle Morde verantwortlich. Als ihnen der Prozess gemacht werden sollte, verkomplizierte sich der Fall zusehends. Verschiedene Zeugen wurden ermordet, bevor sie ihre Aussagen machen konnten.

Ich habe erst kürzlich ein Buch über diesen Fall gelesen. Mittlerweile geht man davon aus, dass das Militär hinter den Verbrechen steckte. In ihrem Kampf gegen den Sendero Luminoso verstieß die Militärregierung gegen jedes erdenkliche Menschenrecht und damit die Öffentlichkeit nichts darüber erfuhr, war ihr offenbar jedes Mittel recht. Es war also ein Kampf der Regierung gegen die eigene Bevölkerung mit dem Ziel, den Sendero Luminoso zu kontrollieren. Weder die Regierung noch die Senderisten hatten Skrupel, unschuldige Menschen umzubringen; darin nahmen sich die beiden Parteien nicht viel. Ein Volk zwischen zwei Feuern, so lässt sich die damalige Situation in Peru vielleicht am besten beschreiben. 

Die Schwester und die Mutter des ermordeten Reiseführers kamen schließlich eines Tages zu Flora Tristán und suchten Hilfe. Ich engagierte mich sehr in diesem Fall. Die beiden Frauen hatten grauenhafte Dinge erlebt. Die Schwester wurde zum Beispiel gefoltert, obwohl sie weder zum Sendero Luminoso gehörte, noch irgendetwas wusste – sie war einfach nur die Schwester des ermordeten Reiseführers. Im Laufe dieser Arbeit beschäftigte ich mich erstmals intensiv mit diesen von den Kämpfen erschütterten Regionen Perus. Ich lernte verschiedene Gruppen und Bewegungen kennen, unter anderem auch die, in der Rainer Huhle aktiv war. Damals begriff ich, dass man die Menschenrechte um ihrer selbst willen verteidigen musste und dass sie nicht als Mittel zum Zweck begriffen werden konnten. Damals war ich selber auch nicht mehr politisch aktiv. 

Stahl
Würden Sie das als unmittelbare Lehre aus Ihrer Arbeit in dem Frauengefängnis bezeichnen?

Acosta
Ich befand mich in meinem Denken damals in einer Übergangsphase. Ich wollte mein Praktikum im Frauengefängnis machen, weil ich eine akademisch anspruchsvolle Tätigkeit suchte. Mit diesem Gedanken fing ich die Arbeit an. Aber die Realität traf mich dort so hart, dass ich den akademischen Gedanken sehr schnell vergaß. Ich begriff, dass die Gesetze in Peru eine einzige große Lüge waren, an die sich niemand hielt und die letztendlich keine Bedeutung hatten. Das Schlimmste, was einem passieren konnte, war, inhaftiert zu werden. Sobald man hinter Gittern saß, befand man sich sozusagen in einem schwarzen Loch, aus dem es sehr, sehr schwer war, wieder herauszukommen, auch wenn man unschuldig war. Mir ging es nicht um diejenigen, die wirklich etwas verbrochen hatten und eine gerechtfertigte Strafe abzusitzen hatten.

Dieser Zustand der politischen und justiziellen Willkür hielt viele Jahre in Peru an. Ständig wurden neue Gesetze erlassen, die den Terrorismus betrafen. Es kam zu den Gerichtsprozessen mit Richtern ohne Gesicht[28], deren Urteile man nicht anfechten konnte. Das war der Beginn einer absoluten Verfälschung des Rechtssystems. Mich traf das damals alles sehr hart.

Ich erinnere mich besonders an eine Inhaftierte, Sybila Arredondo, die Ehefrau des bekannten Schriftsteller José María Arguedas, die mich immer in dem Glauben ließ, dass sie unschuldig inhaftiert war. Wir schafften es mit Flora Tristán tatsächlich durch eine sehr groß angelegte, öffentliche Kampagne, ihre Freilassung zu erwirken. Als sie wieder auf freiem Fuß war, besuchte sie uns eines Tages bei unserem Festival, das wir mittlerweile jährlich veranstalteten. Sie wollte dort spontan eine Rede vor allen Gästen halten und als ich ihr das mit Hinweis auf die minutiöse Planung der Veranstaltung verwehrte, wurde sie sehr ausfällig. Nicht zuletzt aufgrund der Leute, die sie begleiteten, wurde mir in diesem Moment bewusst, dass sie zu den Senderisten gehörte. Sendero Luminoso war zwar entschieden anti-feministisch eingestellt, sie hassten uns Feministinnen regelrecht, in ihren Reihen gab es aber durchaus viele Frauen.

Ich begann wieder, mich politisch zu engagieren, aber ich bemerkte schnell, dass die Partei einer sehr maskulinen Führung unterstand, die die Frauen nicht respektierte. Hauptsächlich aus diesem Grund wandte ich mich wieder von der Politik ab.

Stahl
Wie kam es dazu, dass Sie der Politik den Rücken zukehrten und sich auf die Verteidigung der Menschenrechte konzentrierten?

Acosta
So ganz hatte ich die Politik ja nicht aufgegeben. In den neunziger Jahren, als sich die linke Bewegung wieder neu formierte, wurde ich wieder aktiver. Als sich alle linken Strömungen in der Partei der Izquierda Unida zusammenschlossen und so die Bürgermeisterwahlen in Lima gewannen, schloss ich mich der Partei auch für ein paar Jahre an. Durch meine Tätigkeit als Feministin war ich aber bei meiner Rückkehr in die Politik nicht mehr dieselbe wie früher. Ich arbeitete zwar in der feministischen Sektion der Partei, aber ich bemerkte schnell, dass sie einer sehr maskulinen Führung unterstand, die die Frauen nicht respektierte. Hauptsächlich aus diesem Grund wandte ich mich wieder von der Politik ab. Ich wollte nicht politisch aktiv sein, wenn in der Partei so Grundlegendes wie die Achtung der Frau nicht garantiert war. In der Zeit, in der ich für die Izquierda Unida tätig war, war ich dafür zuständig, den Parteikongress unter dem Gesichtspunkt der weiblichen Parteimitglieder zu organisieren. Ich arbeitete in der Partei also eher als Feministin als als Menschenrechtsaktivistin, wobei sich mein Fokus auf die Menschenrechte damals bereits veränderte.

Als ich mit dem Jurastudium begann, verstand ich irgendwann nicht mehr, warum die linke Bewegung das Thema der Menschenrechte bis dahin als ein so unpolitisches behandelt hatte. Das war einer der Gründe, warum ich mich von da an immer weiter von der politischen Linken distanzierte – meine Meinung deckte sich nicht mehr zu hundert Prozent mit der ihren. Ich würde aber trotzdem darauf bestehen wollen, dass ich bis heute links geblieben bin. Im parteipolitischen Sinne aktiv war ich seitdem aber nicht mehr. Ich war seitdem ausschließlich für Organisationen tätig, die Personen helfen, die unter Menschenrechtsverletzungen leiden.

Stahl
Wieso sind Sie eines Tages von Peru nach Kolumbien gezogen?

Acosta
Während meiner Arbeit mit den Inhaftierten entwickelte ich im Gegensatz zu vielen meiner Kollegen die Überzeugung, dass jeder das Recht auf eine juristische Verteidigung hat. Meiner Meinung nach durfte und darf die Zugehörigkeit zu einer politischen Vereinigung, und sei es der Sendero luminoso, niemals ein Grund für einen Anwalt sein, einen Fall abzulehnen. Ich stellte schnell fest, dass ich mit dieser Meinung so gut wie alleine in meinem Umfeld dastand: Auf der einen Seite waren die politischen Aktivisten, die die Senderisten eliminieren wollten und denen dafür jedes Mittel Recht war. Auf der anderen Seite standen die Menschenrechtsaktivisten, die dachten, dass wenn man die Senderisten unterstützte und sie vor Gericht verteidigte, diese im Umkehrschluss früher oder später die Menschenrechtsaktivisten trotzdem eliminieren würden. Deshalb weigerten sie sich, die Aktivisten des Sendero Luminoso zu verteidigen. Für mich war diese Situation sehr unangenehm, weil ich keiner dieser beiden Parteien zustimmte: Ich war sowohl gegen die physische Bekämpfung der Senderisten, als auch gegen die Ablehnung ihrer Verteidigung vor Gericht.

Über einen Freund, der damals in der Weltorganisation gegen Folter[29] arbeitete, lernte ich eine kleine Gruppe kennen, die sich gegen Folter einsetzte und Menschen unterstützte, die gefoltert worden waren. Als ich ihnen mein Projekt vorstellte, im Rahmen dessen ich Menschen juristischen Beistand anbieten wollte, die ihn sonst nicht bekommen würden, unterstützten sich mich finanziell. In der Phase, in der ich mir ein Konzept zur Verteidigung von Opfern der Folter überlegte, begannen Aktivisten, die den Senderisten durchaus nahe standen, mich zu bedrohen. Zumindest sagten sie mir auf eine sehr indirekte Art, dass sie das Geld haben wollten, das ich für den Aufbau dieser Organisation erhalten hatte. Ich erklärte ihnen, dass dieses Geld nicht für politische Zwecke gedacht war, sondern für den Rechtsschutz von Menschen, die sich sonst keinen leisten konnten. Punkt. In dem Moment stellte ich fest, wie sehr mir diese Manipulation der Menschenrechte für politische Zwecke zuwider war.

Für mich war dieser Vorfall so einschneidend, dass ich beschloss, das Geld wieder zurückzugeben. Ich wollte es nicht haben, wenn ich es nicht in die juristische Verteidigung von Opfern der Folter stecken konnte. Die Voraussetzungen innerhalb der politischen Bewegungen für solch einen Rechtsschutz waren damals einfach nicht gegeben und ich merkte, dass das ein unglaublich harter Kampf werden würde, den ich allein mit meiner guten Absicht nicht würde gewinnen können. Alleine konnte ich nicht gegen die politischen Strukturen ankämpfen. Ich zog es vor, ehrlich mit den Leuten zu sein, die mir das Geld zur Verfügung gestellt hatten und es ihnen zurückzuschicken, als es einer politischen Vereinigung zu überlassen. Durch diese Aktion brachte ich mich natürlich in große Gefahr, die Senderisten töteten schließlich Tag für Tag Menschen. Und das war einer der Gründe, warum ich irgendwann darüber nachdachte, Peru zu verlassen.

Weiter verfestigte sich dieser Gedanke im Jahr 1991, als die Senderisten ein Attentat auf Ann Mailario verübten, eine bekannte Aktivistin, die Flora Tristán nahe stand und die nach Costa Rica fliehen musste. Im Februar 1992 wurde María Elena Moyano getötet, mit der wir auch eng zusammengearbeitet hatten und die Präsidentin der Federación Popular de Mujeres de Villa El Salvador war. Das traf mich persönlich sehr hart. Sie gehörte derselben politischen Bewegung an wie ich. In ihre tragische Geschichte war ich damals sehr involviert: Sendero Luminoso sprach schon lange Drohungen gegen María Elena aus, gemeinsam organisierten wir eines Tages ihre Flucht nach Spanien. Der Plan war eigentlich, ihre Kinder nachreisen zu lassen, aber das wollte sie nicht. Stattdessen entschloss sie sich, ihre Kinder persönlich abzuholen. Bei der Gelegenheit ermordeten die Senderisten sie auf eine sehr grausame Art und Weise vor den Augen ihrer Kinder. Hinterher sprengten sie sie in die Luft. Auf der Trauerfeier beschloss ich, Peru zu verlassen und das Jobangebot aus Kolumbien anzunehmen, das schon seit Langem auf meinem Tisch lag. Im Oktober 1992 ging ich nach Kolumbien, kurz nachdem sie Abimael Guzmán, den Anführer des Sendero Luminoso, verhaftet hatten.

In Kolumbien arbeitete ich als Leiterin der Abteilung Geschlecht und Macht für eine Organisation namens ILSA.[30] Ich schlug ihnen vor, an der Menschenrechtskonferenz in Wien teilzunehmen, die unmittelbar bevorstand. Im Vorfeld sollte ein gemeinsames Positionspapier aus ganz Lateinamerika dazu erarbeitet werden. Daran hatte ich seit mehreren Jahren immer wieder gearbeitet. Schließlich organisierten wir gemeinsam mit Kollegen aus Costa Rica kanadische Fördergelder für dieses Projekt und luden zu einer großen lateinamerikanischen Konferenz ein, die wir La Nuestra – die Unsere – nannten. Bereits im Vorfeld dieser großen Konferenz diskutierten wir äußerst hitzig über eine gemeinsame Position der Feministinnen, obwohl wir uns in einem Punkt durchaus einig waren: Die Frauenrechte mussten ein fester Bestandteil der Menschenrechte werden. Ich hatte mich damals schon intensiv mit der UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung gegen Frauen[31] auseinandergesetzt. Ich hatte darüber verschiedene Artikel verfasst, weil ich es für ein großes Versäumnis hielt, dass diese Konvention innerhalb der Menschenrechtsbewegung so wenig Beachtung fand. Als wir schließlich unsere Positionen den traditionellen Menschenrechtsorganisationen auf der Konferenz in Costa Rica vorlegten, bekamen wir heftigen Gegenwind.

Stahl
Welche Menschenrechtsorganisationen waren das genau?

Acosta
Alle, die man sich so vorstellen kann, beispielsweise die Internationale Juristenkommission. Vor allem was die Gewalt gegen Frauen anging, wurden unsere Forderungen von den klassischen Menschenrechtsorganisationen, deren Vertreter größtenteils auch enge Freunde von uns waren, förmlich abgeschmettert. In ihren Augen war die Gewalt gegen Frauen kein Verstoß gegen die Menschenrechte. Sie waren der Meinung, dass man ein Problem zwischen zwei Individuen nicht zur Staatssache erheben sollte. Für sie war es nicht dasselbe, ob ein Staat Unrecht gegen eine Person ausübte oder eine Einzelperson. Wir führten auf dieser Konferenz also eine heftige Debatte und beauftragten die Frauen innerhalb dieser klassischen Menschenrechtsorganisationen damit, sich in ihren Gruppen für unsere Position stark zu machen: Die Rechte der Frauen sollten nicht mehr als ein gesondertes Arbeitsfeld des Menschenrechtsaktivismus verstanden werden, sondern endlich gleichberechtigt zu anderen Rechten in die Menschenrechtstheorie integriert werden. Trotz der anfänglichen Schwierigkeiten erlangten wir so letztendlich einen ziemlich guten Kompromiss.

Stahl
Wer waren diese Frauen, die sich damals mit Ihnen dafür einsetzten?

Acosta
María Suárez[32] aus Costa Rica, die bei der Comisión Centro Americana de Derechos Humanos arbeitete, Gilda Pacheco vom Instituto Interamericano de Derechos Humanos, auch Alda Facio[33] war dabei; Rhonda Copelon[34], eine sehr gute amerikanische Anwältin, die für das Center of Constitutional Rights tätig war. Sie ist bereits verstorben. Es waren sehr viele Frauen aus Nicaragua, El Salvador, usw., anwesend, die sowohl im Bereich des Feminismus als auch in dem der Menschenrechte aktiv waren und uns unterstützten.

Stahl
Waren Sie bereits vor der La-Nuestra-Konferenz in Costa Rica mit anderen Aktivistinnen vernetzt? Wie kamen die Kontakte zustande?

Acosta
ILSA, die Organisation, für die ich arbeitete, war ja schon ein Netzwerk verschiedener Unterorganisationen, die sich für die Rechte der Frauen einsetzten. Damals nannte man es noch nicht Menschenrechte der Frauen; ich glaube, dass diese neue Begrifflichkeit im Zuge dieser Konferenz entstanden ist. Die Comisión Centro Americana de Derechos Humanos war ebenfalls ein Netzwerk, das sich eher über Mittelamerika erststreckte. Die Frauenrechtsorganisationen waren eigentlich bereits lange Zeit im Vorfeld untereinander vernetzt. Seit der Konferenz in Mexico im Jahr 1975, auf der das Jahrzehnt der Frau initiiert worden war, war die Frauenrechtsbewegung international gut vernetzt, wobei die lateinamerikanische Frauenrechtsbewegung an sich schon immer sehr stark war. 

Stahl
Welche Gruppierungen waren innerhalb dieser Frauenrechtsbewegung in Lateinamerika die wichtigsten?

Acosta
Es gab sehr viele verschiedene, sehr spezialisierte Gruppierungen. Zum Beispiel CLADEM[35], die bis heute aktiv sind und auch damals schon sehr wichtig waren, genauso wie ILSA und das Instituto Interamericano de Derechos Humanos.

Stahl
Spielten Gruppierungen wie die Madres de la Plaza de Mayo eine Rolle in der Bewegung?

Acosta
Nein, gar nicht. Sie waren zwar nicht gegen unsere Forderungen, aber sie kamen auch nicht zu unseren Konferenzen und Veranstaltungen. Erst als es um die Vorbereitungen der UN-Weltfrauenkonferenz in Peking von 1995 ging und sehr viele lateinamerikanische Organisationen für die Vorbereitung auf Kuba zusammenkamen, nahmen sie auch teil.

Stahl
Kooperierten Organisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch mit Ihnen?

Acosta
Ja, auf jeden Fall. Vordergründig waren wir ein großes Netzwerk aus Personen. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Organisation war zweitrangig, die machte sich am ehesten daran bemerkbar, dass wir untereinander natürlich auch immer etwas unterschiedlicher Meinung waren. 

Beispielsweise suchte das Komitee zur Verteidigung der Frauenrechte, CLADEM, irgendwann Abstand zu uns, weil es forderte, die gesamte UN-Menschenrechtserklärung unter dem Gesichtspunkt der Frauenrechte neu zu formulieren. Sehr vielen Menschen innerhalb der Frauenrechtsbewegung, inklusive mir, ging das entschieden zu weit. Die Menschenrechtserklärung war und ist in unseren Augen das Kernstück, auf das alles aufgebaut werden muss. Sie neu schreiben zu wollen, war für uns undenkbar. Schließlich garantierte sie schon damals alle Menschenrechte. Uns ging es vielmehr darum, auf dieser Basis das gesamte Konstrukt aufzubauen. Zweifelte man diesen Grundstein an, brachte man in unseren Augen den gesamten Aufbau zum Einstürzen. CLADEM vertrat diesen Standpunkt bis ungefähr ein Jahr nach der Konferenz von Wien. Mittlerweile ist es aber von dieser Idee abgekommen. Ich glaube, dass ihnen diese Geschichte heute etwas peinlich ist, weil auch niemand mehr darüber spricht.

Stahl
Wie kam es dazu, dass sich all diese Organisationen auf der Konferenz in Costa Rica zusammentaten? Gab es so etwas auch in Europa oder Afrika?

Acosta
Ja, auf jeden Fall. Und wir standen auch mit diesen anderen Zusammenschlüssen in Kontakt. Das war das erste Mal, dass ich das Gefühl hatte, einer internationalen Bewegung anzugehören. Zu der Zeit, als wir uns in Costa Rica trafen, gab es ähnliche Konferenzen in Afrika, Asien und den USA. Hinterher trafen wir uns in den USA mit den Vertreterinnen all dieser Treffen.

Stahl
Wissen Sie noch, woher der erste Impuls für all diese Zusammenschlüsse kam?

Acosta
Das habe ich mich tatsächlich erst letztens auch gefragt, als ich meine Dokumente aus der Zeit durchgesehen habe. Ich war erstaunt darüber, wie klar und präzise wir damals schon in der Erklärung der La-Nuestra-Konferenz unsere Gedanken und Forderungen formuliert hatten. Ich fragte mich, wie wir das geschafft haben. Letztendlich waren wir alle besessen von der Gerechtigkeit und auf der Suche nach adäquaten Mitteln, diese zu erreichen und zu garantieren. Wir wollten auf eine gewisse Weise die Gerechtigkeit retten. Das war das Element, das uns so stark miteinander verband und motivierte. Wir waren alle der Überzeugung, dass das Rechtswesen das einzige Mittel war, das die Menschenrechte garantieren und verteidigen konnte. In dieser Hinsicht waren wir damals ziemlich naiv. Wir glaubten, dass wir, wenn wir nur alles richtig machten, die Menschen davor bewahren konnten, ihre Rechte zu verlieren. 

Eine gute Quelle der Inspiration, an die ich mich jetzt erinnere, war eine Gruppe aus den USA mit Sitz in Washington, die sich Women, Law & Development International (WLDI) nannte. Ihre Grundidee war, ein Netzwerk aufzubauen, das Frauen über ihre Rechte aufklärte. Dabei ging es ihnen nicht um die Menschenrechte, sondern um das Gesetz an sich ging. Margaret Schuler initiierte diese Gruppe und ich glaube, dass sie die verschiedenen Konferenzen und Zusammenschlüsse in Lateinamerika, in Asien und in Afrika entscheidend mit angestoßen hat.

Diese internationalen Konferenzen und Zusammenschlüsse der Frauenrechtsbewegung sind, wie ich glaube, ursprünglich aus Treffen hervorgegangen, die in erster Linie gar nicht explizit dafür gedacht und konzipiert waren. Sie ergaben sich vielmehr aus anderen, ähnlichen Ideen. Zu dieser Zeit kam das eine zum anderen bis die so wichtige internationale Bewegung wie von selbst entstand. Viele Faktoren passten zusammen und als die Weltmenschenrechtskonferenz in Wien unmittelbar bevorstand, gab es plötzlich auch noch einen konkreten Anlass, auf den man sich vorbereiten musste und so beriefen wir dann diese Konferenz in Costa Rica ein. Von der Konferenz in Wien bin ich bis heute stark beeindruckt.

Stahl
Wie viele Vertreter aus Lateinamerika nahmen an der Konferenz in Wien teil?

Acosta
Von der La-Nuestra-Konferenz flogen fast alle Teilnehmerinnen mit; das waren circa vierzig. Aber alles in allem waren wir aus Lateinamerika mindestens 200 Teilnehmerinnen. Wir arbeiteten natürlich in sehr unterschiedlichen Themenbereichen und Arbeitsfeldern, gut organisiert oder untereinander abgesprochen waren wir eigentlich nicht.

Da wir ja im Vorfeld der Wiener Menschenrechtskonferenz so viel Gegenwind erfahren hatten, ging ich eigentlich davon aus, dass es uns in Wien ähnlich, wenn nicht sogar schlimmer ergehen würde. Aber es kam anders.

Stahl
Was genau haben Sie auf der Konferenz in Wien gemacht?

Acosta
Wir organisierten dort eine Art Schauprozess, in dem wir verschiedene Fälle von Gewalt gegen Frauen öffentlich verhandelten. Ich kümmerte mich um die Zeuginnen aus Lateinamerika, die im Rahmen des Prozesses aussagen sollten. Uns war dabei wichtig, dass Opfer aus den verschiedensten Ländern darüber berichteten, was man ihnen angetan hatte, und dass dabei die am häufigsten begangenen Straftaten gegen Frauen besprochen wurden: häusliche Gewalt, politische Gewalt, Misshandlungen in Gefängnissen, Gewalt durch bewaffnete Gruppierungen, etc. Es wurden sehr viele verschiedene Fälle verhandelt. Die Geschworenen waren dabei immer bekannte Persönlichkeiten. Die Aktion war ein großer Erfolg. Viele Konferenzteilnehmer gaben uns hinterher die Rückmeldung, dass sie sehr beeindruckt waren, weil sie dort zum ersten Mal weibliche Opfer der Gewalt so offen über ihre Erlebnisse hatten sprechen hören. 

Eigentlich würde ich gerne mal wieder mit den Kollegen von damals sprechen, die sich in Costa Rica so vehement gegen unsere Forderung aussprachen, Gewalt gegen Frauen als einen Menschenrechtsverletzung einzustufen. Ich bin mir sicher, dass sich auf wundersame Weise keiner von ihnen mehr daran erinnern würde (lacht). Diese Konferenz war ein einschneidender, substantieller Erfolg für uns. Diese unglaublich wichtige Erklärung der Frauenrechte überrollte die Menschenrechtsbewegung ja förmlich. Für sie kam das alles sehr unerwartet und schnell. 

Ich glaube, damals führte man wieder zusammen, was man in diesen beiden Pakten voneinander getrennt hatte: Auf der einen Seite die politischen und auf der anderen Seite die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte. Diese Trennung war typisch für den Kalten Krieg gewesen.

Alles in allem bekamen wir ein sehr gutes Feedback. Ich hatte eigentlich mit sehr viel mehr Widerstand gerechnet. Da wir ja im Vorfeld der Wiener Konferenz so viel Gegenwind erfahren hatten, ging ich eigentlich davon aus, dass es uns in Wien ähnlich, wenn nicht sogar schlimmer ergehen würde. Aber es kam anders. Es gab natürlich auch viele Teilnehmer, die uns nicht zustimmten, die den Zusatz der Frauenrechte als eine Verfälschung der ursprünglichen Intention der Menschenrechtserklärung ansahen. Das ähnelt der Kritik an Amnesty International. Der Organisation wird vorgeworfen, von seinem ursprünglichen Weg abgekommen zu sein. In den Augen sehr vieler Vertreter der klassischen Menschenrechtsbewegung sollte Amnesty International die zivilen und politischen Rechte der Individuen verteidigen und sich nicht um strukturelle Probleme kümmern.

Im Vorfeld der Konferenz in Wien hätte ich mir nicht träumen lassen, dass am Ende eine solche Erklärung und ein solches Aktionsprogramm verabschiedet werden würden. Ich konnte es damals kaum fassen, was alles in die Abschlusserklärung aufgenommen wurde. Letztendlich stand alles drinnen, wofür wir uns stark gemacht hatten: Es wurde zum ersten Mal auf die Gewalt gegen Frauen eingegangen. Die Abschlusserklärung gab grünes Licht für die Erklärung über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen, die kurz nach der Wiener Konferenz im Dezember 1993 von der UN-Generalversammlung verabschiedet wurde. Im Jahr darauf nahmen die OAS-Staaten die Interamerikanische Konvention zur Prävention, Bestrafung und Abschaffung jeglicher Gewalt gegen Frauen an. Es folgten weitere Dokumente. Wien war also der Startpunkt eines unglaublich schnellen Fortschritts in Sachen Frauenrechten. 

Stahl
Haben Sie eine Erklärung für diese schnelle Entwicklung?

Acosta
Das klingt jetzt vielleicht etwas platt, aber ich glaube, dass da schon etwas Wahres dran ist: Solche Dinge geschehen, wenn die Zeit reif dafür ist, wenn die Ideen langsam beginnen zu fruchten. Ich glaube, dass seit 1975 sehr viel Kraft und Arbeit von der Frauenrechtsbewegung für diese Erfolge investiert wurde. 1970 entstand der Feminismus, ab 1975 vernetzte er sich immer stärker auf internationaler Ebene und arbeitete dann in vielen verschiedenen größeren und kleineren Gruppierungen in unterschiedlichen Bereichen an der Stärkung und Propagierung der Frauenrechte. Das lief circa zehn Jahre so bis sich die Frauenrechtsbewegung aus ihrer isolierten Ecke des Feminismus etwas löste und sich immer mehr der Menschenrechtsbewegung öffnete und anschloss. Es erscheint logisch, dass man sich mit neuen Ideen, die noch nicht viele Menschen verstehen, gesellschaftlich im ersten Moment isoliert. Ich glaube aber, dass es fundamental wichtig ist, früher oder später die Diskussion im Großen zu suchen, wenn man wirklich etwas verändern und bewegen möchte. 

Dazu kommt, dass die Zeit es erforderte, eine an die damalige Welt angepasste universelle Menschenrechtserklärung zu verabschieden. Und auch für die UNO war es damals an der Zeit, ihr System des Menschenrechtsschutzes zu konsolidieren. Jetzt wo ich selber in der UNO gearbeitet habe, bin ich der Meinung, dass das der zentrale und wichtigste Arbeitsbereich der Organisation ist. In meinen Augen erfährt er oft im Vergleich zum Sicherheitsrat oder zur Entwicklungshilfe zu wenig Beachtung und Wertschätzung. Die UN-Mechanismen zum Schutz der Menschenrechte sind das Wichtigste, was die UNO für die Menschheit bereitstellt. 

Stahl
1995 fand die Weltfrauenkonferenz von Peking statt. Was war dort Ihr größtes Anliegen?

Acosta
In Peking war ich sehr auf die Stärkung der Frauenrechte konzentriert. Und tatsächlich gibt es in der dort verabschiedeten Aktionsplattform einen Teilbereich mit dem Titel »Die Menschenrechte der Frau«. Ich glaube, die Konferenz von Peking war etwas historisch Einmaliges, das sich nicht mehr wiederholen wird. Diese Konferenz war ein sehr besonderes Ereignis, weil sich dort einerseits die Arbeit aus insgesamt dreißig Jahren konsolidierte und weil andererseits die Ergebnisse und Errungenschaften wiederum mindestens weitere dreißig Jahre lang zu spüren sein werden. Erst letztens war der zwanzigste Jahrestag der Konferenz und von den damals gesteckten Zielen wurde noch nicht einmal die Hälfte erreicht. Damals wurde eine sehr große Agenda verabschiedet, die eine umfassende Aufgabe für das 21. Jahrhundert darstellt. Und bis das alles nicht ernsthaft auf der Ebene der Weltpolitik verhandelt und umgesetzt wird, muss auf diesem Themengebiet weitergearbeitet werden. Die Konferenz von Peking war weltumfassend, bis dahin hatte ich noch nicht erlebt, dass Frauenthemen in einem so weiten Spektrum verhandelt wurden. Auf dieser Konferenz erhielt man ein Abbild des gesamten Planeten aus der Sicht der Frauen. Das war einmalig.

Stahl
Ich versuche zu verstehen, wie man sich die Arbeit auf solch einer Konferenz vorzustellen hat. Was haben Sie dort gemacht? 

Acosta
Auf solchen Konferenzen gibt es immer zwei Ebenen. Auf der einen Seite wird überlegt, wie man andere am besten von seinen Ideen überzeugen kann. Dort werden Aktionen konzipiert, wie zum Beispiel die Schauprozesse in Wien oder kleinere Workshops, Podiumsdiskussionen, Plakataktionen, etc. Auf der anderen Seite sind die, die sich voll und ganz auf Entscheidungsträger, Politiker, Machthaber konzentrieren. Dort werden bis ins kleinste Detail Pläne ausgearbeitet, die die Machtstrukturen in den unterschiedlichsten Bereichen der Welt ausleuchten: Wer beeinflusst wen und wie? Wer repräsentiert auf der Konferenz welches Land und mit welchen Absichten kommen die jeweiligen Delegierten? Die Absicht dahinter ist, immer genau zu wissen, mit wem wir es wann zu tun haben. Das ist eine unglaublich komplexe Recherchearbeit. Eine zusätzliche Arbeitsgruppe kümmert sich auf diesen Weltkonferenzen auch immer um die Unterhaltung der Teilnehmer, damit ein geeignetes Rahmenprogramm für das Netzwerken und Lobbying geboten wird.

Zu diesen Weltkonferenzen kommen so unglaublich viele Teilnehmer, dass es eigentlich unmöglich ist, zu wissen, wer überhaupt anwesend ist. Nach getaner Arbeit geht es abends für jeden einzelnen Teilnehmer darum, den Kontakt zu bestimmten Delegationen zu suchen, um sich für sein Anliegen nochmal persönlich stark zu machen, damit die jeweiligen Programmpunkte auch tatsächlich in die Abschlusserklärung Eingang finden –am besten auch in den Wortlaut, den wir uns konkret vorstellen. Da muss man ganz genau wissen, was wie und wann auch zwischen den Zeilen gesagt wird und wie man den jeweiligen Gesprächspartner auf seine Seite ziehen kann.

Stahl
Was war das Ziel, das Sie sich für Peking gesetzt hatten?

Acosta
Wir wussten, dass es in Peking um die Agenda der Zukunft gehen würde und dass dort in der Sache so viele Menschen zusammenkommen würden, wie noch nie. Uns war bewusst, dass sich die gesamte Welt auf die dort verabschiedete Erklärung beziehen würde. Meine persönliche Agenda war ganz klar die Berücksichtigung des Frauenrechts als Teil der Menschenrechte. Uns war wichtig, dass das nicht nur in einem gesonderten Teil der Aktionsplattform erwähnt wurde, sondern dass es auch durch eine sehr präzise Formulierung der Erklärung in jedem Satz wiederzufinden sein sollte. Das Frauenrecht als fester Bestandteil der Menschenrechte sollte der rote Faden der Erklärung von Peking werden. Wir bemerkten schon bei der Vorbereitung der Konferenz von Peking, dass es eine Gegenseite gab, die heftig gegen uns ankämpfen würde – allen voran der Vatikan, gefolgt von verschiedenen afrikanischen und asiatischen Ländern.

Stahl
Gab es auch andere Organisationen, die gegen Ihre Ideen ankämpften?

Acosta
Ich glaube, dass es damals bereits zahlreiche solche Organisationen gab. Richtig bemerkt habe ich das aber erst auf der Konferenz Peking plus 5 im Jahr 2000, zu der ich als Beobachterin fuhr. Dort bemerkte ich, wie sich diese Organisationen unsere Arbeitsweise angeeignet hatten und uns sozusagen mit unseren eigenen Mitteln zu schlagen versuchten – und das leider mit Erfolg. Auf den letzten Konferenzen, an denen ich teilgenommen habe, war ich förmlich in Schockstarre, weil ich zusehen musste, wie rückschrittlich sich die Dinge mittlerweile entwickeln. Wenn die Konferenz von Wien heute stattfinden würde, käme nicht mehr dasselbe Ergebnis dabei heraus. Wenn die Konferenz von Peking heute stattfinden würde, würde nicht einmal die Hälfte der Vereinbarungen von damals getroffen werden. Die Delegierten von heute sind etwas ganz anderes im Vergleich zu damals, man hört viel seltener kritische Töne. Für mich ist das furchtbar.

Übersetzt aus dem Spanischen von Laura Krauss

Zitation

Lebensgeschichtliches Interview mit Gladys Acosta, 23.10.2015, in: Quellen zur Geschichte der Menschenrechte, herausgegeben vom Arbeitskreis Menschenrechte im 20. Jahrhundert, URL: www.geschichte-menschenrechte.de/gladys-acosta/

  1. Die Secundaria umfasst in Peru die Klassen 7 bis 11.
  2. Ricardo Palma: Las tradiciones peruanas, Bd. 1 und 2. Lima 1893 und 1894.
  3. José María Arguedas (1911-1969), peruanischer Schrifsteller und Anthropologe, der die peruanische Gesellschaft als eine in zwei Kulturen gespaltene interpretierte.
  4. Als indigenismo wird eine Strömung sowohl in der Kunst als auch in der Wissenschaft bezeichnet, die die Bedeutung indigener Kultur hervorhebt und die Diskriminierung indigener Bevölkerung thematisiert.
  5. Ciro Alegría (1909-1967), peruanischer Schriftsteller, Politiker und Journalist, thematisierte in seiner Literatur die Unterdrückung der indigenen Bevölkerung.
  6. Ricardo Palma (1833-1919), peruanischer Schriftsteller und Politiker, versammelte in seinen Tradiciones Peruanas Kurzgeschichten über historische Begebenheiten und Anekdoten.
  7. André Gunder Frank: El desarrollo del subdesarrollo, in: Pensamiento Crítico 7 (1967), S. 159-173.
  8. Theotonio dos Santos (*1936), brasilianischer Soziologie, der als Mitbegründer der Dependenztheorie gilt.
  9. Die Comisión Económica para América Latina y el Caribe (Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik) ist eine entwicklungspolitische UN-Organisation.
  10. Die in Lateinamerika entstandene Dependenztheorie ist ein Versuch, die Frage nach den Gründen der Unterentwicklung bestimmter Weltregionen zu beantworten. Sie macht die Ungleichheiten zwischen »Zentrum« und »Peripherie« im System der Weltwirtschaft zum Ausgangspunkt ihrer Analyse. Die hierarchische Unterordnung der peripheren Entwicklungsländer komme der Wirtschaft der Industriestaaten zugute. Auf diese Weise werde die Zweiteilung der Weltwirtschaft verstetigt.
  11. Die 1924 gegründete Alianza Popular Revolucionaria Americana (Amerikanische Revolutionäre Volksallianz) ist eine sozialdemokratische Partei, die sich Ende der sechziger Jahre in der Opposition befand.
  12. Ernesto Rafael Guevara de la Serna, genannt Che Guevara (1928-1967), war einer der Anführer der kubanischen Revolution. 1966 ging er nach Bolivien, um dort die linke Guerilla im Kampf gegen die Militärdiktatur zu unterstützen und eine Revolution anzustoßen. 1967 nahm ihn das bolivianische Militär mit Hilfe des amerikanischen Geheimdienstes fest und ermordete ihn.
  13. Die 1924 gegründete Alianza Popular Revolucionaria Americana (Amerikanische Revolutionäre Volksallianz) ist eine sozialdemokratische Partei, die sich Ende der sechziger Jahre in der Opposition befand und gegen Landreformen zur Umverteilung von Ackerland eintrat.
  14. Víctor Raúl Haya de la Torre (1895-1979) stand der ARPA von 1930 bis zu seinem Tod vor. In den dreißiger und vierziger Jahren vertrat er einen antiimperialen Kurs, propagierte die wirtschaftliche und politische Einheit Lateinamerikas und sprach sich für die Verstaatlichung großer Rinderfarmen und Industrieanlagen aus.
  15. José Carlos Mariátegui (1894-1930), Mitbegründer des Partido Socialista del Perú, trat für einen Agrarstaat ein, in dem das Bürgertum keine Rolle mehr spielen sollte. Nur so könne sich der Staat vor dem Einfluss der imperialistischen USA schützen.
  16. Die Bewegung der Revolutionären Linken wurde Ende der fünfziger Jahre von ehemaligen Apristen gegründet, die enttäuscht von dem Rechtsruck ihrer Partei waren. Die peruanische MIR wahrte Distanz zur Sowjetunion und China. 1965 ging sie in den Untergrund und begann den bewaffneten Kampf, 1967 zersplitterte die MIR.
  17. Pierre Bourdieu (1930-2002), französischer Soziologe, 1964-1984 Directeur d’Études an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris und Professor für Soziologie an der Faculté des Lettres.
  18. Jean-Claude Passeron (*1930), französischer Soziologe und 1968 Mitgründer des Centre Universitaire Expérimental de Vincennes in Paris, später als Université Paris VIII bezeichnet.
  19.  Jean-Toussaint Desanti (1914-2002), französischer Philosoph, lehrte von 1960-1975 an der École Normale Supérieure in Paris.
  20. Simone de Beauvoir (1908-1986), französische Schriftstellerin, Philosophin und Feministin.
  21. Jean-Paul Sartre (1905-1980), französischer Schriftsteller und Philosoph, Lebensgefährte Simone de Beauvoirs.
  22. José María Arguedas (1911-1969), peruanischer Schrifsteller und Anthropologe, der die peruanische Gesellschaft als eine in zwei Kulturen gespaltene interpretierte.
  23. Zentrales Informationsbüro
  24. Roland Barthes (1915-1980), lehrt von 1960-1977 an der École Pratique des Hautes Études und wurde für seine Analysemethoden gesellschaftlicher Phänomene wie Texte, Filme, Fotografie, Mode und Werbung bekannt.
  25. Die Geheimdienste der südamerikanischen Militärregierungen entwickelten und nutzten während der siebziger und achtziger Jahre ein Kooperationsprogramm, das darauf zielte, Widerstandsbewegungen grenzübergreifend zu bekämpfen. Sie tauschten Informationen mit dem Ziel aus, Oppositionelle auch im Ausland festnehmen oder ermorden zu lassen. Die Kooperation wird als Operación Cóndor bezeichnet.
  26. Sendero Luminoso ist eine Ende der sechziger Jahre entstandene maoistische Guerilla-Gruppe in Peru, die vor allem während der siebziger und achtziger Jahre aktiv war.
  27. Mario Vargas Llosa (*1936), peruanischer Schriftsteller und Politiker des liberalen Spektrums.
  28. Bei den Richtern ohne Gesicht (jueces sin rostro) handelte es sich um eine Form von Gerichtsprozess, die in Peru zur Bekämpfung des Sendero Luminoso eingeführt wurde. In Verfahren gegen Personen, die wegen Terrorismus angeklagt waren, saßen die Richter hinter verdunkelten Scheiben und wahrten so ihre Anonymität.
  29. Die 1985 gegründete Organisation ist eine internationale Allianz von Nichtregierungsorganisationen, die sich dem Kampf gegen Folter, Hinrichtungen im Schnellverfahren unter Gewaltanwendung und andere Formen von Menschenrechtsverletzungen widmen.
  30. Instituto Latinoamericano de Servicios Legales Alternativos (Lateinamerikanisches Institut für Alternative Rechtliche Dienste)
  31. Das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau wurde 1979 von der UN-Generalversammlung verabschiedet.
  32. María Suárez Toro, Menschenrechtsaktivistin und Schriftstellerin. Während der achtziger und Anfang der neunziger Jahre arbeitete sie in Nicaragua, Costa Rica, Honduras und El Salvado in der Erwachsenen-Alphabetisierung und Menschenrechtsbildung.
  33. Alda Facio, Menschenrechtsaktivistin, Mitbegründerin mehrerer Frauenrechtsorganisationen.
  34. Rhonda Copelon (1944-2010), 1983 Berufung an die CUNY Law School, 1992 Mitbegründerin der International Women’s Human Rights Clinic.
  35. Comité de América Latina y El Caribe para la Defensa de los Derechos de la Mujer (Komitee in Lateinamerika und der Karibik für die Verteidigung der Frauenrechte)